SIA-Präsident Stefan Cadosch über nachhaltiges Bauen

«Die Gefahr besteht, dass man aufhört zu denken»

Baugenossenschaften bieten die Wohnmodelle der Zukunft, findet Stefan Cadosch, Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Im Gespräch verrät er ausserdem, weshalb Labels schnell an Grenzen stossen, was für ihn ganzheitliche Nachhaltigkeit bedeutet und weshalb weniger manchmal mehr wäre.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Thies Rätzke, Philip Böni | Juni 2017

Wohnen: Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Auch der SIA nennt als zentrales Ziel einen «zukunftsfähigen und nachhaltig gestalteten Lebensraum von hoher Qualität». Was bedeutet für Sie persönlich nachhaltig bauen?

Stefan Cadosch: Dass man sich immer bewusst ist, was man macht. Vom ersten Strich bis zum letzten Schlussstein muss ich verantwortungsvoll handeln und mich konsequent fragen: Was sind die Folgen meines Tuns? Kann ich es gegenüber den nächsten Generationen verantworten? Konkret bedeutet das etwa, unbedenkliche Materialien einzusetzen, die langlebig sind und einen geringen ökologischen Fussabdruck hinterlassen. Man muss die ganze Planung auf langfristige Überlegungen ausrichten. Wobei Bauen nie zu hundert Prozent nachhaltig ist. Man zerstört Landschaft. Entsprechend muss sehr viel Verstand hinein in dieses Zerstören.

Bei der Nachhaltigkeitsdiskussion lag der ­Fokus am Anfang auf Energieeffizienz. Dann kamen weitere Aspekte hinzu wie Wohngesundheit, soziale oder wirtschaftliche Fragen. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Labels wider. Reicht das?

Nein, das geht zu wenig weit. Das Problem bei Labels ist, dass sie nur einen kleinen Teil dessen erfassen können, was Nachhaltigkeit ausmacht. In Bezug auf die Energie etwa sind bei Gebäuden massgebliche Betriebsbereiche nicht labelrelevant. Damit geraten grosse Sparpotenziale gar nicht erst auf den Radar. Vor allem aber beschränken sich Labels zumeist auf messbare Grössen. Faktoren wie der Quadratmeter- oder Energieverbrauch lassen sich gut messen. Auf soziale Aspekte aber, Wohlfühlfaktoren, gestalterische und soziale Nachhaltigkeit, trifft dies nicht zu. Um das, wo sich der Output nicht messen lässt, machen Labels zwangsläufig einen Bogen. Ein Planer muss aber genau dort den Finger drauflegen.

Ich möchte noch einen Moment bei den Labels bleiben. Was leisten diese?

Sie sind eine Art Speerspitze und nützlich, um ein Thema überhaupt auf die Agenda zu bringen. Labels vereinfachen und machen verständlich, worum es geht. Man kann sich an klaren Vorgaben festhalten und macht, wenn man die Bedingungen erfüllt, schon mal etwas viel besser als ohne. Die Gefahr bei Labels ist, dass man aufhört zu denken. So dass gewisse Lösungen, die vielleicht zielführender wären, jedoch jenseits des Labels liegen, gar nie in Erwägung gezogen werden. Beim Bauen brauchen wir zwingend ganzheitliches Denken.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie eine SAC-Hütte in den Bündner Alpen: Sie können diese nach Minergie-P zertifizieren lassen, wenn sie die Energie für den Eigenverbrauch selber herstellt. Das nützt aber wenig, wenn man Güter mit dem Helikopter dorthin fliegt. Die meisten Labels klammern den Verkehr aus, der durch die Nutzung von Gebäuden bewirkt wird.

Stefan Cadosch (53) ist seit November 2011 Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), der über 16 000 Mitglieder aus dem Architektur- und Ingenieurbereich vertritt. Der diplomierte Architekt ETH/SIA und Betriebswirtschafter HTA Chur leitet seit 1999 ­zusammen mit Jürg Zimmermann das Architekturbüro Cadosch & Zimmermann in ­Zürich, 1993 bis 2011 arbeitete er zudem als Verantwortlicher für Architektur und Entwicklungen für die Eternit AG. Seit 2012 ist der dreifache Vater Dozent im MAS Real Estate am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Akademie der technischen Wissenschaften.

