Wohnen und Kultur

Gut gebrüllt, Löwe!

So unterschiedlich sie sind – die Kulturbeiz «Leue» im thurgauischen Diessenhofen und das Musikzentrum Giesserei in Winterthur haben eines gemein: Dahinter stehen Menschen, die durch grosses persönliches Engagement Kultur zum Blühen bringen. Und Genossenschaften, die dafür die Rahmenbedingungen bieten.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Vera Markus | Dezember 2016

Hochnebel taucht die mittelalterlichen Hausfassaden in fades Grau. Klamm ist es, zugig, kaum ein Mensch ist zu sehen in der 30er-Zone, die sich Hauptstrasse nennt. Von Tristezza aber keine Spur mehr, wenn man unter dem Erker von Haus Nr. 26 durch die Tür tritt und von Bouzoukiklängen und vielstimmigen Gesprächsfetzen empfangen wird. Die ausladenden Holztische sind gut bestückt mit Gästen, den Bartresen haben die Biertrinker in Beschlag genommen. Im Säli nebenan lockt das Buffet mit Moussaka und anderen Spezialitäten. Wer sich Nachschub holen geht, bleibt auf dem Weg stehen, schwatzt hier, scherzt da. Man kennt sich, fast alle sind Duzis. An die Wand gepinnt blau-weisse Fahnen, eine Miniversion ziert auch die Backe von Annegret Wirth, die – nomen est omen – an diesem Freitag mit Charme und fester Hand das Wirtinnen-szepter führt. Griechenlandabend im «Leue – Üsi Beiz» in Diessenhofen.
Dass es die Kulturbeiz im 3600-Seelen-Ort zwischen Schaffhausen und Stein am Rhein überhaupt gibt, ist alles andere als selbstverständlich. Zu verdanken ist es einer Gruppe von engagierten Menschen, einer Portion Glück und dem beherzten Zugreifen der Genossenschaft «Wohnen plus Schaffhausen», die das historische Gebäude mit den sieben Wohnungen und dem Restaurant von einem Privaten angeboten bekam und es im Mai kurzentschlossen kaufte. Damit wurde nicht nur günstiger Wohnraum erhalten, sondern auch der Beizenbetrieb und ein kunterbuntes Kulturprogramm gesichert.

Frauenpower und Herzblut: Wirtin, Trägervereins- und Genossenschafts­mitglied Annegret Wirth (links) und Genossenschaftspräsidentin Vre Piatti.

Und das sei gut für Diessenhofen, sagt Genossenschaftspräsidentin Vre Piatti. «Der ‹Leue› ist zu einem wichtigen Treffpunkt geworden, fast ein bisschen zum Herzen des Orts.» Viele schauten hier spontan vorbei, man könne sich austauschen, einfach einen Kaffee trinken. Vereine halten Versammlungen ab, Feste werden gefeiert, die diversen Veranstaltungen – von Konzerten aller Couleur über Kleinkunst bis zu Kochkursen – ziehen ganz unterschiedliche Leute an. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Belebung des Orts und zum Zusammenhalt geleistet, findet Vre Piatti. Was gut zu den Zielen einer Genossenschaft passe, die sich ja ebenfalls für ein gutes Zusammenleben einsetzt. «Kultur kann dabei eine wesentliche Rolle übernehmen.»

