Bei Lüftungen sind individuelle Lösungen und Kombinationen gefragt

Mehr Flexibilität dank reduzierter Anforderungen

Es gibt viele Gründe, die für eine Komfortlüftung sprechen. Bei Wohnbaugenossenschaften sind die Meinungen jedoch geteilt: Während die einen aus Überzeugung auf sie setzen, haben die anderen mit Abluftanlagen bessere Erfahrungen gemacht. WOHNEN hat bei Fachleuten nachgefragt, wohin der Weg führt. Dabei zeigt sich: Es muss auch bei der Komfortlüftung nicht immer die Maximallösung sein.

Von Thomas Bürgisser | Bilder: Zehnder Group Schweiz AG, zVg | 2023/05

Bei dichten Gebäudehüllen ist ein gezielter Luftaustausch elementar, um Feuchtigkeitsschäden vorzubeugen und verbrauchte Raumluft zu ersetzen. Mit einer Komfortlüftung lässt sich dies automatisieren. Sie sorgt dafür, dass Feuchtigkeit, aber auch Schadstoffe kontrolliert abgeführt werden, sie entzieht der Abluft Wärme und liefert gefilterte sowie vorgewärmte oder im Sommer allenfalls gekühlte Frischluft nach. Für die Graphis Bau- und Wohngenossenschaft ist deshalb klar, dass man bei Neubauten und teils auch bei Sanierungen auf Komfortlüftungen setzt, sofern es Sinn macht. In der Siedlung «Im Heuwinkel» in Allschwil (BL) beispielsweise belüftet man die Wohnungen im Kaskadensystem. Das heisst: In den Badezimmern und Küchen wird die verbrauchte Luft abgesogen, in allen Zimmern und den Wohnbereichen neue Luft zugeführt. Dafür steht pro Hauseingang ein Monoblock im Einsatz. Dieser enthält einen Enthalpietauscher, der neben Wärme auch Feuchtigkeit von der Ab- auf die Zuluft überträgt. Zusätzlich können die Bewohnenden die Luftmenge in drei Stufen regulieren. «Die Regulierbarkeit ist seit 2019 von Minergie vorgeschrieben. Das macht zwar Sinn, ist aber nochmals eine zusätzliche Installation», gibt Michael Tschofen zu bedenken, Bauverantwortlicher von Graphis. Die aus seiner Sicht immer aufwändigere Umsetzung sowie Kontrolle für eine Minergie-Zertifizierung ist für ihn der einzige Wermutstropfen. «Wir würden uns manchmal etwas mehr Flexibilität und Unkompliziertheit wünschen, stehen ansonsten aber hinter Minergie und den Komfortlüftungen.»

Anstelle eines grossen Monoblocks für das Gesamtgebäude kommen auch kleinere ­Komfortlüftungsgeräte in Frage, die die Wohnungen vom ­Technikraum aus konstant mit Frischluft versorgen.

Bei einer Verbundlüftung (links) wird die Luft zentral im Korridor oder Wohnzimmer eingelassen. Offene Zimmertüren sorgen für die Luftzirkulation. Beim Kaskadenprinzip (rechts) wird jedes Zimmer direkt mit vorgewärmter Frischluft versorgt.