Das Zertifikat 2000-Watt-Areal berücksichtigt den Verkehr aber mit. Ebenso der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS). Überhaupt versucht dieser, Nachhaltigkeit ganzheitlich zu erfassen.

Das sind richtige Entwicklungen. Der SNBS ist in der Tat spannend. Er wagt es als Erster, auch nicht messbare Grössen wie etwa die Gebrauchsqualität zu bewerten. Das ist mutig und begrüssenswert, und der SIA verfolgt das auch intensiv. Doch man müsste noch weiter gehen.

Nämlich?

In der Nachhaltigkeitsdiskussion wird der Aspekt der gestalterischen Qualität meist vernachlässigt. Zu einem ganzheitlichen Verständnis gehört die Ästhetik zwingend dazu. Sie ist das am wenigsten Messbare, aber auch das, was am längsten überlebt. Wenn ein Gebäude gestalterisch hervorragend ist, wie der Taj Mahal oder das antike Pantheon in Rom, merkt das heute jedes Kind. Man spürt: Es hat eine grosse Kraft, es berührt einen. Solche Bauten sind es, die Bestand haben. Gebäude aber, die miserabel oder nur schon durchschnittlich gestaltet sind, verschwinden auf die Länge wieder, auch wenn sie ökologische und gesellschaftliche Anforderungen erfüllen.

Aktuelle Beispiele zeigen aber, dass das, was Architekten als wertvoll erachten, für Laien oft alles andere als gelungen ist.

Ja, weil kreative Akte am Anfang oft unverständlich sind, da sie gewohnte Bilder in Frage stellen. Das muss man zuerst verdauen können. Jemand, der sich auf einem Gebiet ausgebildet hat und sich intensiv damit auseinandersetzt, ist der Zeit zuweilen voraus. Nur ein Beispiel: Machen Sie sich einmal den Spass und lesen Sie die Berichterstattung über den Eiffelturm zur Zeit, als er gebaut wurde. Da waren die Zeitungen voll von dem «Monster, das das Stadtbild verunstaltet». Man sprach von einer ungeheuerlichen Zer­störung, einem unsensiblen Koloss. Heute ist der Eiffelturm das Wahrzeichen schlecht­hin von Paris. Der Zeitgeist hinkt den Entwicklungen hinterher. Was natürlich nicht heisst, dass jeder Architekt die gute Gestaltung von morgen macht. Die wirklich guten aber tun genau das. Nur eben: Es braucht manchmal Jahrzehnte, damit man die gestalterische Absicht eines Baus versteht. Wir als Architekten und der ganze SIA sind da gefordert. Wir müssen viel mehr unseren Elfenbeinturm verlassen und unsere Botschaften vermitteln.


«So werden in fünfzig Jahren zwei Drittel der Leute wohnen.»


Was ist für Sie ein Beispiel besonders gelungener zeitgenössischer Architektur?

Die Elbphilharmonie in Hamburg. Sie hat zwar eine haarsträubende Planungs- und Finanzierungsgeschichte hinter sich. Die Leute in Hamburg nennen den Bau aber schon nach kürzester Zeit «die Elphi». Das ist eine Liebeserkärung. Sie hatten eine unglaubliche Leidensgeschichte mit dem Bau. Aber sie merken: Das ist etwas ganz Besonderes. Das ist nicht einfach ein Gebäude, das ist eine Ikone.

Und beim Wohnungsbau?

Dort geht es weniger um Ikonen. Im Gegenteil: Im Wohnungsbau sind oft eher unscheinbare Bauten, die gar nicht so laut rufen, die besten. Die gerade nicht den Anspruch erheben, etwas Grossartiges zu sein, sondern sich in den Dienst der Bewohner stellen. Dafür gibt es in Zürich hunderte von ausgezeichneten Beispielen. Mir persönlich gefällt das Mehrgenerationenhaus Giesserei in Winterthur sehr gut. Wobei ich nicht nur die Architektur meine, sondern überzeugt bin, dass hier ein Wohnmodell der Zukunft gelebt wird. Ich glaube, so werden in fünfzig Jahren zwei Drittel der Leute wohnen. Weil es richtig ist. Bis dann sind hoffentlich Altersheime, wie wir sie heute kennen, verschwunden. Aus sozialer Sicht sind diese für mich das dümmste Wohnmodell, das je erfunden wurde.

