Altersübergreifendes Wohnprojekt in Trogen (AR)

Generationen- statt Kräutermix

In der «Alten Drogerie» in Trogen hat die Baugenossenschaft Mehrgenerationen-Ost (MGP-Ost) ihr erstes Projekt verwirklicht. Weitere sollen bald folgen. Die Vision: Menschen aller Altersstufen leben gutnachbarschaftlich zusammen und unterstützen sich nach Kräften. Sie trifft offenbar den Nerv der Zeit – auch wenn nicht immer alles ganz im Sinne der Erfinder läuft.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Regina Kühne | April 2017

Reger Betrieb herrscht an diesem Dienstagmorgen nicht gerade. Weder am beschaulichen Bahnhof Trogen, wo die S21 nach kurven- und aussichtsreicher halbstündiger Fahrt von St. Gallen endet, noch in der Alten Drogerie etwas weiter unten. Der grosse Holzstrickbau aus dem 17. Jahrhundert steht mitten im Herzen der 1700-Seelen-Gemeinde, nur ein paar Schritte entfernt vom Landsgemeindeplatz, wo man(n) bis vor zwanzig Jahren noch regelmässig über die Geschicke des Kantons abstimmte. Der typische Appenzellerbau kann sich durchaus sehen lassen neben all den anderen stattlichen Häusern und Palästen der Textilbarone, die einst den Wohlstand in den Ort brachten: sieben Stockwerke hoch, frisch renoviert, blitzblanke Fassade, Butzenfenster im Erdgeschoss. Ein wahres Bijou. Und seit einem Jahr auch ein Mehrgenerationenwohnhaus. Wobei das gleiche Rezept gilt wie früher bei den Kräutertinkturen: Die richtige Mischung machts.

Neu oder altbekannt?
Nur eben: Just jetzt sind alle Bewohnerinnen und Bewohner ausgeflogen – ein kleines organisatorisches Missverständnis. Zwei der Frauen sind noch am Käfele auswärts, sie werden später zu uns stossen, erklärt der Präsident der Baugenossenschaft Mehrgenerationen-Ost, Bernhard Müller. Er und Claus Peter Täterow, Mitinitiant der Organisation, sitzen im getäferten Mehrzweckraum im Erdgeschoss und erzählen, wie es dazu kam, dass ausgerechnet in diesem traditionsreichen Stück Schweiz Generationenwohnen erprobt werden soll.
Oder vielleicht müsste man auch sagen: wiederbelebt. Denn eigentlich wohnten Menschen früher ganz selbstverständlich über mehrere Generationen hinweg zusammen – ob in dicht belegten städtischen Wohnungen, Grosshaushalten mit erweiterter Familie und Arbeitskräften oder Höfen mit Stöckli. So war auch immer jemand da, der nebenbei auf die Kinder schauen oder sich um die Betagten kümmern konnte. Erst in den letzten Jahrzehnten trennen sich die Lebensbereiche von Alt und Jung immer mehr und werden Kleinhaushalte zum Standard. So ist in der Schweiz der Anteil der über 80-Jährigen, die in einem Mehrgenerationenhaushalt leben, zwischen 1970 und 2010 von 15 auf gerade noch 2 Prozent gesunken. Heute wohnt in jedem dritten Haushalt nur eine Person, in grösseren Städten sogar in jedem zweiten. Gleichzeitig werden individuelle Lebensstile immer vielfältiger und wird die Bevölkerung immer älter.
Dass all das den gesellschaftlichen Zusammenhalt herausfordert, hat die Sozial- und Alterspolitik seit längerem erkannt. Gefragt sind Lösungen, die verschiedensten Bedürfnissen gerecht werden, gleichzeitig aber auch dem gesellschaftlichen Auseinanderdriften entgegenwirken. Das Thema beschäftigt auch Baugenossenschaften, zählen doch Solidarität, gutes Zusammenleben und Wohnraum für alle zu ihren Grundwerten. Kein Wunder also, gehören sie zu den Pionieren für Generationenwohnen und haben bereits einige wegweisende Projekte umgesetzt. Weitere sind in der Pipeline (siehe Box Seite 8), und unlängst wurde in Bern auch der «Förderverein Generationenwohnen» gegründet, um dem Thema dort Schub zu verleihen. Wobei Generationenwohnen nicht meint, dass vom Kleinkind bis zur Greisin alle Lebensalter vertreten sind, sondern dass Siedlungen so gebaut und organisiert sind, dass sie optimale Bedingungen für alle Altersstufen und Lebensformen bieten.

Bei der baubiologischen Sanierung wurde das Flair des alten Hauses erhalten, wie hier in einer der Küchen.