Wirkung nach innen und aussen
Das wussten schon die Urväter und -mütter der Wohnbaugenossenschaften. Nicht nur günstiges und gesundes Wohnen sollten ihre Siedlungen bieten, ein Anliegen waren auch das soziale Zusammenleben und das geistige Wohl. Viele Genossenschaften ermöglichten und ermöglichen deshalb «Kulturpflege» im weitesten Sinn, sei es durch eigene Aktivitäten, ideelle und finanzielle Unterstützung von Freiwilligen oder geeignete Infrastrukturen und Räume.
So gehörten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Veranstaltungssäle quasi zur Grundausstattung grösserer Siedlungen, manchmal kamen besondere Räume wie Ateliers oder Lesezimmer hinzu. Dafür lobte 1928 in Wohnen ein Leserbriefschreiber die Kolonie Friesenberg der Familienheim-Genossenschaft Zürich: «(Solche) Räume (geben) den Bewohnern Gelegenheit, miteinander in Fühlung zu kommen und sich näher kennen zu lernen. So manchen Missverständnissen wird dadurch vorgebaut und nebenbei der Gemeinschaftssinn, der doch wichtig für die genossenschaftliche Bewegung ist, gepflegt.» Wie förderlich kulturelles Engagement sein kann, betonte 1950 auch ein Kolo­nie­kom­missionsmitglied der Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ), der ein weihnachtliches Theaterstück mit 45 Kindern geprobt und vor 700 Besuchern aufgeführt hatte. Solche Aktivitäten würden «den Zusammenhang und die genossenschaftliche Verbundenheit unter den Mietern wecken und fördern (…). Im kleinen Kreise die Verständigung der Menschen zu fördern, bedeutet (…) Aufbau zu schönerer Zukunft.»


"Die finanzielle Tragbarkeit ist meist eine Herausforderung"


Heute würden die Worte wohl weniger blumig ausfallen, gelten aber können sie immer noch. Dass dabei Kultur nicht nur genossenschaftsintern, sondern auch nach aussen wirkt, weiss Helmut Staat, Vorstandsmitglied der Genossenschaft «In buona compagnia» in Bonaduz. Einmal im Monat organisieren dort Mitglieder Leseabende, an denen Bücher, Zeitungsartikel oder andere Texte gemeinsam gelesen und diskutiert werden. Eine Kulturgruppe organisiert zudem Anlässe und Kunstausstellungen. «Solche Aktivitäten sind für unsere noch junge und mit 32 Bewohnern kleine Genossenschaft wichtig und wirken gemeinschaftsfördernd. Ausserdem sind sie eine gute Gelegenheit, um sich zu vernetzen», sagt Helmut Staat. Deshalb würden vor allem lokale Künstler eingeladen, und die Vernissagen stiessen jeweils auf beachtliches Interesse auch bei Externen. In der Gemeinde werde das sehr wohl wahrgenommen und sehr begrüsst.

Individuelles Engagement entscheidend
Wie Kultur in Genossenschaften gelebt wird, ist vielgestaltig, oft sind die Grenzen zwischen unkomplizierter Geselligkeit und ernsthaftem kulturellem Anspruch fliessend. Und es unterliegt auch gewissen Trends. Bib­liotheken etwa erleben seit einigen Jahren ein kleines Revival, bei genossenschaftlichen Altersprojekten auf dem Land ebenso wie bei urbanen Siedlungen wie der Kalkbreite in Zürich. Ob Weihnachtsfeier, Chorprojekt oder Ausstellung, Töpferatelier, Literaturzirkel oder Bier brauen, Konzert, Filmgruppe, Sprachkurs oder Museumsbesuche – Genossenschaften bieten den Rahmen für diverse Aktivitäten. Und zwar Traditionsgenossenschaften ebenso wie selbstorganisierte und unkonventionelle. Damit Kultur zum Fliegen kommt, braucht es aber immer auch engagierte Leute.
Das ist auch in Diessenhofen so. Dass der «Leue» vor Leben sprüht, ist einem ganzen Heer von Freiwilligen zu verdanken, die in verschiedenen Vereinen aktiv sind und sich über einen Trägerverein organisiert haben. Etwa dreissig Personen engagieren sich ehrenamtlich für die Kulturbeiz. Sie schwingen die Kochlöffel, planen das kulturelle Angebot, bewirten Gäste, kaufen ein, kümmern sich um Buchhaltung und Werbung. Dank dem enormen Einsatz ist die jahrhundertealte Gastwirtschaft, die ein paar schwierige Jahre mit Gästeschwund, Pächterwechseln und Leerstand hinter sich hat, so nun wenigstens wieder teilzeit geöffnet.

Gut gelaunte Gäste und Musiker am griechischen Abend im "Leue".

