Pionierprojekte erproben Wasserstoffspeicher in Wohngebäuden

Forschen im Vorgarten

Wasserstoff wird in der sauberen Energiezukunft die fossilen Brenn- und Treibstoffe verdrängen. Jetzt schon macht sich die Baugenossenschaft Zurlinden daran, die Technologie zur
Stromspeicherung im Alltag zu erproben.

Von Paul Knüsel | Bilder: BGZ, Kälin + Müller AG | Oktober 2017

Die Energieforschung hat den Elfenbeinturm verlassen und findet längst nicht mehr nur im Labor, sondern auch im Alltagsleben statt. Die Rolle von Wissenschaftlern durchläuft einen ähnlichen Wandel; immer häufiger arbeiten Spezialisten mit Generalistinnen und Praktikern zusammen. Dank ihrem ausgeprägten Interesse an Zukunftsfragen sind gemeinnützige Wohnbauträger als Forschungspartner besonders begehrt. Der Bau neuer Genossenschaftssiedlungen wird regelmässig zum Experimentieren genutzt.
Oberhalb von Küsnacht (ZH) ist zum Beispiel die Baugenossenschaft Zurlinden (BGZ) seit letztem Winter daran, aus Sonnenenergie Wasserstoff zu gewinnen. Vergleichbare elektrochemische Prozesse wurden bislang an Hochschulen durchgeführt, um die erneuerbaren Energien der Zukunft alltagstauglich zu machen. Die zentrale Frage, wie sich überschüssiger Ökostrom im Sommer speichern und im Winter in Form von Wärme oder elektrischer Energie wiederverwenden lässt, soll nun ebenfalls in der BGZ-Wohnsiedlung Hüttengraben untersucht werden. Die Testphase ist auf fünf Jahre anberaumt und nach wenigen Monaten bereits im Alltagsbetrieb integriert. Stefan Kälin, BGZ-Vizepräsident und Energieplaner an diesem gemeinnützigen Wohn­standort, ist mehrheitlich zufrieden: «Die Speicheranlage läuft mit Ausnahme einiger Kinderkrankheiten gut.»

Haus Nr. 12 als Forschungsstation
Letztes Jahr haben fast fünfzig Familien die acht Wohnhäuser der Siedlung Hüttengraben bezogen. Baustandards und lokale Energieversorgung erfüllen die strengen Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft. Jedes dreistöckigeGebäude besteht hauptsächlich aus Holz und bezieht Energie aus ebenso natürlichem wie erneuerbarem Milieu: der konstanten Wärme des Bodens. Mithilfe von Erdsonden und Wärmepumpen werden diejenigen Kilowattstunden emissionsarm erzeugt, die es zum Heizen und zur Wassererwärmung braucht.
Haus Nummer 12 ist zugleich eine Forschungsstation: Eine Photovoltaikanlage ziert das Flachdach; im Keller befindet sich ein Kasten, in dem der neuartige Elektrolysator steckt. Dieser zerlegt Wasser in seine Einzelteile Wasserstoff (H2) und Sauerstoff. Der elektrochemische Prozess erfolgt dabei geräusch- und gefahrlos, wobei ein grosser Energieinput von
aussen erforderlich ist. Sobald überschüssiger Solarstrom produziert werden kann, treibt dieser die Hydrolyse an; so entsteht synthetischer Wasserstoff.

Eine Million Liter H2
Zwei Tanks nehmen im Hüttengraben fast eine Million Liter lokal erzeugtes H2 auf. Für einen unabhängigen Betrieb des Sechsfamilienhauses während zweier Monate würde diese Füllung ausreichen. Im umzäunten Unterstand im Vorgarten der BGZ-Siedlung ist die Lagerstätte untergebracht. «Das Handling ist unbedenklich und sicher», versichert Stefan Kälin. Die Behörden haben bei der Bewilligung dieser Pilotanlage aber genau hingeschaut. Der Kanton Zürich hatte dabei den Vorteil, zur selben Zeit gleich zwei vergleichbare Speicher­anlagen zu überprüfen. Denn auch das erste energieautarke Mehrfamilienhaus der Schweiz, das in Brütten in der Nähe von Winterthur steht, setzt auf die junge «Power-to-Gas»-Technologie. Die klassische Speichervariante für elektrische Energie ist demgegenüber die Batterie, die auch im Hüttengraben verwendet wird: Versorgungslücken von maximal drei Tagen kann der lokale Lithiumakku überbrücken.
Die grössten Hoffnungen werden jedoch in den flüchtigen Wasserstoff gesteckt; Forscher und Politikerinnen in ganz Europa möchten damit schon bald fossile Treib- und Brennstoffe ablösen. In Deutschland sind mehr als ein Dutzend Versuchsanlagen zur industriellen Wasserstoffproduktion in Betrieb. Und in Dänemark ist vor knapp zehn Jahren die Energieversorgung eines ganzen Dorfs auf H2-Technologie umgerüstet worden. Für die Küsnachter Genossenschaftssiedlung wurden Know-how und Technik aus dem Norden erworben.
Weiteres Fachwissen für die neue Speichertechnologie stammt aus der Metallindustrie, aus der Weltraumforschung und aus dem Betrieb von Unterseebooten. Das grosse Vorbild ist aber ein natürlicher Prozess: die Photosynthese. Pflanzliche Organismen wandeln dabei CO2 in Sauerstoff und eigene Biomasse um. Diese biochemische Kettenreaktion beginnt ebenfalls mit dem Aufspalten von Wasser; Energiequelle zur Produktion von Wasserstoff ist das Sonnenlicht.

In der BGZ-Siedlung Hüttengraben birgt das Speichergebäude (im Vordergrund) zwei Wasserstofftanks.

