Coopérative Narcisse Jaune in Biel erstellt Wohnpark Les Amis

Ein Modellprojekt fällt nicht vom Himmel

Ein wahrer Kraftakt war nötig, um das erste grosse genossenschaftliche Ersatzneubauprojekt im Raum Bern in die Tat umzusetzen. Die Tradi­tionsgenossenschaft Mettlenweg in Biel gründete dafür die Coopérative Narcisse Jaune und stellte die Finanzierung sicher, indem sie einen privatwirtschaftlichen Partner ins Boot holte. Der Wohnpark Les Amis punktet mit hoher Bauqualität, einer buntgemischten Bewohnerschaft und einem innovativen Dienst­leistungsangebot.

Von Richard Liechti | Bilder: Martin Bichsel | November 2016

Erich Fehr ist begeistert. Von der «qualité urbaine» schwärmt der Bieler Stadtpräsident, von der «mixité» der Bewohnerschaft, von der Aufwertung eines ganzen Stadtteils. Wir schreiben den 10. September 2016, Tag der offenen Tür im Wohnpark Les Amis, wo die ersten Häuser bald bezogen werden. Mit 138 Wohnungen ist er das grösste genossenschaftliche Ersatzneubauprojekt im Kanton Bern und besitzt gerade für die Genossenschaftsstadt Biel Vorbildcharakter, ist der Erneuerungsbedarf hier doch gross. Die Stadt stelle sich zwar hinter die Baugenossenschaften, versichert Erich Fehr. So habe sie kürzlich ein verbindliches Reglement für die künftige Zusammenarbeit genehmigt. Doch erwachse den Genossenschaften daraus eine Mitverantwortung, indem sie ihre Bauten kontinuierlich den neuen Bedürfnissen anpassten. Der Wohnpark Les Amis sei deshalb modellhaft. «So stellen wir uns in Biel die Erneuerung des gemeinnützigen Wohnungsbaus vor», schliesst der Stadtpräsident.

Hohe Sanierungskosten

Eine solche Erneuerung ist allerdings kein Sonntagsspaziergang und erfordert bisweilen unkonventionelle Lösungen. Niemand weiss das besser als Theodor Strauss, Präsident der Baugenossenschaft Mettlenweg, die das Ersatzvorhaben vor gut zehn Jahren ins Rollen brachte. Die Genossenschaft ist in mancher Beziehung typisch: 1949 gegründet, erstellte sie in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren im Quartier Mett drei Überbauungen. Nach der Renovation der beiden kleineren Etappen stellte sich die Frage, was mit der grössten und ältesten Siedlung am Narzissenweg passieren sollte. Die 154 Wohnungen in den einfachen Häusern waren zwar günstig, entsprachen aber weder von der Grösse noch vom Komfort her den heutigen Bedürfnissen. Sorgen bereitete zudem der hohe Heizölverbrauch.
2008 liess die Genossenschaft deshalb von einem renommierten Architekturbüro eine Machbarkeitsstudie ausarbeiten. Sie kam zum Schluss, dass die gemeinnützigen Ziele nur mit Ersatzneubauten auf nachhaltige Weise erreicht werden könnten. Dabei würden die Kosten nur rund 15 Prozent über denjenigen einer Totalsanierung liegen. Dies gab den Ausschlag: 2010 schrieb die Genossenschaft unter sechs Architekturbüros einen Studienauftrag für ein Ersatzneubauprojekt aus. Der Entwurf des bekannten Bieler Büros :mlzd überzeugte sowohl architektonisch als auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit, die gemeinschaftlichen Elemente und – last, not least – die Wirtschaftlichkeit (siehe Separatkasten).

Der Wohnpark Les Amis liegt im Bieler Quartier Mett. Die sechs Häuser der ersten Etappe sind weitgehend fertiggestellt, bei der zweiten Etappe (links von den Neubauten) wird es 2018 soweit sein.

