Irene von Meiss über neue Fassadengestaltungen

«Der Gestaltungswille ist wieder spürbar»

Kaum eine neue Genossenschaftssiedlung gleicht der anderen. Wie ist es zur neuen Vielfalt der Fassadengestaltungen gekommen? Passen bunte Keramikplatten, Glasschindeln oder Holzbretter überhaupt ins bestehende Umfeld? Irene von Meiss von der ETH-Dozentur für Bautechnologie und Konstruktion beurteilt die Entwicklung zwar positiv. Mit manchen Trends ist sie aber nicht glücklich.

Interview: Richard Liechti | Bild: zVg | April 2017

Wohnen: Traditionell besitzen die Wohnhäuser in den Schweizer Städten Putzfassaden. Putz ist bei Neubauten zwar auch heute mit Abstand die Nummer eins. Gerade beim genossenschaftlichen Wohnungsbau beobachte ich aber viele neue Fassadenkleider. Man sieht Keramik und Klinker in den verschiedensten Mustern und Farbtönen, Eternit, Glas, Holz in allerlei Kombinationen, ja sogar Metall. Können Sie diese Entwicklung bestätigen?

Irene von Meiss: Eine solche Tendenz zur Vielfalt besteht auf jeden Fall. Wir fördern das auch in der Lehre an der ETH Zürich, indem wir die Architekturstudenten auffordern, bei ihren Entwürfen einen spezifischen Ausdruck zu finden, die Fassaden bewusst zu gliedern und Alternativen zu Fassadenoberflächen, die über viele Quadratmeter gleich daherkommen, zu untersuchen.

Warum stechen hier gerade die neuen Genossenschaftssiedlungen hervor?

Dies dürfte vor allem mit der Grösse dieser Siedlungen zusammenhängen. Heute werden wieder ganze Überbauungen aus dem Boden gestampft, die nicht über die Zeit gewachsen sind und deshalb steril daherkommen. Also versucht man, mit lebendigen Materialien wie Holz oder Klinker einen Ort, eine Identität zu schaffen. Im Gegensatz zu Putz bieten sie viele Möglichkeiten. Man kann beispielsweise mit dem Glanz oder der Reflektion spielen, mit unterschiedlichen Plattenformen und -grössen oder mit dem Verhältnis von Fugen zu Platten spannende Strukturen schaffen. Damit will ich aber nichts Grundsätzliches gegen Putz einwenden: Im Gegenteil, eine bewusst gestaltete Putzfassade ist sehr schön und gibt keine falsche Massivität vor.

Gleichzeitig beziehen sich Architektinnen und Architekten bei ihren Entwurfsideen häufig auf die Umgebung oder knüpfen an eine frühere Nutzung an.

Wenn grosse Flächen in einer einheitlichen Gestaltung bebaut werden, ist bisweilen zu beobachten, dass eine Art städtebauliche Insel, ein «Dorf in der Stadt», entsteht. Diese Problematik wird in der Fachwelt stark diskutiert. Häufig wären verschiedene Typologien jedoch keine bessere Lösung gewesen, und die Situation brauchte eine starke neue Identität. Andernorts hätte die Umgebung tatsächlich schon genug Charakter gehabt, um daran anzuknüpfen.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass es unter den Architekten fast einen Wettkampf gibt, neue Fassadenspielarten zu finden. Gleichzeitig gehen die meisten Genossenschaftsprojekte aus Architekturwettbewerben hervor. Es scheint also, dass die Fachjurys diese Entwicklung zusätzlich befeuern.

Das ist leider oft auch eine Gratwanderung. Man will zwar einen ganz besonderen Ausdruck, will sich von der Umgebung differenzieren. Doch das Budget ist extrem beschränkt, so dass es weder eine vorgehängte Fassade noch ein Zweischalenmauerwerk zulässt. Dann kommen Lösungen mit geklebten Fassaden ins Spiel, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat. Die Unternehmen haben den Willen zur Gestaltung nämlich geschickt aufgenommen und bieten heute günstige Systeme an. Das hat beispielsweise den Trend zur «Plättlifassade» massgeblich gefördert.

