Stadtbaurätin Elisabeth Merk über die Münchner Wohnpolitik

«Wir können den Genossenschaften nicht alles aufs Auge drücken»

München wächst – und verzeichnet gleichzeitig eine enorme Steigerung der Bodenpreise. Die Wohnpolitik zielt deshalb nicht nur auf einkommensschwache Personen ab. Vielmehr will man auch die Mitte der Gesellschaft in der Stadt halten. Dafür setzt die öffentliche Hand insbesondere auf die Genossenschaften. Trotz verschiedenen Grossprojekten und einem Fördertopf, der mit 1,1 Milliarden Euro gefüllt ist, konstatiert Stadtbaurätin Elisabeth Merk: Alle Massnahmenpakete sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

Interview: Claudia Thiesen | Bilder: Michael Heinrich, zVg | Mai 2017

Wohnen: Sie sind in München als Stadtbau­rätin für den Bereich Wohnungsbau verantwortlich. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie?

Elisabeth Merk: Uns beschäftigt vor allem das Thema, genügend bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen für eine wachsende Bevölkerung. München hat stetige positive Wachstumsprognosen. Die Metropolregion, also Stadt und Umland, wird bis 2030 um 250 000 Menschen und entsprechend viele Arbeitsplätze anwachsen.

Wie reagieren Sie auf diese Prognose?

Wenn wir über Stadtentwicklung und Wohnraum sprechen, wird es immer wichtiger, regional zu denken. In Deutschland haben Kommunen grosse Autonomie und Planungshoheit. Nur wenige Teile der Raumordnung werden interkommunal geregelt. Wir suchen seit mehreren Jahren verstärkt Kooperationen mit den Gemeinden im Umland. Dazu haben wir mehrere Bündnisse entwickelt, und jedes Jahr findet die regionale Wohnbaukonferenz statt. Dort bestimmen wir gemeinsam die Schlüsselfaktoren. Eine grosse Stellschraube für bezahlbares Wohnen ist nebst der Mobilität die soziale Infrastruktur. Es reicht eben nicht, einfach Wohnungen zu bauen, sondern es braucht auch neue Schulen, Kindergärten usw. Aus diesem Grund sehen viele Gemeinden im Umland keinen Handlungsbedarf, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, denn sie müssten ebenfalls in ihre Infrastruktur investieren. Das heisst, jeder neue Einwohner generiert erst einmal Kosten. Die Zeiten wie die 1970er Jahre, wo jede Kommune wachsen wollte und dafür einfach neues Bauland ausgewiesen hat, sind vorbei.

München ist bekannt für weitreichende Förderprogramme zur Erhaltung der «Münchner Mischung», also sozial durchmischter Stadtquartiere.

Ja, seit Jahren bauen wir unsere wohnungspolitischen Handlungsprogramme aus. Aktuell stehen mit «Wohnen in München VI» 850 Millionen Euro städtische Eigenmittel zur Verfügung. Wenn wir die 250 Millionen Sonderprogramme und entgangene Einnahmen durch vergünstigte Grundstücke einbeziehen, kommen wir auf 1,5 Milliarden Euro Finanzpower, das ist schon eine grosse Nummer. Die unterschiedlichen Förderprogramme sind im Detail relativ kompliziert. Sie unterscheiden nach Miete oder Eigentum und sind abgestuft nach Einkommensgrenzen. Das Programm «Wohnen für alle» wurde vor einem Jahr vom Stadtrat verabschiedet und sieht den Bau von rund 3000 Wohnungen innerhalb von vier Jahren für einkommensschwache Gruppen vor. Aber das Hauptziel ist, die Mitte der Gesellschaft in der Mitte der Stadt zu halten. Deswegen richtet sich die Förderung an mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung. Grund ist die extreme Bodenpreisentwicklung, die es auch für den Mittelstand schwer macht, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wichtig ist auch das Instrument «sozialgerechte Bodennutzung» (Sobon), mit dem Grundeigentümer zwei Drittel ihres Gewinns in Infrastruktur investieren müssen, sich also an den Folgekosten der Planung beteiligen.