Zu trockene Luft als Problem
Anders klingt es bei der Gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft Winterthur (GWG). Hier verzichtet man inzwischen bewusst auf Komfortlüftungen. «Wir kämpfen in den bestehenden Minergie-Bauten bis heute mit zu trockener Luft. Auch der Luftzug ist ein Problem. Zudem verbrauchen die Systeme ziemlich viel Strom», führt Giuseppe Venturini aus, Projektverantwortlicher Bauherr der GWG. Dies habe die Genossenschaft vor zehn Jahren zum Entscheid bewogen, keine Komfortlüftungen mehr umzusetzen. «Bei den letzten drei Neubauten setzen wir stattdessen auf Abluftsysteme in den Badezimmern, wobei durch den Unterdruck über Lufteinlässe im Bereich der Fenster gefilterte Frischluft nachströmt. Dank einer Eigenentwicklung konnten wir bei der Siedlung Vogelsang sogar erhöhte Schallanforderungen erfüllen.» Zwar gebe es vereinzelte Feedbacks wegen der kühleren Zuluft, aber nie so viele wie zur trockenen Luft früher.
Auch die Wohnbau-Genossenschaft Nordwest (WGN) aus Basel präferiert Abluftsysteme mit Luft-Nachströmung zum Beispiel über die Fenster anstelle des Einbaus von «teuren, unterhaltsreichen Komfortlüftungen», so die Auskunft. Bei der Zürcher Baugenossenschaft Zurlinden sind es dezentrale Fensterlüfter mit CO2-Fühler, die in einzelnen Zimmern verbrauchte Luft durch vorgewärmte Frischluft tauschen. «Der Unterhaltsaufwand ist durch die jährlichen Filterwechsel zwar recht gross. Die Akzeptanz seitens Mieter ist aber sehr hoch. Anders als bei zentralen Lüftungen, wo sie Vorbehalte bezüglich Hygiene äussern», so Zurlinden-CEO Jan Baumgartner. Bei den Mieterinnen und Mietern der ASIG Wohngenossenschaft aus Zürich, die situationsabhängig auf Komfort- oder Abluftanlagen setzt, komme die kontrollierte Wohnraumlüftung aufgrund von Geräuschen, Zugluft und teilweise auch wegen Geruchsübertragung ebenfalls nicht immer gut an, berichtet Curt Krause, Bereichsleiter Immobilien. Schlussendlich aber zeige die Erfahrung auch, dass keine Lüftung von Beginn an einwandfrei funktioniere. «Und es gibt eben auch jene, die begeistert sind, dass sie ohne Lüften immer frische Luft haben.» Aus diesem Grund eruiert die ASIG zurzeit, ob eine Teillösung in Form einer Grundlüftung eine Alternative sein könnte.

Individuelle Kombinationen sind gefragt
In der Grundlüftung sieht Professor Heinrich Huber, Dozent für Gebäudetechnik an der Hochschule Luzern, eine zukunftsfähige Lüftungslösung. «Anstatt wie im Kaskadenprinzip jedes Zimmer direkt mit vorgewärmter Frischluft zu versorgen, wird diese bei einer solchen Verbundlüftung zentral im Korridor oder Wohnzimmer eingelassen. Offene Zimmertüren beziehungsweise im besten Fall aktive Überströmer sorgen für die Luftzirkulation.» Gerade für Wohnbaugenossenschaften, bei denen der Kostenfaktor zentral sei, könne das interessant sein. «In einer 2022 veröffentlichten Studie haben wir aufgezeigt, dass die Kaskaden-Komfortlüftung zwar bei den nutzungs- und gesundheitsrelevanten Parametern wie der Raumluftfeuchte und -qualität sowie der Akustik top ist. Geht es aber um Investitionskosten oder die graue Energie, ist sie im hinteren Mittelfeld», erklärt Huber. Man müsse sich entsprechend fragen, welche Faktoren für einen wichtig seien.
«Oftmals wird eine mechanische Lüftung mit dem Minergielabel und damit mit Energieersparnis gleichgesetzt. Das ist zwar ebenfalls wichtig. Aus meiner Sicht geht es primär aber erst einmal darum, Feuchtigkeit und verbrauchte Raumluft abzuführen», so Huber. Erreichbar sei dies grundsätzlich auch mit einer Abluftanlage und Nachströmöffnungen, so genannten Aussenbauteil-Luftdurchlässen (ALD). «Hier zeigen jedoch Studien, dass der Wohnkomfort aufgrund der kalten Zugluft sehr leiden kann.» Vielleicht genüge aber tatsächlich schlicht eine Grundlüftung, bei der man wesentlich weniger Material und Wartungsaufwand habe. Wie viele und welche Zimmer dann mit aktiven Überströmern, meist in Form von Kleinstventilatoren, ausgerüstet werden, lasse sich variieren. «Beim Minergie-Neubau müssten es alle sein. Allenfalls reicht aber zum Beispiel auch das Schlafzimmer. Oder aber man versorgt ein ungünstig gelegenes Zimmer noch mit einem Einzelraumlüftungsgerät.»
Allgemein denkt Huber, dass individuelle Lösungen und Kombinationen gefragt sind. Dafür sei wichtig, schon in einem frühen Planungsstadium an die Lüftung zu denken, um Lüftung und Architektur aufeinander abzustimmen. Damit könnten auch spätere Probleme minimiert werden. «Anstelle eines Monoblocks für das Gesamtgebäude würde ich zum Beispiel auf kleinere Lüftungsgeräte für jeweils vier bis sechs Wohnungen setzen. Das ist ökonomisch interessant und reduziert auch das Risiko einer grossflächigen Geruchsübertragung.» Von Aktivkohlefiltern rät Huber eher ab, da diese wartungsintensiv und nicht bei allen Gerüchen gleich wirksam sind. «Enthalpietauscher hingegen machen durchaus Sinn und sind vor allem bei kleineren Geräten inzwischen auch sehr gut.» Gegen zu trockene Luft sowie Geräusche und Luftzug helfe jedoch auch eine reduzierte Luftmenge. «Damit spart man gleichzeitig noch Strom und durch kleinere Kanäle graue Energie sowie Wartungskosten. Sogar die Regulierbarkeit pro Wohnung könnte man sich in vielen Fällen so sparen.»