Funktionierender Betrieb
Auch Annegret Wirth ist Mitglied des Trägervereins vom «Leue» und zudem im Verein «malz&malt» aktiv. Dieser spricht an den Freitagabenden Bier- und Whiskyliebhaber mit einem gut bestückten Sortiment sowie gelegentlichen Degustationen an, veranstaltet aber auch Lesungen. Die frühere Lehrerin und Heilpädagogin ist seit 2011 Vorstandsmitglied von Wohnen plus. Für den «Leue» machte sie eigens das Wirtepatent. Ihr Talent für die Gastgeberrolle und die Freude daran entdeckte sie bei Schulveranstaltungen und privaten Festen. Nach der Pensionierung und noch voller Elan lebt sie diese Seite nun voll aus. «Die Kulturbeiz macht mir wirklich Spass. Der Aufwand ist zwar gross, bleibt aber mit einem Abend pro Woche gerade noch im Rahmen», stellt sie fest. Am Donnerstag organisiert der Verein «nix ist fix» jeweils Spieleabende, einmal pro Monat ist zudem das von Wohnen plus initiierte «Sprachenkaffee» zu Gast, wo bis zu dreissig
Leute ihre eingerosteten Fremdsprachenkenntnisse auffrischen. An Samstagen finden in der Regel Konzerte oder kulinarische Themenabende statt.
Das Kulturprogramm ist meist gut besucht. So auch dieser griechische Abend. Trotz vollem Haus und vielen durstigen Kehlen ist Annegret Wirth nicht aus der Ruhe zu bringen und schmeisst mit einem eingespielten Team den Laden souverän. Wird es gar zu hektisch, springt ihr ihr Mann Ueli zur Seite, der zwar nicht im Verein mittut, aber als gute Seele im Hintergrund fast schon zum Inventar gehört. Viele Stammgäste gibt es, ab und zu schauen auch Einwohner und Bekannte herein. «Ja, es läuft gut, und immer besser. Wir haben Boden unter die Füsse bekommen», bilanziert die Wirtin.


"Kulturelle Aktivitäten wirken gemeinschaftsfördernd"


Herausforderung Tragbarkeit
Dennoch ist nicht einfach alles rosarot. Vor allem die längerfristige finanzielle Tragbarkeit ist ein Thema. Auch wenn die Genossenschaft Wohnen plus überzeugt ist vom Sinn und Wert der Kulturbeiz und diese nach Kräften unterstützt, wird über die Pachtbedingungen verhandelt. Der Trägerverein bezahlt aktuell eine moderate Fixmiete. So und dank den unzähligen unbezahlten Arbeitsstunden komme man gerade eben durch, sagt Annegret Wirth. Wohnen plus seinerseits ist angewiesen auf gesunde Finanzen. Präsidentin Vre Piatti: «Als Genossenschaft müssen wir mit den uns anvertrauten Mitteln verantwortungsvoll umgehen. Wir müssen zwar keinen Gewinn erwirtschaften, aber kostendeckend sein und auch künftige Aufgaben bewältigen können.»
Und das stelle einige Herausforderungen. Die junge Genossenschaft kaufte mit dem «Leue» ihre erste Liegenschaft und konnte auch die dafür nötigen Mittel beschaffen, unter anderem durch rückzahlbare Darlehen. Bei dem denkmalgeschützten Gebäude stehen aber Renovationen und bauliche Eingriffe an, zudem bezahlen noch nicht alle der teils langjährigen Hausbewohner kostendeckende Mieten. Über kurz oder lang sind also Anpassungen nötig. Für Vre Piatti ist aber klar, dass der Kulturbetrieb weiter bestehen soll. «Wir ziehen am gleichen Strick. Die Kulturbeiz ist sowohl für den Trägerverein als auch für Wohnen plus ein wichtiger Ort, den wir unbedingt erhalten möchten.»

