Kanton Genf vergibt elf Areale an Baugenossenschaften

Grosser Sprung nach vorn

20 000 neue Wohnungen sollen im Kanton Genf innert weniger Jahre entstehen. Mit im Boot sind die Baugenossenschaften. Die Behörden haben ihnen elf Areale angeboten, die sie ganz oder teilweise über­nehmen dürfen. Das Interesse unter den gemeinnützigen Bauträgern war riesig, obwohl für die Evaluation kaum Zeit blieb. Zum Zug kommen insbesondere Genossenschaften, die auf das selbstverwaltete Wohnen setzen – und solche, die es noch gar nicht gibt.

Von Vincent Borcard (übersetzt und bearbeitet von Richard Liechti Bilder: Atelier Bonnet, ar-ter atelier, bw architectes | Mai 2017

Egal, ob man Leerwohnungsindex, Miet- oder Immobilienpreise betrachtet: Im Genferseebecken gilt seit Jahren Alarmstufe Rot. Der westliche Landeszipfel ist vom Mangel an bezahlbarem Wohnraum besonders betroffen. Nirgends sind während Jahren so wenig neue Wohnungen erstellt worden wie im Kanton Genf. Das liegt am knappen Bauland, aber auch an einer Wohnungspolitik, die kaum Anreize für Investoren schuf. Das galt auch für die Baugenossenschaften. Denn die Förderpolitik, die man über Jahrzehnte verfolgte, richtete sich nicht nach der Rechtsform des Immobilienbesitzers. Auch private Investoren konnten staatlich verbilligte Wohnungen anbieten – mit dem gravierenden Nachteil, dass diese Wohnungen nach der zwanzigjährigen Förderungszeit zurück an den teuren Markt fielen. In dieser Situation konzentrierten sich viele Baugenossenschaften auf den eigentlichen Sozialwohnungsbau.

Wachstumssprung wie in den Sechzigern
Vor zehn Jahren riss die Regierung das Steuer herum. Statt weiter Wohnungen zu subventionieren, sollte ein Sockelbestand an gemeinnützigen Wohnungen aufgebaut werden. Dabei wurden die Rollen neu definiert. «Wir benötigen Baugenossenschaften, die bezahlbaren Wohnraum für die Mittelklasse zur Verfügung stellen», erklärt Regierungsrat Antonio Hodgers, der im Kanton Genf das Departement für Raumplanung, Wohnungsbau und Energie leitet. Den eigentlichen Sozialwohnungsbau könnten dagegen staatliche Institutionen übernehmen. Im Vordergrund stehen dabei die langfristig stabilen Mietpreise, die Genossenschaften garantieren. «Das ist für Genf, wo der Zins bei Mieterwechseln oft um mehrere hundert Franken erhöht wird, von besonderer Bedeutung», bestätigt Antonio Hodgers.
Dabei will die Kantonsregierung Nägel mit Köpfen machen: Innert weniger Jahre sollen 20 000 neue Wohnungen entstehen. Damit steht Genf vor einem Wachstumssprung, wie es ihn zum letzten Mal in den 1960er- und 1970er-Jahren gab, als sich Dörfer in Vorstädte verwandelten. Und getreu den neuen Prinzipien sollen die Baugenossenschaften bei dieser Entwicklung eine wichtige Stellung einnehmen. Die Abgabe von Bauland steht dabei im Vordergrund. Gleichzeitig verlangt man von den gemeinnützigen Bauträgern, dass sie sich vermehrt selbst engagieren und eine aktivere Rolle auf dem Immobilienmarkt spielen. Bindeglied zwischen den Behörden und den Genfer Wohnbaugenossenschaften ist deren lokale Verbindung «Groupement des coopératives d’habitation genevoises» (GCHG).

Im neuen Quartier Communaux d’Ambilly in Thônex spielen die Genossenschaften eine wichtige Rolle, damit ein lebendiges Umfeld entsteht. Sie dürfen hier rund 550 Wohnungen bauen.

Les Communaux d’Ambilly wird auf dem Brachland zwischen Wald und Siedlungsrand entstehen.

Villenquartiere neu bebauen?
Mit der Unterstützung der Genossenschaften macht der Kanton Ernst: Im Dezember legte Regierungsrat Hodgers ein Projektpaket auf den Tisch, das nicht weniger als elf Standorte mit einer bebaubaren Fläche von gut 100 000 Quadratmetern umfasst. Einige sind ganz für Genossenschaften reserviert, bei grösseren Quartierentwicklungen sollen sie Teilgebiete übernehmen. Insgesamt beträgt der genossenschaftliche Anteil rund 1000 Wohnungen. Wie zaubert der kleinräumige Kanton Genf diese Areale aus dem Hut? Tatsächlich sind sie ganz unterschiedlicher Natur. Die Spannweite reicht vom baureifen Projekt für zwanzig Wohnungen beim künftigen Stadtbahnhof Eaux Vives bis zum neuen Quartier Les Communaux d’Ambilly in Thônex, fünf Kilometer vom Stadtzentrum, wo die Baugenossenschaften mehr als die Hälfte der geplanten 800 bis 1000 Wohnungen erstellen (siehe Kasten).
Dabei findet sich auch eine Genfer Besonderheit: Man will nämlich einen Teil der Einfamilienhausquartiere, die hier nicht umsonst «zones villas» heissen, aufkaufen und mit einer dichteren Bebauung versehen. Diese Pläne sind allerdings auf grossen Widerstand gestossen. Nun hofft man, dass die Baugenossenschaften das Gespräch mit den Grundbesitzern aufnehmen und man gemeinsam kollektive Wohnformen entwickelt. Ein wichtiges Werkzeug ist dabei das Baurecht, das gewährleistet, dass die Eigentümer ihren Grund und Boden nicht veräussern müssen. Die Genossenschaften, so Antonio Hodgers, seien willkommener als der Staat oder gewinnorientierte Investoren. Doch er räumt ein, dass man nicht naiv sei und erst noch Erfahrungen sammeln müsse.

