Rekrutierung von Vorstandsmitgliedern in Wohnbaugenossenschaften

Auswahl oder Wahl?

Die Vorstandserneuerung ist in vielen Genossenschaften ein Sorgenkind. Die Suche geht leichter von der Hand, wenn klar ist, welche Anforderungen gestellt sind und wie der Prozess abläuft.

Von Franz Horvàth | Bilder: dreamstime, Ueli Steingruber | Februar 2018

Eine Wohnbaugenossenschaft arbeitet in vielerlei Hinsicht ähnlich wie ein KMU. Die Aufgaben von Führung und Management unterscheiden sich teilweise wenig. Und doch gibt es natürlich Besonderheiten: Strategieprozesse laufen anders ab. Die Mitsprache und der Aufbau der Organisation führen zu komplexeren Abläufen und Arbeitsverhältnissen. Das Ehrenamt – auch wenn es oft kein reines Ehrenamt mehr ist, sondern entschädigt wird – umfasst weit mehr als einen Tausch von Arbeit gegen Lohn. Das zeigt sich deutlich, wenn etwas schiefgeht. Einen Präsidenten oder eine Präsidentin kann man nicht einfach entlassen. Das Engagement in einem Vorstand ist Freiwilligenarbeit. Der Vorstand hat zwar eine klassische Führungsaufgabe, Herzblut spielt jedoch eine wichtige Rolle. Der Vorstand bildet auch die Vielfalt und die Gemeinschaft der Genossenschaft ab.
Wenn man sich also bei der Rekrutierung von Vorstandsmitgliedern beraten lässt, sollten die Berater etwas davon verstehen, wie eine Non-Profit-Organisation (NPO) tickt. Diese Aufgabe kann der Dachverband übernehmen oder eine spezialisierte Firma. Eine solche ist die Beratergruppe für Verbands-Management B’VM, die auf eine 35-jährige Geschichte zurückblicken kann. Das Unternehmen wurde ursprünglich als Spin-off des Freiburger Verbandsmanagement Instituts (VMI) gegründet, das in der Schweiz die bekannteste Adresse für Forschung und Ausbildung in Sachen NPO-Management ist.

Sorgfaltspflicht und Demokratie
Die Psychologin Karin Stuhlmann ist Partnerin bei der B’VM. Sie hält die Vorstandsrekrutierung in einer Genossenschaft für eine grosse Herausforderung. «Es geht darum, sicherzustellen, dass eine Person die Organisation repräsentiert, aber auch fachliche Anforderungen erfüllt.» Letzteres könne eigentlich nur ein Fachgremium beurteilen. Folglich befinden sich Genossenschaften in einer verzwickten Lage. Es geht um Demokratie und um Ethik: Einerseits soll die Generalversammlung frei entscheiden können. Karin Stuhlmann weiss, dass sich deshalb viele NPO vor einer Wahlempfehlung und der Vorselektion der Kandidierenden scheuen. Anderseits dürfe man sich nicht um eine Vorselektion herumdrücken. «Das Gremium, das die Auswahl trifft, muss sich indes seiner Verantwortung bewusst sein.»
Demokratisch lasse sich diese Vorauswahl damit begründen, dass das Recht, zu entscheiden, auch die Pflicht, sich zu informieren, mitbringe. Das sei vielen Mitgliedern nicht bewusst. «Oft herrscht die Meinung, dass man sich nach einem ersten Eindruck einfach entscheiden kann», weiss sie. Dabei müsse man die Informationsgrundlagen, die es für eine qualifizierte Auswahl brauche, zuerst einmal schaffen. Also etwa Aufgabenprofil, Qualifikations- und Beurteilungskriterien definieren und offenlegen. Erfüllen bei einem Auswahlver­fahren dann mehrere Kandidierende diese Vorgaben, kann man durchaus zwei oder drei Leute zur Auswahl präsentieren.