Sie sprechen die Durchmischung an.

Ja, denn es ist wichtig, der gesellschaftlichen Segmentierung keinen Vorschub zu leisten. So wie es beispielsweise in Frankreich passiert ist, wo in den Banlieues, den Vorortsgebieten, eine grosse soziale Entmischung stattgefunden hat. Man hat dort so schlechte Bedingungen geschaffen, dass nur diejenigen dorthin ziehen, die keine andere Chance haben. Was zu Verelendung und enormen sozialen Problemen geführt hat. Dass es auch ganz anders geht, zeigt etwa die Zwickysiedlung von Kraftwerk1. Dort gibt es an einem hochbelasteten Ort ein hervorragendes Modell des Zusammenlebens.

Was hat Sie daran besonders überzeugt?


Man hat es geschafft, an diesem Ort, den viele als unzumutbaren Unort betrachten, hohe Wohnqualität und eine gute Durchmischung zu erreichen. Auch wenn ein Teil der Bewohner durch eine gewisse Not dorthin getrieben wurde. Die kreative Grafikdesignerin mit gutem Lohn findet genauso Lebensraum wie ein praktisch mittelloser Flüchtling. Es gibt Gefässe, wo die unterschiedlichen Menschen zusammenkommen, und vielfältige Wohnmodelle. Wer will, bindet sich in die Gemeinschaft ein, man kann sich aber auch zurückziehen. Trotz hoher Dichte bestehen für die Individuen viele Freiräume. Hinzu kommen natürlich die praktischen Vorteile: Die Siedlung ist gut erschlossen, die Menschen wohnen günstig, haben alles, was sie brauchen, vor Ort und sind nahe bei der Stadt. Wir haben das Glück in der Schweiz, dass wir mit den Genossenschaften ein extrem gutes Modell haben, um solche sozial durchmischten Experimente anzubieten. Genau wegen solcher Projekte wird unser genossenschaftliches Modell weltweit bewundert.

Gibt es ein Erfolgsrezept für solche Projekte?

Die spannenden Projekte der letzten Jahre verdanken sich den partizipativen und disziplinenübergreifenden Diskussionen, in denen ganz unterschiedliche Leute mitgewirkt haben. Es braucht in erster Linie helle Köpfe, die gar nicht aus der Branche stammen müssen. Etwa Menschen, die das Präsidium einer Genossenschaft übernehmen, weil sie selber wohnen und interessiert sind, das weiterzuentwickeln. Solche Leute denken manchmal weiter als Fachleute, und auch um die Ecke. Das Zwickyareal ist dafür ein gutes Beispiel. Kraftwerk1 verfügt über Leute, die denken. Sie haben sich dieser riesigen Knacknuss gestellt, vor der die meisten kapituliert hätten. Da wurde enorm viel Denkarbeit geleistet, die nicht nur von Architekten getrimmt ist. Das ist Nachhaltigkeit im besten Sinn: dass es nicht um einzelne Disziplinen geht, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung.


«Man müsste den Leuten auch unfertige Räume überlassen.»


Es gibt Themen, über die man zwar spricht, die aber noch selten umgesetzt werden. Ich denke etwa an den Anspruch, dass Wohnungen veränderbar sein sollen, oder an alltagstaugliche Bauten, die auch von Kindern gut genutzt werden können. Wo müsste man da Ihrer Meinung nach mehr investieren?

Ich würde es umgekehrt sagen: Wo müsste man weniger investieren? Wir sind hierzulande in der privilegierten Lage, dass wir uns alles leisten können. All unsere Wohnhäuser sind viel zu übergestaltet. Manchmal müsste man den Leuten auch unfertige Räume überlassen, damit sie beginnen, diese selber zu gestalten. Das fängt an bei den Kindern. Ich finde es schade, dass Spielplätze meist schon gebaut sind. Einen Spielplatz müsste man gemeinsam mit den Kindern bauen. Generell sollte der partizipative Einbezug viel grösser sein. Jeder Mensch ist kreativ. Wieso finden wir, er darf nicht mitgestalten? Geben wir ihm doch Wohnraum, der nicht fertig ist, dafür ganz günstig. Wir Planer sollten viel mehr Mut haben, Bauherren zu solchen Freiräumen zu ermutigen.