Elisabeth Merk, Prof. Dr. (I), Architektin und Stadtplanerin, ist seit 2007 Stadt­baurätin und Leiterin des Referates für Stadtplanung und Bauordnung in München. Die gebürtige Regensburgerin leitete von 2000 bis 2006 den Fachbereich Stadtentwicklung und Stadtplanung in Halle/Saale, wo sie mit den Themen Abwanderung und schrumpfende Stadt konfrontiert war. Seit 2009 ist sie Honorarprofessorin an der Hochschule für Technik in Stuttgart.

Viele Grossstädte können rein mit Neubau­tätigkeit das Wohnungsproblem nicht lösen, weil gleichzeitig grosse Bestände aus der Mietpreisbindung fallen. Damit können Eigentümer die Mietzinse neu festlegen und verdrängen alteingesessene Mieter.

Das ist in der Tat ein riesiges Problem. Viele Projekte aus dem Wachstumsschub der 1970er Jahre entfallen nun aus der Bindung. Wir reden hier von 18 000 Wohnungen. Mit dem Instrument «Konzeptioneller Mietwohnungsbau» zielen wir auf das frei finanzierte Segment. Die Grundstücke werden zum Verkehrswert, also nicht zum Marktwert, abgegeben, aber mit einer langen Mietpreisbindung von 60 Jahren statt der üblichen 25 ausgeschrieben. Das ist für private Investoren wenig attraktiv, aber für Genossenschaften erwächst hier ein zusätzliches Feld.

Profitieren denn Genossenschaften von besseren Konditionen bei der Vergabe von Land?

Sie profitieren grundsätzlich von grösseren Flächenkontingenten, denn der Stadtrat hat beschlossen, 20 bis 40 Prozent der freiwerdenden Flächen privilegiert an Genossenschaften zu vergeben. Entscheidend sind gute Konzepte, die Schwerpunkte bestimmen die Genossenschaften. Das können beispielsweise autofreie Siedlungen, Frauenwohnen oder nachbarschaftsbasierte Konzepte sein. Momentan arbeiten wir an Ausschreibungen für 2500 Wohneinheiten, die für genossenschaftliches Bauen reserviert sind. Wir bewundern die Projekte in der Schweiz und sehen da einen grossen Motor. Daher gibt es auch seit 2015 die Mitbauzentrale, eine Beratungsstelle für gemeinschaftsorientiertes Wohnen.

Können Sie mit diesem doch recht umfangreichen Massnahmenpaket das Problem lösen?

Natürlich ist das alles ein Tropfen auf den heissen Stein. Das klingt immer alles so toll. Aber wir haben ein echtes Problem, genügend Wohnungen zu bringen, obwohl jährlich 6000 bis 8000 Wohnungen gebaut werden. München wächst stetig, und der Wohnraumbedarf steigt auch pro Person. Ich habe neulich ein dickes, handgeschriebenes Manifest gefunden im Schrank: «Der Münchner Wohnungsbau II» von 1963, und, ehrlich gesagt, ich hätte es abschreiben können. München hat eine lange Tradition von Stadtentwicklung und Stadtplanung. Aber wir sind immer hinterher. Das, was viele sich wünschen, schaffen wir schlichtweg nicht, und das hat klar mit einer Frage zu tun, die damals schon aktuell war: der Bodenrechtsfrage. Und die ist nicht in der Hoheit der Städte oder Länder, sondern des Bundes. Aber für grundlegende Änderungen gibt es trotz politischem Druck der Städte keine politischen Mehrheiten.


«Hauptziel ist, die Mitte der Gesellschaft in der Mitte der Stadt zu halten.»


Welchen Umgang pflegt München mit seiner Ressource Boden, und wie sieht es mit Reserven aus?

Die Stadt München hat über 20 bis 30 Jahre relativ erfolgreich versucht, mit der Ressource Boden umzugehen. Wir haben im grossen Stil ein Flächenrecycling hinter uns, alle freien Bahnflächen sind heute Wohngebiete. Alle aufgegebenen Kasernenflächen haben wir umgewandelt in Mischgebiete mit Wohnen und Arbeiten. Die letzten Kasernenflächen bebauen wir gerade. Aber in der Metropolregion München, also im Bundesland Bayern, gibt es durchaus noch grosse Areale, die als Auslieferungslager von Coca Cola oder Amazon genutzt sind, und die könnten natürlich sehr gut entwickelt werden, wenn die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr verbessert würde. Daher werben wir ja auch für eine stärkere Raumordnung auf Länderebene.

