Studien über Lüftungen liefern ernüchternde Resultate

Viel Luft nach oben

Wie sieht die ideale Lüftung aus? Zwei aktuelle Studien zu den genossenschaftlichen Siedlungen Klee und Hunziker-Areal rücken diese Frage in den Fokus. Sie zeigen: Aktuelle Anlagen benötigen oft mehr Energie als gedacht. Optimierungen kann aber nur vornehmen, wer die Auswirkungen auf das Gebäude, das Verhalten der Mietparteien und nicht zuletzt die gültigen Normen im Auge behält.

Von Michael Staub | Bilder: Vera Markus, Lukas Ziegler | Juni 2019

Bei Minergie-Bauten ist eine kontrollierte Wohnraumlüftung (KWL) vorgeschrieben. Doch wie sieht die gesamte Umweltbilanz solcher Anlagen aus? Diese Frage sollte eine Studie im Auftrag der Baugenossenschaften Hagenbrünneli (BGH) und Gemeinnützige Bau- und Mietergenossenschaft Zürich (GBMZ) klären. Sie haben gemeinsam die 2011 bezogene Grosssiedlung Klee in Zürich Affoltern erstellt. Baulich sind die Siedlungsteile, die zusammen über 300 Wohnungen umfassen, weitgehend identisch, Unterschiede gibt es bei der Gebäudetechnik: Der Teil der GBMZ besitzt eine zentrale Komfortlüftung mit Wärmerückgewinnung (WRG); der Gebäudeteil der BGH wurde lediglich mit Abluftsystemen für Küchen und Bäder ausgerüstet, gelüftet wird manuell via Fenster. Alice Zinniker, Geschäftsführerin der BGH, sagt: «Unsere Baukommission unter dem damaligen Präsidenten Werner Berger war gegenüber der Komfortlüftung skeptisch und verzichtete deshalb darauf. Wir haben mit der GBMZ aber vereinbart, nach einigen Jahren einen Vergleich durchzuführen.»

Grosse Ernüchterung
Dieser Vergleich wurde nun gemacht, und zwar in Form einer Studie (siehe Box). Deren Fazit hat es in sich: Betrachte man den Energie- und Ressourcenaufwand über den gesamten Lebenszyklus, also den Strombezug sowie die in der Anlage steckende graue Energie, sei eine zentrale Komfortlüftung mit WRG «in keinem betrachteten Szenario ökologisch sinnvoll». Auch finanziell lohne sich der Aufwand nicht. Bei der BGH sei man «fast vom Stuhl gefallen», sagt Alice Zinniker: «Das Bauchgefühl war das eine, die Studie das andere. Wir dachten, dass man mit Minergie weniger Energie benötigt, nicht mehr.» Auch in der GBMZ sei man ernüchtert gewesen, sagt Thomas Zumbrunnen, Bereichsleiter Technischer Unterhalt: «Wir waren davon ausgegangen, dass wir die vorgegebenen Zielwerte annähernd erreichen würden. Gerade im Energiebereich lagen wir jedoch deutlich daneben.»
Als Folge der Studie hat die GBMZ die Technik optimiert und zum Beispiel die Häufigkeit des Luftaustausches etwas reduziert. Die Grenze zwischen zu viel und zu wenig Luft ist diffizil: Bei Minergie-Bauten ist eine gute Lüftung zwingend, denn wegen der sehr dichten Gebäudehülle können rasch Feuchtigkeits- und damit Schimmelprobleme entstehen. Zudem beeinflusst das Verhalten der Mietparteien das Funktionieren jeder Lüftung. Welche Systeme im Alltag am besten akzeptiert werden, ist aber noch wenig erforscht. Deshalb haben BGH und GBMZ für die Siedlung Klee eine Folgestudie in Auftrag gegeben. Diese soll klären, wie es aus Sicht der Mieterinnen und Mieter um Komfort, Innenraumklima und Behaglichkeit steht.

BGH-Mieter lüften wie früher: mit Öffnen des Fensters. Daneben die Komfortlüftungsanlage im GBMZ-Keller.

