Fambau saniert und erweitert Tscharnergut-Hochhaus

Wohnwert und Denkmalschutz unter einem Hut

Die Berner Grosssiedlung Tscharnergut gilt als Ikone des Siedlungsbaus der Hochkonjunkturzeit. Doch nach einem halben Jahrhundert gestaltet sich die Sanierung schwierig. So vermochte die Genossenschaft Fambau beim Scheibenhaus an der Waldmannstrasse 25 zwar die Wohnqualität stark zu verbessern. Nicht zuletzt wegen Denkmalschutzauflagen kam es aber auch zur Konservierung alter Mängel.

Von Elias Kopf | Bilder aussen: Martin Bichsel | April 2016

Die Berner Blues-Legende Chlöisu Friedli brachte es auf den Punkt: «Tscharnerguet, du bisch es», sang er einst. Sein Tscharni-Blues ist eine bedingungslose Liebeserklärung an die vielleicht berühmteste aller Schweizer Genossenschaftssiedlungen und beschwört das Glück der kleinen Leute, denen hier der Aufstieg in den satten Mittelstand gelungen war: «Ds Tscharnerguet het Ufrichtifescht gha, es het Schüblig gä.»

Soziale Pioniertat

Zwischen 1958 und 1966 in Bern Bümpliz errichtet, bot die vom Architekten Ulyss Strasser konzipierte Satellitenstadt ursprünglich Raum für 5000 Menschen; heute sind es noch halb so viele. Das Tscharnergut umfasst fünf Hochhäuser mit je zwanzig Geschossen, drei Wohnblöcke à vier Geschosse, 18 Einfamilienhäuser sowie acht Scheibenhäuser. Der Name dieser langgezogenen, achtgeschossigen Gebäude rührt daher, dass sie wie schmale Scheiben im Gelände stehen, wobei die horizontale Untergliederung der Fassaden eindrücklich zur Geltung kommt. «Die Ausstattung der insgesamt 1168 Wohnungen umfasst Zentralheizung, Heisswasser, Einbauküche, privates Badezimmer mit Badewanne sowie einen kleinen Balkon. Dies ermöglichte den Bewohnerinnen und Bewohnern trotz kleinem Portemonnaie eine solide Lebensqualität, die sie ohne genossenschaftlichen Grosssiedlungsbau kaum erreicht hätten», erklärt Walter Straub, Geschäftsführer der Fambau Genossenschaft, die im Tscharnergut über drei Scheibenhäuser und drei Hochhäuser mit insgesamt 442 Wohnungen und einem Studentenwohnheim verfügt.

Fehlender Generationenwechsel

Das verkehrsberuhigte Quartier mit seinen grosszügigen Grünflächen, mehreren Spielplätzen, Kindergärten, eigenem Schulhaus, Tierpark, Einkaufszentrum und Post eignet sich bis heute ideal für Familien. Trotzdem sei es in den letzten Jahren kaum noch gelungen, junge Schweizer Pärchen ins Tscharnergut zu holen, so Walter Straub. Dafür sieht er vor allem zwei Gründe: Zum einen halten die alteingesessenen und längst zu Grosseltern gewordenen Bewohnerinnen und Bewohner dem Quartier, wo sie seit einem halben Jahrhundert zufrieden leben, eisern die Treue und blockieren damit den Generationenwechsel. Zum andern sind die Wohnungen mit ihren engen Grundrissen stark demodiert und erfüllen die gestiegenen Komfort- und Raumansprüche des heutigen Schweizer Mittelstandes nicht mehr. «Abschreckend wirken insbesondere die nur neun Quadratmeter grossen Kinderzimmer, die winzigen Balkone und die Liftausgänge, die statt auf die Wohnungsebene auf ein Zwischengeschoss gehen, um pro Liftausgang zwei Stockwerke bedienen zu können», so Walter Straub. Solche Konstruktionen, die seinerzeit dazu beitrugen, Baukosten und Mieten tief zu halten, erweisen sich als Hemmschuh, wenn es darum geht, die in die Jahre gekommene Bausubstanz wieder in Schuss zu bringen. Kommt hinzu, dass auch die Denkmalpflege ihre schützende Hand über die zur Architekturikone avancierte Hochhaussiedlung hält (siehe Interview mit dem Berner Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross).