Gibt es Bemühungen, den städtischen Anteil zu erhöhen durch Umzonungen oder Land­erwerb?

Ich bin seit zehn Jahren Stadtbaurätin. Als ich kam, 2007, das war noch vor der Finanzkrise, hat die Stadt Grundstücke verkauft. Das ist vorbei. Wir geben nur noch im Erbbaurecht ab. Obwohl das von Genossenschaften nicht nur begrüsst wird auch aufgrund der niedrigen Zinsen für Kredite, die derzeit den Kauf von Bauland erleichtern. Aber die Stadt möchte sich diese Eingriffsreserve erhalten. Und wir gehen noch weiter: Das deutsche Baugesetz ermöglicht die sogenannte städtebauliche Entwicklungsmassnahme. Dort können wir den Bodenpreis einfrieren. Zwar müssen wir dann das Gebiet auch beplanen und mit den Eigentümern verhandeln, denn Enteignung wäre Ultima Ratio, die eigentlich nicht durchsetzbar ist, aber wir können Spekulationsprozesse verhindern und Eigentümer dazu bringen, zu kooperieren. Wir stellen vermehrt fest, dass Flächen, die lange überhaupt kein Thema waren für Spekula‑
tion, zum Beispiel im Grüngürtel rund um München, nun gekauft werden mit der Hoffnung, dass dort vielleicht irgendwann Bauland ausgewiesen wird. Wir versuchen in zwei Gebieten im Norden und Osten der Stadt mit der oben erwähnten Massnahme dagegenzuhalten.

Die Stadt Zürich stellt bei der Vergabe von Baurecht auch Bedingungen zu Energiestandards. Ist das in München ähnlich?

Wir schreiben zwingend Mobilitätskonzepte vor, auch Nachbarschafts- und soziale Massnahmen. Und natürlich gibt es energetische Auflagen in Form eines ökologischen Kriterienkatalogs. Doch ich denke, wir haben hier ein Limit erreicht, und es macht keinen Sinn, mit einem nur noch geringen Wirkungsgrad die Gebäude immer weiter energetisch zu optimieren. Auf dem Areal der Prinz-Eugen-Kaserne experimentieren wir deswegen mit Holzbau und tun etwas für Nachhaltigkeit und Ästhetik. Für 500 Wohnungen besteht die Auflage «Holzbau». Hier arbeiten wir mit der TU München und der Ruhruniversität Bochum zusammen. Der Stadtrat hat 13,6 Millionen Euro für die Bezuschussung der Holzbauweise bereitgestellt. Anfangs herrschte grosse Skepsis, jetzt stellen wir in den Ausschreibungen fest, dass die Bauträger tolle Holzbaukonzepte vorschlagen.

Zürich hat von der Bevölkerung den Auftrag, den Anteil gemeinnütziger Wohnungen von 25 auf 33 Prozent zu erhöhen, wobei Genossenschaften eine wichtige Rolle spielen.

Der Marktanteil in München beträgt zwischen acht und zehn Prozent. Die traditionellen Genossenschaften wurden alle um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts gegründet, haben sich in den letzten zwanzig Jahren aber nicht gerade durch grosse Innovationen ausgezeichnet. Aber es gab einige Neugründungen, die bekanntesten sind Wogeno und Wagnis e.G., die mit ihren Projekten über München hinaus Schule machen. Die Stadt möchte das neue genossenschaftliche Bauen ganz stark fördern und strebt einen Marktanteil von dreissig Prozent an.

Sehen Sie die jüngeren Genossenschaften auch als Akteure einer nachhaltigen Stadt­entwicklung?

Auf der Bezugsgrösse Stadtquartier können Genossenschaften einen Mehrwert schaffen. Sie haben ein rechtlich basiertes System von Mitbestimmung und Verantwortung. Sie generieren gute soziale Mischungen. Konzepte und Qualität sichern wir juristisch über städtebauliche Verträge ab und können deswegen auch anders fördern. Genossenschaften bieten Möglichkeiten, sich zu engagieren, was Individuen in einer Stadtgesellschaft eigentlich wollen, aber nicht attraktiv finden, wenn es traditionell organisiert ist wie in Vereinen.


«Ich werbe sehr dafür, auch mal Informelles zu wagen.»