Wenig Alternativen, heftige Kritik
Mit dem Thema Komfortlüftung sind beide Genossenschaften weiterhin konfrontiert. Die BGH will in den nächsten Jahren ihre Siedlung Hirschwiese mit einer Arealüberbauung ersetzen. «Die Wohnungen Richtung Irchel werden wir wohl mit KWL ausrüsten, allein wegen der Luftqualität und der Lärmprobleme», sagt Alice Zinniker. Jedoch hoffe man, dass die Komfortlüftung bis zum voraussichtlichen Baustart 2025 noch gewisse Optimierungen erlebe. Bei der GBMZ sind verschiedene Projekte in der Pipeline, darunter eines an der stark befahrenen Hohlstrasse. «Die Luftqualität ist dort natürlich anders als auf der grünen Wiese. Der Energiebezug der Lüftung ist eine Seite, der Komfort und die Luftqualität in den Wohnungen sind die andere», sagt Thomas Zumbrunnen.
Die Lüftungsstudie der S3 GmbH hat in der Genossenschaftsszene für viel Aufsehen gesorgt und wurde unter anderem bei einem Anlass des Regionalverbands Zürich vorgestellt. Aus Fachkreisen gab es jedoch Kritik an Methodik und Aussagen der Studie. So wird bemängelt, dass der effektive Stromverbrauch der Lüftungsventilatoren nicht an den Geräten selbst gemessen wurde. Stattdessen haben die Autoren die Differenz im Allgemeinstromverbrauch der beiden Siedlungsteile verwendet. Ebenso wurde die Studie von manchen Kreisen als genereller Angriff auf die KWL verstanden. Studienmitverfasser Diego Sigrist relativiert: «Wenn man die Gebäudehülle so dicht baut, wie dies Minergie vorschreibt, ist eine kontrollierte
Lüftung notwendig. Wir stellen aber nicht pauschal die KWL in Frage, sondern weisen vielmehr auf die Probleme von Anlagen mit zentraler Zu- und Abluft hin.» Insbesondere der gros­se Materialaufwand (mehr Beton für dickere Geschossdecken, mehr Lüftungskanäle und -rohre, grosse Lüftungszentralen) sei der Pferdefuss der zentralen KWL. «Mit einfacheren Abluftanlagen und Aussenluftdurchlässen könn­te man die Aufgabe vermutlich auch erledigen – mit deutlich besserer Ökobilanz und tieferen Kosten.»

Neue Wege suchen
Wenig Freude an der Studie hat der Verein Minergie, der letzten Herbst mit einem zweiseitigen «Faktenblatt» detailliert Stellung nahm (Link siehe Box). Minergie-Geschäftsleiter Andreas Meyer Primavesi sagt: «Die Studie genügt wissenschaftlichen Ansprüchen nicht, wirft aber wichtige Fragen auf: Wie kann man eine Lüftung weniger energieintensiv bauen? Sind normkonforme Abluftanlagen wirklich günstiger im Unterhalt?» Die zentrale Komfortlüftung der Siedlung Klee sei bezüglich grauer Energie nicht repräsentativ, sondern der schlimmstmögliche Fall, meint der Minergie-Geschäftsführer: «Die Leitungen sind sehr lang, die Luft wird unnötig stark vorgewärmt, das verbaute Blech ist in der Herstellung ausgesprochen energieintensiv, und es wurde deutlich mehr Beton verbaut als eigentlich nötig.» Zentrale Systeme seien nicht per se schlechter als dezentrale. Für Komfortlüftungs- wie auch Abluftsysteme verfolge Minergie eine Vision: «Die Systeme sollen so einfach wie möglich sein, nach dem Kaskadenprinzip funktionieren und von den Nutzern selber gesteuert werden können.»
Bei der Verbundlüftung strömt die Zuluft zum Beispiel über das Wohnzimmer ein, überströmt den Gang und gelangt schliesslich in das Schlafzimmer. Dadurch sind weniger Leitungen und Luftauslässe notwendig, die Luftmenge pro Wohnung und auch der Stromverbrauch können reduziert werden. Im Rahmen eines BFE-Leuchtturmprojektes werden auf dem Hunziker-Areal verschiedene Lüftungstechnologien miteinander verglichen, so auch die Verbundlüftung. «Als Genossenschaft sind wir sehr froh, verschiedene Systeme ausprobieren zu können», sagt Dominik Lässer, Leiter Vermietung und Bewirtschaftung Hunziker-Areal bei «mehr als wohnen». Mit einer Studie, die das Beratungsunternehmen Lemon Consult durchführte, wurde der Energiebezug der verschiedenen Lüftungssysteme eruiert. Das Fazit: Zentrale Zu-/Abluftanlagen sparen weniger Heizwärme und verbrauchen mehr Strom als gedacht. Die «normalen» Abluftanlagen sind energieeffizienter als gedacht, erzeugen aber Zugluft. Die beste Energieeffizienz weisen dezentrale Wohnungslüftungsgeräte auf.

Auch auf dem Hunziker-Areal der Baugenossenschaft «mehr als wohnen» in Zürich hat eine Studie verschiedene Lüftungssysteme verglichen. Sie ergab etwa, dass die «normalen» Abluftanlagen energieeffizienter sind als gedacht.