Kein Risiko für bisherige Mitglieder

Nun galt es, wichtige Fragen zu klären. Verfügte die Genossenschaft über das nötige Know-how, um ein solches Grossprojekt abzuwickeln? Würde sie eine Investition von rund fünfzig Millionen Franken bewältigen können? Auf der positiven Seite war zu verbuchen, dass ihr das Land selbst gehörte und es sich nicht um ein städtisches Baurecht handelte, wie dies in Biel häufig ist. Allerdings hatten die bisherigen tiefen Mietzinse die Bildung von Rückstellungen kaum zugelassen. «Uns wurde schon früh klar, dass wir für den Neubau einen finanzkräftigen und bauerfahrenen Partner brauchen», fasst Theodor Strauss die damaligen Über­legungen zusammen.
Unter dem Dach der bisherigen Genossenschaft wäre eine solche Kooperation allerdings kompliziert geworden. Hinzu kam, dass man die Mitglieder, die in den beiden anderen Siedlungen leben, keinem finanziellen Risiko aussetzen wollte. Deshalb beschloss man, für das Ersatzprojekt eine neue Trägerschaft zu gründen, die Co­opérative Narcisse Jaune. Der entsprechenden Vermögensübertragung stimmten die Mitglieder 2012 zu. Sie waren nicht nur frühzeitig über die Pläne informiert worden, sondern hatten bei der Ausarbeitung des Neubauprojekts mitbestimmen dürfen.
Kaum Probleme bereitete die Umsiedlung der vom Ersatz betroffenen Mieterschaft. Viele fanden selbst eine Lösung, gibt es im Genossenschaftsquartier Mett doch viele bezahlbare Wohnungen. Dreissig Mietparteien entschieden sich dafür, in die Neubauten zu wechseln. Sie erhalten dort einen Vorzugszins, so dass der Aufschlag bei rund fünfzig Prozent liegen wird und die neue Wohnung mit vergleichbarer Grundfläche nicht mehr als tausend Franken kostet. Diese Konzession sei vertretbar, hält der Genossenschaftspräsident fest, handelt es sich doch vor allem um ältere Menschen, so dass die Vergünstigungen in absehbarer Frist auslaufen werden. Die Etappierung – die erste Hälfte wird 2016 fertig, die zweite 2018 – erleichtert die internen Umzüge.

Situationsplan der Gesamtsiedlung, die erste Etappe umfasst die sechs Häuser rechts mit insgesamt 66 Wohnungen.

Privatinvestor mit langfristigem Horizont

Schwieriger gestaltete sich die Suche nach dem geeigneten Partner. Da die benachbarten Genossenschaften mit der Weiterentwicklung der eigenen Siedlungen ausgelastet waren, weitete man den Kreis für die potenzielle Zusammen­arbeit bald auf privatwirtschaftliche Unternehmen aus. 2012 schloss die Genossenschaft schliesslich einen Gesellschaftsvertrag mit der Espace Real Estate AG ab, einer Immobilien­investorin, die im Raum Biel-Solothurn verankert ist. Eine Partnerschaft zwischen einer gemeinnützigen Genossenschaft und einem gewinnorientierten Investor ist ungewöhnlich. Theodor Kocher, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Espace, nennt einen einfachen Grund für das Engagement: Wohnungen in diesem Segment werde es immer brauchen. Wegen der langen Lebensdauer der Bauten sei die Investi­tion somit für seine Firma nachhaltig. Überzeugt habe zudem das Konzept des Wohnens mit Dienstleistungen.
Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus? Die Espace erwarb die Hälfte des Baulands von der Genossenschaft. Dies war der entschei­d­ende Faktor, um das nötige Eigenkapital aufzubringen. Einen Beitrag leistete auch die staatliche Wohnbauförderung aus dem Fonds de Roulement. Narcisse Jaune und Espace übernehmen jeweils die Hälfte der Wohnungen. Alle Mieterinnen und Mieter werden Genossenschaftsmitglieder, so dass sie in gleicher Weise von den genossenschaftlichen Dienstleistungen profitieren. Die Genossenschaft verwaltet alle Wohnungen. Sie wird im Neubau eine Geschäftsstelle einrichten, die ebenfalls den Bestand der Baugenossenschaft Mettlenweg betreut.

Dank den leicht geknickten Decken sind in den Mansardengeschossen besonders stimmungsvolle Räume entstanden.