Bei der Entwicklung grösserer Areale setzen Zürcher Genossenschaften zunehmend auf Kooperationen, auch um Risiken abzufedern oder voneinander zu profitieren.

Ich sehe einen wirklichen Innovationsschub bei zwei Themen: Wir wollen die Traditionsgenossenschaften dazu bringen, mit Jungen, Innovativen in Kooperationen einzusteigen. Die alten Genossenschaften haben ja Bestände, das heisst Grund und Boden. Aber sie haben nicht das Know-how, neu zu bauen, und scheuen das Risiko. Landgabe ermöglicht den Jungen eine sichere Finanzierung, die Traditionellen verjüngen sich. Am Anfang haben sie das kritisch beäugt, aber so langsam bewegt sich etwas. Die zweite Schiene ist der Einbezug der grossen Unternehmen, wie BMW oder Siemens, oder auch von Mittelständlern, die für ihre Arbeitenden Wohnungen suchen. Die wollen wir ins Boot holen, indem sie sich an einer Genossenschaft beteiligen.

Gibt es bereits Modellprojekte?

Eins der interessantesten Pilotprojekte entsteht zurzeit auf der Fläche der Prinz-Eugen-Kaserne. Für die 1800 Wohnungen haben sich ohne Zutun der Stadt Genossenschaften, die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sowie private Investoren und Baugemeinschaften zusammengeschlossen und als Konsortium gemeinsam beworben. Sie erarbeiten Konzepte für Mobilität und Nachbarschaft, die eine Genossenschaft allein nicht entwickeln kann. In der Quartierentwicklungsidee steckt meiner Meinung nach viel Potential, und deswegen halte ich dieses Konsortiumsmodell für verfolgenswert und kann mir vorstellen, dafür in Bebauungsplänen mehr Spielraum zu lassen.

Die Genossenschaften übernehmen Aufgaben der Kommune und mehr Verantwortung als private Investoren?

Schon, aber wir können Genossenschaften auch nicht alles aufs Auge drücken, was der Rest der Welt nicht hinkriegt. Wir haben ja auch noch nicht so viele Projekte, dass das schon eine kritische Masse wäre. Seit den 1970er Jahren bauen wir dezentrale Sozialversorgungseinrichtungen, das heisst, wir haben mittlerweile in fast allen 25 Stadtbezirken Sozialbürgerhäuser, Kulturbürgerhäuser oder Bil­dungs­einrichtungen, und die decken viele Bedürfnisse ab. Ich bin der Meinung, dass wir den Genossenschaften die Freiheit geben müssen, das zu tun, was sie wollen, denn so entsteht Vielfalt. Und natürlich können sie nicht die normalen Aufgaben einer Kommune übernehmen. Aber sie unterstützen uns. Sie nehmen uns aber auch in die Pflicht. Die Prozesse mit Wagnis e. G. waren ja auch nicht immer nur Kuschelkurs, die haben sich auch hart an uns abgearbeitet. Nicht weil wir halsstarrig sind, sondern weil wir viele bürokratische Hürden erst mal beiseiteschaffen müssen. Ich habe aber schon den Eindruck, dass wir lernfähig sind und versuchen, die Rahmenbedingungen flexibler zu halten, so dass auch mehr möglich wird. Zumindest sehe ich das als unsere Aufgabe. Ob es gelingt, ist dann nochmal eine andere Frage.

Wenn Sie auf Ihre bisherige Arbeit zurückblicken und gleichzeitig einen Blick in die Zukunft wagen, wodurch wird Ihre Ära der Stadtentwicklung geprägt sein?

In den letzten zehn Jahren ging es sehr stark um die Frage, wie Stadtgestaltung, öffentlicher Raum oder Mitgestaltung noch einmal eine andere Qualität erreicht. Ich werbe sehr für andere Formen, dafür, auch mal Informelles zu wagen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Rahmenplänen, die rechtlich gar nicht so tragfähig sind. Und dafür, dass Städtebau in regionaler Kooperation funktionieren muss. Die gesellschaftlichen Tendenzen haben schon den Fokus der Idee von sozialer Stadt, in der nicht nur Infrastruktur, sondern auch soziale Mitbestimmung wesentlich ist. Aber es ist schon ein dickes Brett, das wir da bohren. Wie erfolgreich wir sind, dürfen dann meine Nachfolger beurteilen.