Diskretion versus offene Wahl
Eine solche Kampfwahl kann jedoch heikel sein. Eine Genossenschaft ist wie ein Dorf. Die Zahl der Anwärter ist beschränkt. Vielleicht möchte man die eine oder den anderen nicht vergraulen im Hinblick auf die nächste Vakanz. Karin Stuhlmann sah schon Leute aus Kampfwahlen herauslaufen, die nachher nie mehr ein Amt annehmen wollten. Darum sollte es nach der vertraulichen Vor­auswahl immer noch die Möglichkeit geben, sich diskret zurückzuziehen. Dies dient letztlich dem Schutz der knappen Personalressourcen.
Die Vorauswahl erfordert deshalb grosse Sorgfalt. Die Verfahren dafür sind vielfältig und hängen auch vom Geld und der zu vergebenden Position ab. Die ASIG Wohngenossenschaft führte vor einigen Jahren, angeregt durch eine Fachperson, Assessements mit den Kandidierenden durch. Gemäss dem Präsidenten Walter Oertle kam sie aber aufgrund von gemischten Rückmeldungen wieder davon ab. Die ASIG setzt dafür auf eine ständige Findungskommission, die aktiviert wird, sobald Bedarf besteht. Diese entscheidet jeweils, ob eine Vakanz gefüllt werden soll, ob es eher eine Frau oder ein Mann sein sollte und welche Anforderungskriterien im Vordergrund stehen. Dabei seien die Sozialkompetenz, die Begeisterung für die Genossenschaftsidee und der Bezug zur Genossenschaft sehr wichtig.

Auch wenn die Genossenschaft den Auswahlprozess steuert: Am Schluss entscheidet die Generalversammlung über den Vorstand.

Gespräche, Kennenlernen, Assessments
Walter Oertle: «Menschen, bei denen das Geld im Vordergrund steht oder die sich nur aus Dankbarkeit engagieren wollen, passen vom Rollenverständnis her nicht ins Team.» Die ASIG-Findungskommission führt deshalb mit den Bewerbern zwei bis drei Gespräche, daran schliesst ein Kennenlernen des Vorstands an. Das endet normalerweise in einer Wahlempfehlung mit einem Einervorschlag. Wenn die Genossenschaft Fachleute für bestimmte Ressorts sucht, muss sie sich manchmal gedulden und eine Vakanz belassen. Walter Oertle findet, wer die Führung eines Bereichs übernehmen wolle, müsse Fachwissen mitbringen oder erwerben. Die Genossenschaft müsse den Neuen aber auch genügend Zeit für eine gewissenhafte Einführung bieten.
Karin Stuhlmann ist der Meinung, dass Assessments – wenn die nötige Zeit und das Geld zur Verfügung stehen – durchaus sinnvoll sind, zumindest bei den bürdenreichen Präsidien von grösseren Genossenschaften. «Solche Verfahren erlauben, nicht nur auf Leistungsausweise und Selbsteinschätzungen abzustellen, sondern auch das Verhalten zu prüfen», sagt sie. Die Assessmentergebnisse mit den Kandidierenden zu diskutieren, erlaubt im Idealfall eine Korrektur der gebotenen Selbstdarstellung. Im Vordergrund steht bei einem Assessment die Fähigkeit, vor einer Gruppe aufzutreten und Zukunftskonzepte zu entwerfen und zu erklären; kommunikative und soziale Kompetenz sind zentral.

Von der Rekrutierung zur Reorganisa­tion zur Rekrutierung
Oft fehlen natürlich die Mittel, um externe Beratung für solche Assessments einzukaufen. Dennoch bleibt es wichtig, den Auswahlprozess bewusst zu gestalten und zu steuern. Die wichtigste Voraussetzung dafür sind die Stellen- und Rollenprofile. Die Gefahr besteht, dass man unspezifisch nach Führungskräften sucht. Dabei macht es einen Unterschied, ob eine Präsidium, ein «normales» Vorstandsmitglied oder eine Führungsperson im operativen Bereich gesucht wird. Zudem lohnt es sich, zu fragen, ob die Organisation noch zeitgemäss ist, um fähigen Nachwuchs anzusprechen. Pluspunkte bilden Entschädigungsregelungen und gut geleitete Sitzungen. Thomas Feierabend, der als Dozent beim Weiterbildungsangebot des Verbands mitwirkt, fordert mehr Professionalisierung der operativen Verwaltung. Diese müsse sich aber in einer Entlastung, zum Beispiel bei der Sitzungszahl des Vorstands, auswirken: «Man kann nicht professionalisieren und meinen, das strategische Organ könne weiterkutschieren wie bisher.»
Oft gehört darum zum Vorlauf der Rekrutierung eine Reorganisation. Besonders, wenn langjährige Vorstandsmitglieder gehen. Als letztes Jahr bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) Präsident Peter Schmid zurücktrat, wurden zum Beispiel während eines ganzen Jahres neue Aufgabenprofile diskutiert, als Nebenprodukt entstand unter Begleitung der B’VM eine neue Geschäftsordnung, weil klar war, dass ein so lange amtierender Präsident nicht einfach ersetzt werden konnte. Die Organisation musste sich der neuen Situation anpassen.