Produktion von Wärme und Strom
Weitere Vorzüge von Wasserstoff sind die vielfältige Verwendbarkeit und die energetische Reversibilität: Das synthetische Gas lässt sich in grossen Mengen speichern und nach Bedarf als Energieträger wiederverwenden. In beiden Zürcher H2-Häusern werden daraus sowohl Wärme als auch Strom produziert, was als einzige Emission Wasserdampf erzeugt. Dies geschieht mit Brennstoffzellen, die schon länger am Markt erhältlich sind und daher auch im Hüttengraben bislang reibungslos funktionieren. «Vergleichbar mit der Hydrolyse funktioniert auch dieser Verbrennungsprozess elektrochemisch; letzteren haben wir aber besser im Griff», sagt Stefan Kälin. Am schwierigsten ist es aber, die komplexen elektrochemischen Prozesse und Reaktionen zu einer ganzen Prozesskette zu verbinden. Der Ablauf der einzelnen Power-to-Gas-Schritte ist tatsächlich wenig erprobt. «Vor allem die Steuerung braucht noch einige Erfahrung», ergänzt der BGZ-Vizepräsident.
Auch für die ökonomische Bilanzierung nimmt sich die Baugenossenschaft Zeit. Ab wann sich ein solcher Energiespeicher lohnt, ist aktuell ungewiss. Der Wärmepreis dürfte internen Berechnungen zufolge bei rund 20 Rappen pro Kilowattstunde liegen, wobei halb so viel konkurrenzfähig wäre. «Wir leisten uns das Forschungsprojekt trotzdem, weil Energiespeicherung in absehbarer Zeit unverzichtbar wird», sagt Stefan Kälin. Vorläufig bleibt Haus Hüttengraben Nr. 12 jedoch ans öffentliche Netz angehängt; und für diesen Strom wird der handelsübliche Preis bezahlt. Der energieautarke Betrieb ist vorerst auf die Wintermonate limitiert.

Von öffentlicher Hand unterstützt
Im Hofacher, einem ländlichen Wohnquartier bei Brütten, sind die Stromzuleitungen aber jetzt schon ganzjährig gekappt. Hier steht das erste energieautarke Mehrfamilienhaus der Welt; das privat lancierte Pilot- und Demons­trationsprojekt wird von Bund und Kanton Zürich finanziell unterstützt. Auch hier werden neueste Komponenten der Solartechnik und ein ausgeklügeltes Speicher- und Regelungssystem ausgetestet. Das Gebäude wird seit vergangenem Jahr von neun Familien bewohnt und hat kurz nach Inbetriebnahme den Norman Foster Solar Award 2016 erhalten. Die Vorschusslorbeeren scheinen angemessen: Obwohl der vergangene Januar so kalt und sonnenarm war wie seit zwanzig Jahren nicht mehr, stand ausreichend gespeicherte Energie vor Ort zur Verfügung. «Ohne Fehl und Tadel hat das energieautarke Mehrfamilienhaus diesen Härtetest bestanden», freut sich die Umwelt Arena Schweiz, die als Projektträgerschaft auftritt.
Auch in Brütten wird nicht erforscht, ob diese Speichervariante wirtschaftlich konkurrenzfähig ist. Vielmehr geht es darum, die aktuell verfügbare Technik bis aufs Letzte auszunutzen und aufzuzeigen, was alles möglich ist. Die Übungsanlage ist dieselbe wie im Hüttengraben: Ein Elektrolysator erzeugt Wasserstoff, sobald zu viel Solarstrom produziert wird und die Lithiumbatterien voll sind. Allerdings fassen die H2-Tanks in Brütten 120 000 Liter; sie stehen dort aber nicht im Vorgarten, sondern sind darunter eingegraben.

Knoten für verschiedene Energienetze
Der leistungsstärkste Elektrolysator der Schweiz steht jedoch nicht im Kanton Zürich, sondern im westlichen Mittelland, in einem Gewerbegebiet direkt an der Aare. Auch der städtische Stromversorger von Solothurn treibt die Wasserstoffzukunft bereits sichtbar voran. Das Hybridwerk, das mit einem 350-kW-Elektrolysator ausgerüstet ist, sprengt allerdings den gebäudebezogenen Rahmen; es soll mithelfen, das öffentliche Stromnetz zu stabilisieren. Einen Wasserstoffspeicher benötigt die Regio Energie Solothurn dazu aber nicht. Die Versuchsanlage soll nämlich zeigen, wie die bisher voneinander getrennten Strom- und Gasnetze miteinander in Verbindung gebracht werden können.
H2 darf direkt in das Erdgasnetz eingespeist werden, aber nur in geringer Konzentration. Einfacher zu kontrollieren ist der Austausch, wenn das Synthesegas zuerst in Methan umgewandelt wird. Seit dem Frühjahr wird nun ein zwölf Meter hoher Bioreaktor auf der Aarmatt gebaut, in dem die Methanisierung mithilfe von natürlichen Kleinstorganismen stattfinden wird. Ab 2018 soll die zweijährige Testphase starten. Einheimische Hochschulen begleiten das Pilotprojekt, das zudem EU-Fördergelder bezieht. Auch diese Forschung findet ausserhalb sonst üblicher Labors statt, weil so der Praxisbezug einfacher untersucht werden kann. Einen Unterschied zu den beiden H2-Wohnhäusern gibt es jedoch: Der Elektrolysator läuft in der Solothurner Versuchsanlage nur selten. Die Menge an überschüssigem Solarstrom ist derart überschaubar, dass das Netz ohne Speichermassnahmen stabil gehalten werden kann.