Lift und neue Balkone auf der Rückseite.

Der richtige Ort
Auch in der Ostschweiz tut sich etwas. Hier gehört MGP-Ost zu den treibenden Kräften. «Die Frage, wie man gute Wohnangebote für das Zusammenleben über Generationen schafft, hat mich als Architekt schon länger beschäftigt», erinnert sich Claus Peter Täterow. 2011 traf er bei einem Planungsauftrag mit einer Investorin und einer Konzeptentwicklerin zusammen, die sich ebenfalls fürs Thema interessierten. Man diskutierte und recherchierte und gründete bald schon den För­derverein Mehrgenerationen-Ost, um sich Gleichgesinnte ins Boot zu holen. Kurz darauf entstand das «MGP-Ost-Grund­konzept». Dieses hält fest, was ein ganzheitliches Generationenwohnprojekt auszeichnet: soziale Strukturen, die gute Nachbarschaft, gegenseitige Unterstützung und Selbst­organisation fördern; ein breiter Woh­nungsmix und gemeinsam nutz- und gestaltbare Räume und Aussenbereiche; eine gute Vernetzung ins Quartier durch einen aktiven Austausch und die Förderung von Arbeitsplätzen durch Gewerbe-, Atelier- oder Arbeitsräume.
Mit einem soliden Konzept gerüstet und zielstrebig gingen die Initianten rasch einmal auf die Suche nach geeigneten Objekten. Denn für die MGP-Ost, so Genossenschaftspräsident Bernhard Müller, war von Anfang an klar: «Wir wollten nicht einfach ein einzelnes Projekt realisieren, sondern Generationenwohnen in der ganzen Region etablieren.» Dank des guten Netzwerks stiess man bald auf einige interessante Liegenschaften. Zuoberst auf den Wunschzettel kam das Schloss Horn am Bodensee, ein bedeutendes und überaus schmuckes Baudenkmal mit Nebengebäuden und Umschwung, das 2012 zum Verkauf angeboten wurde. Die Aussichten schienen gut, der Besitzer geneigt, und so versuchte MGP-Ost mit Verve und grossem Aufwand, Baubewilligung, Finanzierung, Nutzungskonzept und Denkmalpflege unter einen Hut zu bringen. Dann kam das Projekt aus finanziellen Gründen allerdings ins Stocken; bis heute ist unklar, ob es realisiert werden kann.

Impressionen innen und aussen.

Mehr Miteinander
Wie am Schnürchen geklappt hat die Abwicklung dafür bei der Alten Drogerie in Trogen – obwohl sich die vom Förderverein MGP-Ost mittlerweile gegründete gleichnamige Genossenschaft in einem Bieterverfahren um die Liegenschaft bewerben musste. «Die Verkäufer müssen sich auf so ein Vorhaben einlassen wollen. Unser Konzept hat letztlich überzeugt», meint Claus Peter Täterow. Und so erhielt die Genossenschaft 2015 von der privaten Erbengemeinschaft den Zuschlag für das Gebäude, das zuvor mehrere Jahre praktisch leer gestanden hatte. Nach einem Umbau nach baubiologischen Kriterien, bei dem Charakteristik und Bausubstanz des Hauses weitgehend erhalten und gleichzeitig zeitgemässe Grundrisse geschaffen wurden, sind im Frühjahr 2016 die ersten Bewohnenden eingezogen.
Eine von ihnen ist Irene Fischbacher. Vom Kaffee zurück, hat sich die 63-Jährige zusammen mit Dorothee Bachmann vom MGP-Ost-Förderverein zu uns an den Tisch gesetzt und hört aufmerksam zu. Von Anfang an war sie am Projekt sehr interessiert. Der Wunsch nach mehr Miteinander war es, der sie vom nicht weit entfernten Teufen nach Trogen geführt hat. Denn, meint die seit sechs Jahren verwitwete Frau, deren Kinder längst ausgezogen sind: «Ich bin nicht der Typ zum Alleinwohnen.» Ihr habe die Vision gut gefallen, gemeinsam etwas zu unternehmen, füreinander da zu sein. Und da sie demnächst pensioniert wird, hat sie auch Zeit dafür. Nur, fügt sie zögernd an: «Die Wunschvorstellung ist nicht ganz aufgegangen.» Man habe halt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie häufig man gemeinsam etwas machen wolle und könne.