Sie haben die sogenannten Klinkerriemchen, die man immer häufiger sieht, in einem Beitrag im «Tages-Anzeiger» kritisiert.

Für mich besteht hier ein Widerspruch. Denn einerseits möchte man als Architektin oder als Architekt, dass die Häuser eine gewisse «Materialität» und Dauerhaftigkeit besitzen. Doch man täuscht sich: Diese Platten sind lediglich acht Millimeter bis einen Zentimeter dick. Sie sind nur aufgeklebt; für das Verlegen braucht es keine Spezialkenntnisse. Würde man mit dem Auto dreinfahren, würden sie abplatzen. Der andere Punkt ist die Lebensdauer. Früher hielten Fassaden hundert Jahre. Bei diesen Systemen betragen die Garantiezeiten gerade mal zehn Jahre. Kombiniert man sie mit einer Kompaktfassade, deren Dämmung auch nur rund dreissig Jahre hält, so wird man die Gebäudehüllen nach dreissig Jahren sanieren müssen. Kurz: Man suggeriert etwas. Die Häuser wirken massiv, aber eigentlich ist es nur eine Verkleidung.


«Der Kostendruck fällt stark ins Gewicht.»


Trotzdem greifen auch renommierte Büros zu dieser Technik.

Sicher fällt einerseits der Kostendruck ins Gewicht. Anderseits ist es so, dass die Aufbautiefe tatsächlich viel geringer ist als bei einer zweischaligen Konstruktion mit den heute üblichen Isolationen. Da man die Keramikplättli direkt auf die Dämmung klebt, kann man die Kon­struktionstiefe schlank halten, so dass man im Hausinnern Raum gewinnt.

Stark zugelegt beim Siedlungsbau hat auch der Werkstoff Holz, meist in Kombination mit anderen Materialien. Dabei gefallen die Holzfassaden oft auch den Laien. In Fachkreisen war man sich lange nicht sicher, ob Holz in die Stadt passt.

Hier würde ich unterscheiden, ob Holz auch als Tragstruktur eingesetzt wird oder ob es sich einfach um eine vorgehängte Fassade handelt, die mit einer Holzverkleidung versehen ist. Im ersten Fall ist es tatsächlich logisch, dass man auch beim äusseren Erscheinungsbild auf Holz setzt, im zweiten scheint es mir nicht zwingend. Zudem gibt es gestalterische Einschränkungen, da Massivholz nur in schmalen Formaten erhältlich ist. Das wirkt dann schnell etwas «lattenmässig», was von vielen als ländlich empfunden wird.

Das Eröffnungsbild zu diesem Interview zeigt eine auffällige Fassade aus Glasplatten, kürzlich bin ich an eine Überbauung im glänzenden Metalldesign geraten – und die bekannte Genossenschaftssiedlung Zwickyareal erlaubt sich sogar einen Rostlook. Ist denn alles erlaubt?

Grundsätzlich würde ich nichts verneinen. Es ist tatsächlich immer von der Situation abhängig. Gerade bei vorgehängten Fassaden besteht auch die Möglichkeit, auf der Garten- und der Strassenseite unterschiedliche Gestaltungen umzusetzen und so auf die jeweiligen Umgebungen zu reagieren.

Im Fassadenbau ist eine Tendenz zu mehr industrieller Vorfertigung festzustellen. So gibt es etwa bei den vorgehängten hinterlüfteten Fassaden verschiedenste Fertigsysteme. Welche Auswirkungen hat dies auf die Gestaltung? Ist ein «Einheitsbrei» zu befürchten?