Die Ostseite blieb im Originalzustand erhalten. Hier baute man bloss die beiden Treppen- und Lifttürme von Grund auf neu.

Runder Tisch bringt Deblockierung

Dennoch müsse es möglich sein, die Gebäude für heutige Wohnansprüche zu modernisieren, moniert Walter Straub. Um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden, habe die Fambau deshalb vor einem Jahrzehnt einen runden Tisch zusammen mit allen anderen Tscharnergut-Genossenschaften, den involvierten Behörden sowie der Berner Denkmalpflege initiiert. «Dieser Gedankenaustausch führte zur Aufweichung festgefahrener Positionen. Insbesondere die Denkmalpflege gestand den Eigentümern nun einen gewissen Gestaltungsspielraum zu», so Walter Straub. Als Resultat kam 2009 eine Rahmenvereinbarung zur Zusammenarbeit bei Planung, Entscheidung und Umsetzung der Sanierung zustande. Vorausgegangen war ein Konzeptwettbewerb mit sechs Architekturbüros, der verschiedene Varianten von minimaler Eingriffstiefe bis zum Ersatzneubau ausgelotet hatte. Aus einem darauf aufbauenden Studienwettbewerb wurden schliesslich die beiden interessantesten Vorschläge der Büros Matti Ragaz Hitz Architekten und Architekt Rolf Mühlethaler zu einer Projektpartnerschaft vermählt, die vom März 2014 bis November 2015 die Sanierung des Scheibenhauses an der Waldmannstrasse 25 realisierte. Dieses Pilotprojekt dient nun auch als Grundlage für die Sanierung eines Scheibenhauses der Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz sowie weiterer Tscharnergut-Gebäude.

Neue Gebäudeschicht schafft mehr Wohnfläche

Inspiriert worden waren die Tscharnergut-Bauten vom weltberühmten Dreischeibenhaus der Phoenix-Rheinrohr AG in Düsseldorf. Die Innovation der Tscharnergut-Architekten bestand darin, das bis dato nur für Geschäftsgebäude gebräuchliche Scheibenkonzept für den Wohnungsbau nutzbar zu machen. Dies gelang nicht zuletzt dadurch, dass ostseitig jeweils zwei freistehende Treppenhaus- und Lifttürme an die Gebäude angelagert wurden, von denen aus die Erschliessung der Wohnungen mittels offener Laubengänge entlang der gesamten Fassade erfolgt. Bei der Sanierung der Waldmannstrasse 25 bestand die zentrale Herausforderung nun darin, im Innern die räumliche Enge der Grundrisse zu entschärfen, ohne äusserlich den Scheibenhauscharakter zu zerstören. Die Lösung des Architektenteams bestand darin, die Ostseite original zu erhalten und bloss die beiden Treppen- und Lifttürme von Grund auf neu zu bauen. Dadurch liessen sich die unbequemen Zwischengeschosse diskret eliminieren und durch komfortable Liftausgänge auf Höhe der Wohnebenen ersetzen. Die Westfassade wurde dagegen nach einer komplexen Kompromissfindung mit der Denkmalpflege vollständig entfernt. Anschliessend wurde über die gesamte Gebäudelänge eine neue, drei Meter tiefe Gebäudeschicht angebaut, die zusätzlichen Wohnraum schafst. Auf diese Erweiterung wurde eine völlig neue Fassade aufgebracht, die sich mit ihren Fertigbauelementen allerdings täuschend echt an der originalen Gebäudehülle orientiert.

Familien- und Seniorenwohnungen geschaffen

«Dank dieser Verbreiterung verfügt eine 3 ½-Zimmer-Wohnung nun über eine Fläche von 77 statt 66 Quadratmetern», bilanziert Walter Straub. Vergrössert wurden das Wohnzimmer, das Elternschlafzimmer und der Balkon, der nun in der warmen Jahreszeit als Essplatz genutzt werden kann. Keine Grundrissveränderung erfolgte dagegen in Küche, Bad und Kinderzimmer. «Bei der Nasszelle konnten wir immerhin eine grosszügigere Wirkung erzielen, indem wir die bisher aussenseitig angebrachte Lavabonische neu mit Toilette und Badewanne zu einem einzigen Raum zusammenführten», erklärt Walter Straub. Die ursprünglich geplante Zusammenführung von Koch-, Ess- und Wohnbereich scheiterte dagegen aus statischen Gründen. Ebenfalls keine Grundrissverbesserung habe man beim winzigen Kinderzimmer schaffen können. Um die Liegenschaft dennoch familienfreundlicher zu gestalten, wurde bei einem Teil der ursprünglich einheitlichen 3 ½-Zimmer- Wohnungen das Kinderzimmer jeweils der Nachbarwohnung zugeschlagen, die somit neu über zwei Kinderzimmer à je neun Quadratmeter Fläche verfügt. Dadurch entstanden 24 familienfreundliche 4 ½-Zimmer-Wohnungen sowie 24 Seniorenwohnungen mit zweieinhalb Zimmern – nebst 48 herkömmlichen 3 ½-Zimmer-Wohnungen. 