Wunsch und Wirklichkeit
Ein Grund dafür ist der Bewohnermix. Zwar gibt es in der Alten Drogerie sechs unterschiedlich grosse Wohnungen, bei der Vermietung hatte die MGP-Ost aber Pech: Zwei vom Projekt sehr überzeugte Familien mit Kindern mussten verzichten – beide Männer sind für die appenzelltypisch niedrigen Räume schlicht zu gross. Eine Mutter mit kleinem Sohn ist nach einem Jahr wieder zurückgekehrt nach Zürich, wo ihr Partner lebt. Andere Familien liessen sich nicht finden, und nachdem zwei Wohnungen mehrere Monate leer gestanden hatten, vergab man die eine schliesslich nach einer Verkleinerung einer Alleinlebenden und die andere einem Vater, dessen Kinder temporär bei ihm wohnen. Damit leben nun drei Pensionierte und drei Berufstätige in der Alten Drogerie. Letztere sind zeitlich wenig verfügbar. Immerhin, meint Irene Fischbacher, koche man ab und zu füreinander, und sie gehe regelmässig mit einer anderen Bewohnerin spazieren oder wie eben vorhin Kaffee trinken. Für eine Unterhaltung hat sie jetzt aber keine Zeit mehr – sie hat eine Aufgabe übernommen und muss noch das Bed-and-Breakfast-Studio herrichten, es wird ein Gast erwartet. Darum entschwindet sie in den ersten Stock.
Zeit auch für uns für einen Rundgang durchs Haus. Dank der behutsamen Sanierung hat es sein ursprüngliches Flair behalten. Schönes Täfer, kunstvoll gezimmerte Türen, originale Einbauschränke, breite Fensterfronten. Nur wo unbedingt nötig, wurden Dielen, Fenster oder Geländer ersetzt. Zeitgemässe Ergänzungen sind die modernen Badezimmer, ein angebauter Lift und Balkone, die schöne Ausblicke über die Hügel bis zum Bodensee erlauben. Sehr stimmig alles, und sogar das dezente Knarren der Böden wirkt genau richtig – heimelig, nicht aufdringlich. Auch für die Wohnungen, in die wir hineinschauen, gilt: alles charmant und sehr schön.
Wo es allerdings noch hapert, zeigt sich im Erdgeschoss, das wir zuletzt besichtigen. Es ist Nicht-Wohnnutzungen vorbehalten und umfasst drei Räume und eine grosse Küche. Gemeinschaftsraum und -küche nutzen die wenigen Bewohnenden allerdings kaum, und Bedarf nach einem Atelier oder Büroplätzen besteht derzeit auch bei niemandem. So wurden externe Gewerbemieter gesucht; demnächst wird als Erstes ein kleiner Bioladen mit Offenverkauf einziehen, der das Angebot im Dorf ideal ergänzt. Und eine Hobbynäherin richtet ihr Nähzimmer ein. Im Mehrzweckraum veranstaltet die MGP-Ost einmal pro Monat «soirées fixes», an denen Dorothee Bachmann Hausbewohner und externe Gäste bekocht. Die Architektin und Baubiologin hat den Umbau geplant und begleitet. Nun engagiert sie sich unter anderem bei der Bewirtschaftung des Bed-and-Breakfast-Studios. Dass die MGP-Ost stärker als vorgesehen beim Hausbetrieb eingespannt ist, findet sie nicht weiter schlimm. «Das gehört zum Lernprozess.»

Historisches Bild des ehemaligen "Kräuterhauses".

Ähnliche Erfahrungen
Lernen heisst es auch bei anderen Generationenwohnprojekten. Auch sie stehen immer wieder vor ähnlichen Herausforderungen: Wie erreicht man einen guten Altersmix? Wann funktionieren gemeinschaftliche Räume? Welche sozialen Strukturen braucht es – klappt es mit Selbstorganisation und Freiwilligkeit, wann ist Unterstützung seitens der Genossenschaft nötig? Einige Antworten bieten Studien etwa aus Wien oder zu zwei vielbeachteten Pionierprojekten, der 2012 bezogenen Siedlung Heizenholz in Zürich und der 2013 bezogenen Grosssiedlung Giesserei in Winterthur.
Als äusserst wichtig hat sich erwiesen, künftige Bewohnende aller Altersstufen bereits frühzeitig bei der Planung eines Projekts miteinzubeziehen. Je stärker sie ihr Wohnumfeld mitgestalten können, umso mehr identifizieren sie sich damit und engagieren sich auch später. Das erleichtert den Übergang von einer moderierten zu einer selbständigen Organisation des nachbarschaftlichen Zusammenlebens. Vor allem am Anfang braucht es genossenschaftliche Moderation; bei Bedarf sollte diese auch später zur Unterstützung bereitstehen. Im Heizenholz hat sich ein generationenübergreifendes Zusammenleben entwickelt, das weitgehend autonom funktioniert und wo man sich ganz selbstverständlich aushilft mit Kinderhüten, Kochen oder Einkaufen. Vertreten sind alle Altersklassen, auch wenn der angestrebte Anteil an Menschen über 55 nicht erreicht wurde. Dafür wohnen einige von ihnen in Clusterwohnungen und altersgemischten WGs, die gut eingespielt sind und bis jetzt nur wenige Wechsel erfuhren.