Ich denke, dass man sich nicht grundsätzlich gegen diese Entwicklung stellen kann. Es besteht die Tendenz, serienmässiger und damit günstiger zu produzieren, da das Bauen in der Schweiz so schon teuer ist. Wir möchten jedoch, dass die Studenten diese standardisierten Systeme richtig verstehen. Gefährlich wird es etwa, wenn die Fassade im Entwurf als Fläche daherkommt und man nicht merkt, dass es sich in Wirklichkeit um Platten mit Fugen handelt, dass Übergänge zu Sockeln, Fenstern, Dächern vorhanden sind. Man muss diese Systeme sozusagen als Rahmenbedingung akzeptieren und die Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen, die sich trotzdem bieten. Besondere Vorsicht mit solch vorgefertigten Teilen ist besonders auch dann am Platz, wenn der Architekt nicht mehr mit der Ausführung betraut ist und ein Totalunternehmer das günstigste System auswählt.


«Solarfassaden werden erstmals zum Entwurfsthema.»


Energetische Überlegungen bestimmen immer häufiger das Fassadenbild. Die Fachwelt aus dieser Ecke träumt von Gebäudehüllen, die kleine Kraftwerke sind, und betont, dass sich Photovoltaikelemente als eigentliche Fassaden attraktiv gestalten lassen. In der Realität stehen viele Architekten dem solaren Bauen aber kritisch gegenüber.

Es ist durchaus möglich, dass wir hier an der Schwelle einer neuen Epoche stehen und Solarfassaden und -dächer bald zum Repertoire jedes Architekten gehören – so wie man in der Baugeschichte schon für viele neue Entwicklungen gestalterische Lösungen gefunden hat. Einerseits sind hier die Hersteller bemüht, ihre Systeme so weiterzuentwickeln, dass sie auch ästhetisch überzeugen. Oberflächen und Texturen, Haptik und Farben werden immer mehr zum Thema. Anderseits ist auch die Lehre aktiv: An unserer Dozentur existiert eine Produkt­datenbank, die wir gemeinsam mit Swissolar aufbauen. Und was ganz speziell ist: In diesem Semester führt die Professur für Architektur und Entwurf ein grosses Studentenprojekt durch, bei dem es gilt, auch Energiedächer und -fassaden einzusetzen. Damit greift man das Bauen mit Solartechnik erstmals als Entwurfsthema auf, so dass es nicht nur um die technische Seite geht, sondern die Kreativität der Studenten gefordert ist.

Fassaden hatten früher oft einen repräsentativen Charakter. Selbst bei den Genossenschaftssiedlungen findet man bis weit ins 20. Jahrhundert Ornamente und bauliche Details, die es funktional nicht bräuchte. In den letzten Jahrzehnten ist die Architektur aber viel nüchterner geworden. Ist die neue Vielfalt der Fassaden eine Reaktion darauf? Gewinnt das Repräsentative am Haus wieder an Gewicht?

Sicher ist man vom Minimalismus der 1990er-Jahre weggekommen. Man schöpft auch wieder mehr aus dem Fundus früherer Bauepochen. Der Wille, zu gliedern und zu gestalten, nicht nur Wohnungen zu entwerfen, sondern auch ein äusseres Erscheinungsbild – das alles ist wieder spürbar. Wie erwähnt: Heute müssen Architekten allerdings mit engen Kostenrahmen auskommen und jede Idee begründen und rechtfertigen. Deshalb beschränken sich die Gestaltungsmöglichkeiten oft auf Details, die in jedem Fall vorhanden sind. Das Augenmerk liegt dann beispielsweise auf den Übergängen zwischen Sockel und Fassade oder Fassade und Dach oder auf dem Eingangsbereich. Das ist auch unser Anliegen: den Studenten aufzuzeigen, wie sie trotz eingeschränkter Freiheit ein Maximum an individueller Gestaltung herausholen.

Zur Person

Irene von Meiss hat an der ETH Zürich Architektur studiert und anschliessend in verschiedenen Büros im In- und Ausland gearbeitet. Seit 2014 betreibt sie in Zürich ein eigenes Architektur-büro und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Dozentur 

Bautechnologie und Konstruktion der ETH Zürich tätig. Die Dozentur unterstützt die Lehre in konstruktiven Fragen und ver­mittelt den Studierenden, wie sie Entwurfsideen technisch umsetzen.