Die kritischsten Punkte: Zeit ...
Um den Rekrutierungsprozess gut aufzugleisen, braucht es vor allem genügend Zeit. In mehrerer Hinsicht: Die Nachwuchsplanung muss ein Dauerthema sein. Das Präsidium sollte sie einmal im Jahr traktandieren, auch wenn keine Rücktritte anstehen. Einen guten Rahmen dafür bietet eine Jahresretraite. Ein Vorteil dieser Planungen kann das Staffeln von Mehrfachrücktritten sein. Zeit brauchen auch die Erarbeitung von Stellenprofilen oder das Skizzieren einer Reorganisation. Und Zeit fressen natürlich seriöse Auswahlprozesse.
Die Vorauswahl darf jedoch auch einfacher laufen. Wenn klare Stellenprofile vorliegen, kann man über das Netzwerk der Genossenschaft mögliche Kandidatinnen und Kandidaten direkt ansprechen. Oder Interessierte nehmen als Gäste an Sitzungen oder Retraiten teil, um zu testen, ob ihr Rol­lenverständnis jenem des Anforderungsprofils entspricht und vor allem auch, ob sie ins Team passen.

... und Kommunikation
Noch entscheidender wirkt sich in einer demokratisch organisierten Struktur wie einer Genossenschaft die Kommunikation aus. Die Verantwortung dafür kann der Vorstand nicht delegieren. Er steht in der Pflicht, die Wahl gut vorzubereiten. Er muss sich auch hinstellen und erklären, warum der Wahl eine Auswahl vorausgeht, warum bei Personalfragen Diskretion manchmal wichtig ist, warum ein bestimmtes Auswahlverfahren gewählt wurde und welche Kriterien zu den Vorstandsempfehlungen geführt haben. Je transparenter der ganze Prozess durchgeführt und kommuniziert wird, umso grösser sind die Chancen, dass die Mitglieder diesen nachvollziehen können und ihre Wahl auf fundierter Grundlage fällen.

Governance-Problem bei der Präsidiumswahl

Beim Präsidium gibt es ein Governance-Problem. Wer soll sicherstellen, dass der Auswahlprozess fair und neutral, sachlich und korrekt abläuft? Der Vorstand ist schliesslich selbst betroffen. Wenn die Bewerbungen über die Geschäftsstelle eingehen, weiss unter Umständen schon die halbe Genossenschaft, welche Dossiers eingegangen sind. Wenn Vertraulichkeit und

Transparenz wichtig sind, empfiehlt Karin Stuhlmann von B'VM, die Bewerbungen über eine neutrale externe Stelle laufen zu lassen. Bei Vorstandsmitgliedern ist es anders. Da kann das Präsidium oder ein Ausschuss die Ansprechperson sein. Ein Gedanke sollte aber immer darauf verwendet werden, wie Fairness und Persönlichkeitsschutz gewahrt bleiben.

Hausaufgaben bei der Rekrutierung

Folgende Punkte sollte eine Bauge­nossenschaft, wenn sie Vorstandsmitglieder sucht, klären – je früher, desto besser:

  • Stellen- und Rollenprofile: Sind sie vorhanden und aktuell?
  • Teamzusammensetzung: Wie sind wir aufgestellt, wo sind wir stark, was fehlt? Welche Aspekte sind bei der Auswahl angemessen zu berücksichtigen (Fach­liches, Geschlecht, Alter, Herkunft)?
  • Sind wir attraktiv für Interessierte? Was können wir bieten (Entschädigung, Infrastruktur, ideell)?
  • Ist unsere Organisationsstruktur noch angemessen? Was müssten/könnten wir anpassen? Sind strategische und operative Aufgaben sowie Verantwortlichkeiten klar?