Belüftet man Wohnungen im Kaskaden- oder Verbundsystem, wird die verbrauchte Luft in der Küche und im Bad durch ein Auslassgitter abgesogen.

Individuelle Lösungen können bei Lüftungen sinnvoll sein. So konnte die Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Winterthur dank einer Eigenentwicklung ­erhöhte Schallanforderungen ­erfüllen.

Reduzierte Luftmenge auch für Minergie
Genau diese reduzierte Luftmenge ist seit Mai 2021 auch in der SIA-Norm 382/5 «Mechanische Lüftung in Wohngebäuden» festgehalten. Dank den neuen Anforderungen an die minimalen Ab­luftvolumenströme können Komfortlüftungen rund ein Viertel kleiner dimensioniert werden als mit der früheren Planungsregel. Aus Sicht von Robert Minovsky, Leiter Technik von Minergie Schweiz, ist das eine gute Entwicklung. Er begrüsst auch Trends wie die Grundlüftung oder Kaskadenlüftungen mit ein, zwei Auslässen weniger. «Wir ­verweisen seit jeher einzig auf die Einhaltung von Normen. Gerade weil eben oft Indi­vidualität gefragt ist, um ein Gleichgewicht zwischen Wohnkomfort, Energieeffizienz, Materialeinsatz und Wartungsaufwand zu finden», sagt Minovsky. Gleichzeitig betont er, dass vor allem bei der Wartung oft auch Äpfel mit Birnen verglichen würden: «Damit Aussenluftdurchlässe wirklich einwandfrei funktionieren, müssen auch sie regelmässig professionell gereinigt werden. In der Summe ist man da schnell teurer als bei einer Komfortlüftung.»
Komme hinzu, dass ohne Wärmerückgewinnung meist ein grösserer Wärmeerzeuger nötig sei, was wiederum Platz und Energie koste. Man nehme die Rückmeldungen aus der Praxis aber ernst. «Dabei kann ich nur immer wieder unterstreichen, wie wichtig die Platzierung der Aussenluftquelle sowie der Auslässe in den Wohnungen ist, um Gerüche und Zugserscheinungen zu verhindern. Als Reaktion auf die Zugluft und Lufttrockenheit haben wir 2019 ausserdem die Regulierbarkeit pro Nutzungseinheit eingeführt und verlangen inzwischen Luftmengenmessprotokolle, um sicherzustellen, dass die Anlagen auch richtig justiert werden.» Eine Anpassung der Anforderung diesbezüglich sei aktuell nicht geplant, sagt Minovsky. «Natürlich ist das ein administrativer Aufwand. Schlussendlich wollen wir damit aber eine für die Nutzenden optimale und gleichzeitig möglichst energiesparende Lösung garantieren.»

Weitere Informationen
Studie «Vergleich von Lüftungskonzepten für Wohnbauten» Schlussbericht 2022
Broschüre «Minergie WISSEN: Gute Raumluft»