Musikzentrum mit ähnlichen Themen
Geld ist auch bei anderen Projekten der Knackpunkt. Stellen Wohnbaugenossenschaften Raum für kulturelle Zwecke zur Verfügung, muss dieser irgendwie finanziert werden – entweder indirekt über die Wohnungsmieten oder aber von den Raummietern beziehungsweise Veranstaltern. Lukrativ aber sind Kulturangebote selten. Diese Erfahrung hat auch Martin Lugenbiehl gemacht. Gemeinsam mit Marion Meili und anderen Musikern gründete er im 2013 bezogenen Neubau «Giesserei» der Genossenschaft Gesewo in Winterthur die Genossenschaft Musikzentrum Giesserei. Das Mu­sik-
zentrum ist Musikschule und Kulturveranstalter in einem. In drei Räumen auf zwei Stockwerken wird Instrumental- und Gesangsunterricht angeboten, der wöchentlich von 70 bis 90 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen besucht wird. Verschiedene Ensembles, Singveranstaltungen und Chöre für unterschiedliche Altersgruppen haben sich formiert. Ausserdem veranstaltete das Musikzentrum schon über 50 Konzerte und andere Anlässe sowie zwei A-capella-Festivals.
Das Angebot also lässt sich sehen und wird auch geschätzt. Finanziell aber hat das Musikzentrum Giesserei zu kämpfen. Es mietet die Räume von der Gesewo, die Musiklehrer ihrerseits bezahlen Untermiete. Der Innenausbau, den es selber zu berappen galt, war nur dank zahlreichen Unterstützern und den Anteilscheinen der über 60 Passivmitglieder des Musikzentrums – die meisten von ihnen Bewohner der Siedlung – überhaupt möglich, sagt Martin Lugenbiehl. Wegen befürchteter Lärmemissionen mussten etwa teure Dämmfolien angebracht werden. Über die drei Jahre seit Eröffnung wurde die Infrastruktur nach und nach aufgestockt, etwa mit einem Flügel und mit Licht- und Tontechnik. «Leider mussten wir uns auf Low-Budget-Versionen beschränken», erzählt er, mehr habe nicht dringelegen. Und für die Stühle musste ein Crowdfunding organisiert werden.

Das Musikzentrum Giesserei zieht mit Kursen und Veranstaltungen viele Besucher an. 

Belebend und ausbaufähig
Auch der Standort in Winterthur Hegi am Stadtrand ist nicht ganz einfach. Das frühere Industrieareal wird erst allmählich mit Wohnungen überbaut, entsprechend wächst der potenzielle Nutzerkreis des Musikzentrums nur langsam. Trotz diesen Schwierigkeiten zahlt sich der Einsatz aber aus, findet Martin Lugenbiehl: «Die Gesewo sieht, dass es sich lohnt, was wir hier machen. Das Musikzentrum ist extrem gut für die Belebung der Siedlung und des ganzen Quartiers.» Gemeinsam sei man derzeit daran, das Musikzentrum zusammen mit dem zurzeit leer stehenden Restaurant in der Giesserei, mit der benachbarten Töpferei, einer Kunst- und einer Fotogalerie zu einer «Kulturmeile» am Eulachpark zu entwickeln. Dies biete viel Potenzial für spannende Kooperationen und die Chance für Bewohnende, sich einzubringen. Für das Zusammenleben in der Siedlung könne das nur positiv sein.
Und noch auf etwas weist Martin Lugenbiehl hin. Selbstverständlich wolle das Musikzentrum eine Plattform für hochkarätige Musik bieten, etwa mit dem «A-cappella-Festival Winterthur». Man lege aber auch Wert auf Aspekte des Mehrgenerationenwohnens, weshalb es unter anderem ein Eltern-Grosseltern-Kinder-Singen gibt. Und der Giessereichor ist schon mit Programmen zu Themen wie «Zusammenleben», «Der Traum vom Haus» oder «Ankunft & Abschied» aufgetreten. Wer sich das anhören möchte, kann den Chor einladen – Zusammenhalt ist schliesslich auch zwischen Genossenschaften eine gute Sache.
www.leue-event.ch
www.wohnenplus-sh.ch
www.musikzentrumgiesserei.ch