An der Westfassade wurde über die gesamte Gebäudelänge eine neue, drei Meter tiefe Schicht angebaut.

Teurer als Ersatzneubau

«Da sich der Mietpreis für eine 3 ½-Zimmer-Wohnung durch die Sanierung auf rund 1400 Franken verdoppelt hat, sind die etwas günstigeren 2 ½-Zimmer-Wohnungen insbesondere für unsere alteingesessenen Mieter attraktiv, da sie so den Mietaufschlag etwa abfedern können», erklärt Walter Straub. Sowieso sei es gelungen, für die bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner gute Lösungen zu finden, sei es durch Umzug innerhalb der Waldmannstrasse 25, die man etappenweise saniert habe, sei es durch den Wechsel in eine andere Tscharnergut- oder Fambau-Liegenschaft. Mehr Mühe als die Umquartierung der bestehenden Bewohnerschaft bereite die Vermietung der neuen Familienwohnungen. «Separate Küchen sowie winzige Kinderzimmer – davon träumt der Mittelstand heute nicht mehr», so Walter Straub. Sowieso ist man bei der Fambau mit der Sanierung nicht ganz glücklich. Einerseits liegen die Gesamtkosten mit 27 Millionen Franken relativ hoch. «Mit 280 000 Franken pro Wohnung haben wir so viel Geld in die Hand genommen wie für einen Ersatzneubau. Dennoch lässt nicht nur die Struktur der Wohnungen, sondern auch die Bausubstanz zu wünschen übrig», meint der Fambau-Chef und verweist auf folgende Mängel: Die Decken sind billig armiert und tendieren zum Durchhängen. Die Trennwände bieten keinen ausreichenden Schallschutz. Die Laubengänge an der Westfassade sind trotz dem Verzicht auf eine zusätzliche Aussendämmung zu schmal, um einen Rollstuhl bequem zu wenden. Und auch Energieefizienz, Erdbebensicherheit und Brandschutz entsprechen höchstens knapp den minimalen heutigen Anforderungen. Neue Lösungen nötig «Überspitzt gesagt haben wir denkmalgeschützte Mängel erhalten, statt neue Qualitäten zu schaffen. Trotz der hohen Investition wird diese schlechte Bausubstanz in dreissig Jahren am Ende sein», lautet Walter Straubs Urteil. Für die Fambau steht daher fest, dass man die übrigen beiden Tscharnergut-Scheibenhäuser nicht nach dem gleichen Strickmuster sanieren wird: «Stattdessen wollen wir noch dieses Jahr ein Gesuch für einen Ersatzneubau einreichen, der sich an der sanierten Waldmannstrasse 25 orientiert, aber die erwähnten Mängel eliminiert.»

Die sanierten Wohnungen verfügen dank der neuen Raumschicht über mehr Fläche. Vergrössert wurden Wohnzimmer, Elternschlafzimmer und Balkon.

Baudaten

Bauträgerin:

FAMBAU Genossenschaft, Bern

Architektur:

Matti Ragaz Hitz Architekten AG, Bern
Rolf Mühlethaler Architekt BSA SIA, Bern

Unternehmen:

Wirz AG (Baumeister)
Muesmatt AG (Fenster Holz/Metall)
Element AG (Fassaden)
B. Siegenthalter AG (Küchen)
Schindler Aufzüge AG (Aufzüge)

Umfang:

1 Wohnblock, 96 Wohnungen, Gesamterneuerung und Raumschichterweiterung innen und aussen

Baukosten:

27 Mio. CHF total
280 000 CHF/Wohnung

Mietzinsbeispiele:

3 ½-Zimmer-Wohnung alt (66 m2):
575 CHF plus 257 CHF NK
3 ½-Zimmer-Wohnung neu (89 m2):
1185 CHF plus 260 CHF NK
4 ½-Zimmer-Wohnung neu (100 m2):
1320 CHF plus 290 CHF NK

«Ich wage die Gegenprognose»

Das Tscharnergut gilt als städtebaulicher Wurf. Deshalb wolle man den Charakter von Quartier und Bauten bewahren, gleichzeitig aber Spielraum für eine zeitgemässe Sanierung schaffen, erklärt der Berner Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross.