Luftmenge anpassen
Aufgrund der Studienergebnisse konnten die Lüftungsanlagen optimiert werden. Und das mit Erfolg, sagt Martin Ménard, Partner bei Lemon Consult: «Bei fast allen Lüftungsanlagen haben wir die Luftmenge um 20 bis 30 Prozent reduziert. Dies spart Heizwärme und Strom, entschärft das Zugluftproblem und macht die Raumluft im Winter weniger trocken.» Die Messung der CO2-Konzentration in zwanzig Wohnungen zeigte, dass die Raumluftqualität immer noch gut ist. Bauherrschaften empfiehlt Martin Ménard eine Drei-Punkte-Strategie: «Die Luftmenge gegenüber dem Standard etwas reduzieren, auf die Kaskadenlüftung setzen und den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit geben, selber die Luftmenge zu regeln.» Ein Problem stellen derzeit noch die gültigen Lüftungs- und Heizungsnormen dar. «Bei Abluftanlagen muss die Luftmenge heute immer noch 30 Prozent grösser sein als bei Zu-/Abluftanlagen. Dieser Zuschlag führt zu Zugluft und trockener Luft, frisst unnötig Energie und ist gemäss unseren Untersuchungen gar nicht nötig.»
Mit einer Folgeumfrage wurden die Mieterinnen und Mieter des Hunziker-Areals befragt, wie sie den Wohnkomfort und die Behaglichkeit ihrer Lüftungen einschätzen. Während die zentrale Komfortlüftung wenig zu reden gab, wurden bei der Verbundlüftung und den Abluftanlagen vor allem Zugluft und Lärmentwicklung bemängelt. Das Zugluftproblem wurde gemäss Dominik Lässer erkannt und wird nun aktiv beeinflusst: «Wir thematisieren bei Wohnungsübergaben die Aufstellung der Möbel und geben klare Hinweise. Zum Beispiel sollte man Schreibtisch oder Sofa nicht genau dort aufstellen, wo im Winter die Kaltluft abfällt.» Mit diesem «Erwartungsmanagement» lasse sich schon viel bewirken. Der Lärm hingegen ist ein schwierigeres Thema, denn trotz Schallschutzelementen in den Aussenluftdurchlässen besteht eine akustische Verbindung zwischen innen und aussen. Dies sei «gewöhnungsbedürftig», störe aber nicht weiter, wenn diese Verbindung zum Innenraum des Areals ausgerichtet sei, meint Dominik Lässer.

Die Reise muss weitergehn
Die ideale Lüftung, die sämtliche Normen erfüllt, möglichst keine Energie bezieht und auch bei allen Mieterinnen und Mietern auf Beifall stösst, ist noch nicht gefunden. Jedoch zeigen die beiden Studien und ihre Resonanz, wohin die Reise gehen sollte: Einerseits braucht es zusätzliche Anstrengungen, um den technischen Teil zu optimieren, also die graue Energie bei der Erstellung und den Stromverbrauch im Betrieb möglichst gering zu halten. Wichtig scheint auch eine baldige Anpassung der relevanten Normen, damit effiziente Systeme nicht unnötig benachteiligt werden.
Nicht zuletzt müssen Genossenschaften auch ihre Mietparteien einbeziehen, damit die gebauten Lösungen akzeptiert werden. Denn sonst geschieht, was Alice Zinniker, die Mieterin einer anderen Baugenossenschaft ist und in einer Wohnung mit Komfortlüftung lebt, schon oft erlebt hat: «Wenn der Abwart oder die Verwaltung in die Wohnung kommen, sind die Lüftungsschlitze offen. Kaum sind sie weg, wird alles wieder abgedichtet und zugeklebt.»

Die Studie

Die Studie der S3 GmbH vergleicht die beiden Lüftungskonzepte der Siedlung Klee. Im Teil der BGH wird mit Fensterlüftung und Abluft in Küche und Bad gelüftet, die GBMZ setzt auf eine zentrale Anlage für kontrollierte Wohnraumlüftung (KWL) mit Wärmerück­gewinnung. Gemäss der Studie verbraucht der Siedlungsteil der GBMZ über 60 Prozent mehr Allgemeinstrom als der Siedlungsteil der BGH. Dieser Mehrverbrauch, postulieren die Autoren, gehe «mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Ventilatoren der zentralen Lüftungsanlage zurück». Der Heizwärmeverbrauch im Siedlungsteil der GMBZ sei zwar 1,8 Prozent tiefer als im Siedlungsteil der BGH. «Das durch den reduzierten thermisch wirksamen Aus­senluft-Volumenstrom 

theoretisch mögliche Einsparungspotential gemäss dem Systemnachweis SIA 380/1 beläuft sich allerdings auf über 24 Prozent und wird somit bei weitem nicht ausgeschöpft.»
Schlechte Zensuren erhält die zentrale KWL in der Studie auch bezüglich Ökobilanz und Finanzen. Die totale Umweltbelastung der KWL sei deutlich höher, und wegen der hohen Investitionskosten verursache sie über den Lebenszyklus des Gebäudes fast das Fünffache an Kosten im Vergleich mit der unkontrollierten Fensterlüftung.

Die Originalstudie ist verfügbar unter www.s3-engineering.ch.
Die Stellungnahme des Vereins Minergie («Faktenblatt Lüftung Siedlung Klee») ist zugänglich unter www.minergie.ch.