Die offenen Küchen bilden das Zentrum der Wohnungen.

Grundriss einer 4 ½-Zimmer-Wohnung (106 m²).

Rückstellungen statt Gewinne

Die Anfangsmieten sind identisch – und sollen sich auch ähnlich entwickeln. Während die Espace den Gewinn für die Dividendenzahlung einsetzt, wird Narcisse Jaune Abschreibungen vornehmen und Rückstellungen bilden. Den gleichen Fehler wie die Vorväter will man nicht machen: «Wir legen von Anfang an Geld für eine grosszyklische Investition auf die Seite, so dass die nächste oder übernächste Generation die Mittel hat, um wieder zu bauen», erklärt Theodor Strauss. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: Im Gegensatz zu Zürich unterliegen Einlagen in einen Erneuerungsfonds im Kanton Bern der Besteuerung.
Bei den Mieten liegt man zehn bis fünfzehn Prozent unter dem Marktpreis, der in Biel tiefer ist als in den meisten Schweizer Städten. Angestrebt wird eine breite Durchmischung der ­Bewohnerschaft, wobei nach jetzigem Vermietungsstand die Zweieinhalb- und Dreieinhalbzimmerwohnungen gefragter sind und bei den Familien noch Aufholbedarf besteht. Das Quartier Mett ist zwar keine Vorzugslage, jedoch gut an den öffentlichen Verkehr angeschlossen und mit Schulen und Läden versorgt. Zudem werden im Umfeld neue Arbeitsplätze geschaffen, so dass der Bedarf an modernen Wohnungen steigt.

Der Einbau von Duschen stellt die Tauglichkeit für alle Generationen sicher.

Grosszügige Terrassen runden das Angebot ab.

Den Alltag erleichtern

Das Wohnen ist im Wohnpark Les Amis aber nur das eine. Mit einer Palette von Dienstleistungen will man den Bewohne­rinnen und Bewohnern den Alltag erleichtern. Die Familien werden besonders die Kinder­betreuung schätzen, während sich Angebote wie Mittagstisch, Wohnungsreinigung, Einkaufshilfe oder Fahrdienst an alle Bewohnerinnen und Bewohner wenden. Ein Gemeinschaftsraum, den man hier «Weltraum» nennt, soll zum Treffpunkt für Gross und Klein werden. Zur Verfügung stehen ausserdem ein Fitnesssalon, ein zentraler Waschsalon sowie zumietbare Gästezimmer. Trotzdem umfassen die Gemeinschaftsflächen mit rund 500 Quadratmetern nur etwa drei Prozent der Gesamtfläche.
Die Genossenschaft will die Dienstleistungen kostendeckend betreiben und in Eigenregie anbieten. Sie schafft dafür rund 150 Stellenprozente, hofft aber, dass die Mieterinnen und Mieter auch selbst die Initiative ergreifen und beispielsweise beim Mittagstisch helfen. Um nicht in Konflikt mit regulatorischen Vorschriften zu kommen, wie sie etwa für Kinderkrippen gelten, will man das Angebot nicht für einen weiteren Kreis öffnen. Wie es sich entwickelt, muss sich zwar noch weisen. Eines aber ist sicher: Der Pioniercharakter, den der Stadtpräsident derart lobt, gilt für den Wohnpark Les Amis in mehr als einer Hinsicht.

www.lesamis-biel.ch

Baudaten

Bauträgerinnen:

Coopérative Narcisse Jaune, Biel
Espace Real Estate AG, Solothurn

Architektur:

:mlzd, Biel

Baumanagement:

b+p Baurealisation AG, Bern

Unternehmen (Auswahl):

Sterki Bau (Baumeister)
Beer Holzbau AG (Fassade in Holz)
Ego Kiefer AG/Widmer Metallbau AG
(Fenster)
Sabag (Küchen)
Kone (Schweiz) AG (Aufzüge)

Umfang:

12 Häuser, 138 Wohnungen, Gästezimmer, 500 m² Gemeinschaftsfläche (Gemeinschaftsraum, Waschsalon, Spielgruppe, Mittagstisch, Fitness, Gästezimmer), Büro (Verwaltung), Werkstatt (Hauswarte)