Steuerung ja – Zwang nein
Mit einer gezielten Vermietungspolitik kann bei der Wohnungsvergabe die Altersverteilung aktiv gesteuert werden. Bei der Giesserei wurden die gesteckten Ziele sehr gut erreicht. Auch dort funktioniert das nachbarschaftliche Zusammenleben und wird freiwillige Nachbarschaftshilfe erbracht.
Gezeigt hat sich überdies, dass gemeinschaftlich nutzbare Räume zwar wichtige Begegnungsorte darstellen; dafür müssen sie aber am richtigen Ort und von einer guten Aufenthaltsqualität sein – nur dann sucht man sie von selbst auf und bieten sich beiläufige Kontaktmöglichkeiten. Im Heizenholz hat sich die über alle Stockwerke führende gemeinsame Terrasse, an die die Wohnungen grenzen, als attraktiver und selbstverständlicher Begegnungsort bewährt. Bei der Giesserei spielen halböffentliche Räume wie das Treppenhaus oder der Innenhof eine ebenso wichtige Rolle wie Veranstaltungssäle, die Pantoffelbar oder einzelne Gewerbebetriebe, wo man sich trifft. Sollen Menschen bis ins hohe Alter in der Siedlung leben können, sind selbstredend eine hindernisfreie Gestaltung und eine gute Vernetzung mit externen Unterstützungs- und Pflegeangeboten nötig. An beiden Orten ist dies weitgehend gegeben.
Besonders heikel ist die Frage, ob Bewohnende verpflichtet werden sollen, sich zu engagieren, oder ob alles auf Freiwilligkeit beruht. Hat man sich im Heizenholz auf Letzteres geeinigt, muss in der selbstverwalteten Giesserei jede erwachsene Person eine bestimmte Anzahl an Stunden leisten, etwa für Garten- oder Hauswartungsarbeiten, und, wenn sie ihr Soll nicht erfüllt, eine Kompensation zahlen. Das allerdings führte zu Konflikten zwischen den Altersgruppen, weil Jüngere deutlich weniger Zeit investieren. Auch andere Untersuchungen kommen zum Schluss, dass Generationenwohnen oft vor allem einem Wunsch von älteren Menschen entspricht und sie bereit sind, viel einzubringen, Jüngere aber andere Prioritäten – und zeitliche Möglichkeiten – haben. Soll das altersübergreifende Wohnen also nicht in Enttäuschung münden, braucht es Verständnis und Toleranz für verschiedene Vorstellungen und Prioritäten.

Es braucht viel Toleranz
Toleranz – dieses Wort ist auch heute mehrmals gefallen. Diese sei nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Generationen nötig, stellt Claus Peter Täterow mit Blick auf die sich erst langsam bildende Gemeinschaft in der Alten Drogerie fest. Er gibt sich aber gelassen. Nicht in jedem Gebäude sei alles möglich – das Zusammenspiel von Lage, Grösse und baulicher Gestaltung spielt ebenso eine Rolle wie die beteiligten Menschen. Sicher noch besser klappen mit der Durchmischung wird es jedenfalls bei den beiden nächsten, bereits weit fortgeschrittenen Projekten von MGP-Ost im Raum St. Gallen: Eine Gewerbeliegenschaft in Rehetobel wird einen guten Nutzungsmix mit Gewerbe und elf Wohnungen ermöglichen. Und in einem zum Mehrfamilienhaus umgebauten Chalet in der stadtnahen Notkersegg werden Singles und Familien einziehen, die sich bereits kennen gelernt haben und daran sind, sich mit wohnungsübergreifenden Nutzungsplänen zu organisieren.
Auch Genossenschaftspräsident Bernhard Müller ist überzeugt, dass das Konzept taugt und künftig auch in der Ostschweiz zur Selbstverständlichkeit wird. Am Anfang hätten schon komische Vorstellungen herumgegeistert, jetzt aber sei die Alte Drogerie akzeptiert im Dorf. Er muss schmunzeln. Aussprüche wie «Mached ihr dänn e Kommune?» jedenfalls seien mittlerweile nicht mehr zu hören.
www.mgp-ost.ch