Interview: Elias Kopf

Wohnen: Was macht das Tscharnergut zum schützenswerten Baudenkmal?

Jean-Daniel Gross: Die Überbauung ist eine städtebauliche Pioniertat: Zum ersten Mal wurde in der Schweiz nicht einfach eine «Schlafstadt» konzipiert, sondern ein Quartier mit eigenem Zentrum, Kindergärten und verkehrsfreiem Grünraum. Gleichzeitig besticht die Siedlung durch ihre formale Strenge mit den horizontal gegliederten Scheibenhäusern und den fünf Hochhäusern. Die Grundrisse der Wohnungen entsprachen damals modernsten Ansprüchen und sind noch heute vorbildlich. Es erstaunt daher nicht, dass das Tscharnergut von Architekturinteressierten aus der ganzen Welt besucht wird.

Wie gehen Sie mit dem Spannungsfeld zwischen Denkmalplfege und heutigen Ansprüchen ans Wohnen um?

Die Ansprüche des modernen Lebens sind bei der denkmalpflegerischen Arbeit immer zu berücksichtigen. Denn Bauten müssen genutzt, besser noch geschätzt werden, damit sie langfristig erhalten werden können. Daher geht es der Denkmalpflege darum, bei Umbauten oder Sanierungen die Spielräume aufzuzeigen, wie die wertvollen Zeugen der Baukultur unseren heutigen Bedürfnissen angepasst werden können. Sie dürfen dabei allerdings ihre wichtigsten Qualitäten und ihren Charakter nicht verlieren. Die Abwägung gelingt nur im Team mit den beteiligten Bauherrschaften, Architekten und Architektinnen.

Ein Knackpunkt bei der Sanierung der Tscharnergut-Scheibenhäuser sind die winzigen Kinderzimmer. Wieso hat hier der Denkmalschutz Vorrang vor Veränderungswünschen?

Es gibt grundsätzlich keinen Vorrang, sondern immer ein Abwägen. Um grosszügige Wohnungen zu schaffen, haben die Architekten vorgeschlagen, die Scheibenhäuser westseitig zu verbreitern. Damit konnten die Wohn- und Balkonbereiche der Scheibenhäuser heutigen mittelständischen Ansprüchen angepasst werden. Die Ostseite wurde hingegen nicht angetastet. Damit sind die Räume auf dieser Seite gleich gross geblieben. Ob diese als Kinderzimmer genutzt werden, wird die Mieterschaft selbst entscheiden.

Sie haben an der Waldmannstrasse 25 grünes Licht gegeben für die Umwandlung von 3 ½-Zimmer-Wohnungen in grössere Familienwohnungen und kleinere Seniorenwohnungen: Ist das Denkmal dadurch verstümmelt?

Keineswegs. Mit dem Pilotprojekt Waldmannstrasse 25 ist die Denkmalpflege zwar ans Limit ihrer fachlichen Möglichkeiten gegangen. Doch wie das Resultat zeigt, konnte nicht nur die Wohnqualität signifikant verbessert werden. Es wurden auch bauphysikalische und bautechnische Probleme gelöst, ohne dass Architektur und Siedlungsbild beeinträchtigt worden sind.

Wie stellen Sie sich zur Einschätzung, dass es bei den Scheibenhäusern aufgrund dünner Wände und Decken sowieso Ersatzneubauten brauche – wenn nicht heute, dann in dreissig Jahren?

Studien zeigen, dass Bauten desto schneller ersetzt werden, je jünger sie sind. Ich wage daher beim doch schon in die Jahre gekommenen Tscharnergut die Gegenprognose und kann mir gut vorstellen, dass der Wert dieser Architekturikone in dreissig Jahren noch viel stärker im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sein wird als heute.