Baukosten (BKP 1–5):

40,6 Mio. CH total
3160 CHF/m² HNF (ohne Parkierung)

Mietzinsbeispiele (2. OG):

2 ½-Zimmer-Wohnung (58,4 m²):
ab 1190 CHF plus 170 CHF NK
3 ½-Zimmer-Wohnung (87,3 m²):
ab 1490 CHF plus 210 CHF NK
4 ½-Zimmer-Wohnung (106,2 m²):
ab 1790 CHF plus 250 CHF NK

Mansardengeschosse schaffen mehr Wohnraum

Manche Genossenschaft hat sich schon geärgert, weil sie das oberste Geschoss eines Neubaus nur als Attika nutzen darf und damit Wohnfläche verliert. In Biel dagegen sind auch sogenannte Mansardengeschosse erlaubt. «Eigentlich ist das ein Dachausbau, wie man ihn auch vor hundert Jahren gemacht hat», erklärt Marlies Rosenberger, die beim Architekturbüro :mlzd für das Projekt Wohnpark Les Amis verantwortlich ist.
Daraus sei die Idee entstanden, die Längsfassaden mit ihrer senkrecht gewellten Eternitverkleidung sozusagen über das Dach zu ziehen. Dies wird möglich, weil sich der Faserzement sowohl für die Fassade als auch für das Dach eignet. Dieses weist nur eine geringe Schräge auf, so dass im obersten Geschoss vollwertige Wohnungen entstehen, die dank den erhöhten, leicht geknickten Decken eine besondere Qualität bieten.

Vorteilhafte Hybridbauweise

Die zwölf Häuser werden in Hybridbauweise erstellt: Die Stirnfassaden mit ihrer Betonoptik besitzen einen zweischaligen Aufbau aus Mauerwerk und Beton mit dazwischenliegender Dämmung. Die Längsfassaden bestehen aus einer hinterlüfteten Holzkonstruktion, die mit Eternit verkleidet ist. Die Wohnungstrennwände sowie die Decken sind aus akustischen Gründen in massiver Bauweise erstellt worden. Dies hat auch energetisch Vorteile, können sie doch als Speichermasse aktiviert werden. Dank dieser Hybridbauweise kommt der nachhaltige Werkstoff Holz zum Einsatz. Sie sei technisch zwar aufwändiger, hält die Projektleiterin fest, berge aber im Betrieb Vorteile.

Laubengänge statt Treppenhäuser

Die Wohnungen sind über Laubengänge erschlossen. Pro Geschoss ist jeweils eine 2 ½-, eine 3 ½- und eine 4 ½-Zimmer-Wohnung angeordnet, wobei die beiden grösseren Wohnungstypen auf drei Seiten ausgerichtet sind. Die offenen Küchen bilden das Zentrum der Wohnungen, während Schlafzimmer und Nasszellen in eigenen Zonen leicht abgetrennt sind. Einen Glücksfall für die Energieversorgung bedeutet das jüngst erstellte Fernwärmenetz Biel Battenberg (siehe Wohnen 10/2015), das die Siedlung mit nachhaltiger Energie aus Holzschnitzeln versorgt. Auf die Erstellung von Photovoltaikzellen verzichtete man im Moment, bereitete die Dächer aber für eine Nachrüstung vor.

Alten Baumbestand erhalten

Der Aussenraum ist durch die innere Erschliessungsachse und die vielfältig nutzbaren Freiflächen gekennzeichnet, die viele Möglichkeiten zur Begegnung bieten. Geprägt wird er nicht von den namengebenden Narzissen, sondern von drei mächtigen Buchen. Sie standen bereits vor dem Bau der nunmehr abgebrochenen Siedlung und werden gemäss Untersuchungen nochmals 100 oder 150 Jahre leben. Keine Frage, dass man sich dafür entschied, sie zu erhalten. Marlies Rosenberger: «Die drei grossen Bäume in der Neubausiedlung – das bedeutet doch einen Riesenbeitrag zur Wohnqualität!»