Genau das sieht die Zürcher Genossenschaft Kalkbreite bei ihrem zweiten Projekt Zollhaus vor. Da sollen künftige Bewohner einen Teil der Wohnräume selber ausbauen.

Das halte ich wirklich für zukunftsweisend. Selbst wenn das Vorhaben grandios scheitern sollte – was es nicht tun wird –, bringen uns solche Modelle weiter. Wir haben leider verlernt, über die Systemgrenzen hinauszudenken und Neues zu wagen. In den 1970er- und 1980er-Jahre hat man im Gefolge der Hippie-Bewegung alles ausprobiert. Vielleicht ist man in neunzig Prozent der Fälle gescheitert. Trotzdem waren solche Experimente inspirierend. Dank ihnen kann man heute Modelle anbieten, die architektonisch und sozial ausgereifter sind.

Eigenausbau wäre ein Weg, um Wohnungen günstiger zu machen. Schaut man sich aber die Realität an, sind die Standards sehr hoch. Selbst Genossenschaften bauen grosszügig und statten Viereinhalbzimmerwohnungen praktisch durchweg mit zwei Bädern aus.


Da stelle ich aber eine Trendwende fest. Sie ist einerseits bedingt durch den Markt, der allmählich dreht, weil man es übertrieben hat mit dem Bau von Luxuswohnungen. Anderseits spielt die Suffizienzdiskussion eine Rolle. Sie propagiert, dass weniger mehr ist. Ich bin überzeugt, dass man in Zukunft wieder mit kleineren Wohnungen zufrieden ist und statt auf Menge wieder auf echte Wohnqualität setzt. Man kann eine Wohnung mit achtzig Quadratmetern sehr gut gestalten und eine mit hundert­achtzig sehr schlecht. In grossen Wohnungen steckt meist viel verlorener Platz, etwa in Korridoren. Kleine kann man hingegen durch gute organisatorische Abläufe, gute Möblierungsmöglichkeiten oder das richtige Licht optimal nutzbar machen. Auch hier gilt: Fast alles ist eine Frage der klugen Gestaltung.

Mit dem kürzlich lancierten Forschungsprojekt «2050 – Lebensraum und Bauwerk» wirft der SIA einen Blick in die Zukunft. Wo­rum geht es?

Es handelt sich um das grösste Projekt, das der SIA je angegangen hat. Wir stellen fest, dass alle über Zukunft reden, aber niemand eine Vision davon hat, wie sie aussehen soll. Zwar sind mit der Energiestrategie 2050 messbare Ziele gesetzt. Aber was fehlt, ist ein konkretes Bild dazu. Wie kann die Schweiz so gestaltet werden, dass man hier gut leben und wohnen kann? Genau da setzen wir an: Wir möchten ein positives Zukunftsbild entwerfen, eine Vi­sion von gutem Leben und Wohnen, die Aufbruchstimmung schafft.

Wie setzen Sie das um?

Erst einmal sammeln wir Daten und Szena­rien, etwa zu Bevölkerungsentwicklung, Infrastruktur, Landschaft, Verkehr usw. Dafür unterteilen wir die Schweiz in etwa fünfzig Quadranten. Berggebiete zum Beispiel haben ganz andere Anforderungen als Städte, industriell geprägte Regionen oder Zwischenräume wie Olten. Wir arbeiten mit Experten unterschiedlicher Disziplinen und Partnern zusammen – den beiden ETH, Fachhochschulen, Verbänden, Kantonen, Gemeinden usw. Ziel ist ein flächendeckendes Mosaik, aus dem sich eine Vision kristallisiert, die Fragen beantworten helfen soll wie: Wo und wie sollen wir wohnen? Welche Industrie werden wir haben? Ist es richtig, wie wir heute die Berge nutzen? Gibt es Gebiete, die man ganz der Natur zurückgeben sollte? Für jedes Mosaiksteinchen will der SIA positive Antworten entwickeln. Vielleicht ist dieses visionäre Vorgehen ein bisschen sozioromantisch. Aber wenn wir eine lebenswerte Schweiz haben möchten, müssen wir die Weichen richtig stellen. Damit unsere Kinder und Kindeskinder einmal sagen können: Die Alten haben nicht alles falsch gemacht.