Bevölkerung mit einbeziehen
Gerade bei grösseren Entwicklungen sollen die Genossenschaften von Beginn weg dabei sein – gemeinsam mit Behörden, Grundeigentümern und anderen Bauträgern. Dies soll die Qualität der Projekte steigern, aber auch das Know-how der Genossenschaften fördern. Genau hier, bei der Mitsprache und Mitbestimmung, liegt der Kern der neuen Genfer Wohnungspolitik. «Die Bevölkerung ist frustriert, weil sie den Eindruck hat, sie würde beim Thema Städtebau vor vollendete Tatsachen gestellt», stellt Regierungsrat Hodgers fest. Dagegen sei nur mit einem partizipativen Ansatz und dem Einbezug der künftigen Bewohnerschaft neuer Quartiere anzukämpfen – und genau bei den Baugenossenschaften fänden sich Bevölkerungsgruppen, die sich mit der Wohnungsfrage beschäftigten und bereit seien, bei neuen Projekten mitzuarbeiten.
Doch wer darf auf den elf Arealen bauen, die der Kanton den Genossenschaften anbietet? Der Genossenschaftsverbund GCHG startete umgehend ein Auswahlverfahren. 32 gemeinnützige Bauträger bekundeten Interesse – für eine, zwei oder gar fünf Parzellen. «Bei rund sechzig Mitgliedern zeugt dies von einem echten Willen zu bauen», freut sich GCHG-Vorstandsmitglied Guillaume Käser. Dabei wünscht der Kanton auch die Zusammenarbeit zwischen mehreren Genossenschaften und das Entstehen neuer gemeinnütziger Akteure, so dass bei verschiedenen Projekten Konsortien zum Zug kommen sollen. Mitte Dezember waren die Bewerbungsdossiers abzuliefern. Schon im Januar schritt der GCHG zur Evaluation, wobei ein Punktesystem zur Anwendung kam und kleine Gruppen von Genossenschaftsvertretern Areal um Areal durchgingen. Schliesslich legte man dem Kanton eine Liste vor, die mehr als zwanzig Bewerbungen umfasst. Der Entscheid liegt nun beim Regierungsrat.

Ein weiteres Grossprojekt: Grands-Esserts in Veyrier. 1200 Wohnungen sind hier geplant.

Rascher Entscheid gefragt
Dieser Prozess ist bemerkenswert. Zwar wusste man um die Bereitschaft der Behörden, den Genossenschaften eine wichtige Rolle beizumessen. Dass auf einmal so viele Grundstücke angeboten wurden und man sich so rasch festlegen musste, hat die Genfer Genossenschaften allerdings ziemlich durchgeschüttelt. Zum Beispiel die Ciguë, die sich auf Studentenwohnungen spezialisiert hat. «Die Ankündigung, den Genossenschaften derart viel Land zu übertragen, hat zwar Begeisterung ausgelöst», unterstreicht Aline Juon von der Genossenschaft
Ciguë. Allerdings hatte man nur wenige Wochen, um sich zu entscheiden – und dies neben dem Tagesgeschäft und bei einer starken Mitbestimmungskultur. Für welches Terrain bewerben? Wie viele Wohnungen? Mit welchen Partnern? Die Studentengenossenschaft hat schliesslich nur ein kleineres Projekt im Zentrum gewählt, nahe den Hochschulen.
Ganz anders die Codha, eine aktive Genossenschaft, die auf das Modell der Selbstverwaltung durch die Mieterschaft setzt und mit einem halben Dutzend Mitarbeiter auch personell mehr Ressourcen besitzt. Sie hat sich für die grossen Projekte beworben, und dies mit bis zu fünf Partnern, darunter auch Neugründungen. Ein anderes Kriterium wendet die Genossenschaft Equilibre an. Für sie ist besonders der partizipative Charakter eines Projekts wichtig. Deshalb möchte sie dort mitmachen, wo man schon bei der Erarbeitung des Quartierplans dabei ist. Dies biete die Chance, so Christophe Brunet von Equilibre, dass man gemeinsam mit den künftigen Bewohnern ganz unterschiedliche neue Quartiere entwickle. Equilibre hat sich deshalb für zwei Grossprojekte beworben, in einem Fall mit zwei «primo-coopératives».

Neuer Genossenschaftsbegriff
Wer sind diese Neugenossenschaften, auf die der Kanton so viel Wert legt? Regierungsrat Antonio Hodgers stellt sich darunter Gruppen von Menschen vor, die nicht zur Immobilienwelt gehören, aber zusammen wohnen möchten. Die GCHG definiert den Begriff «primo-coopératives» so, dass es sich um Genossenschaften handelt, die noch nicht gebaut haben und deren Gründer auch zu den künftigen Bewohnern gehören. Davon gibt es allerdings nicht genug, so dass auch Konsortien erlaubt sind, die vorerst bloss Quoten für Neugründungen reservieren. Diese könnten dann auch erst dazustossen, wenn ein Projekt schon weit gediehen ist.
Eine typische «primo-coopérative» ist Totem, die bei Equilibre mit im Boot ist. Die Genossenschaft wurde vor zweieinhalb Jahren gegründet und ist seither intensiv auf der Suche nach Bauland – erfolglos. «Der Vergabeprozess bedeutet für uns eine grosse Chance», erklärt Mitgründerin Sylvie Fischer. Wichtig war der Genossenschaft, einen Partner zu finden, der mit den Statuten der Genossenschaft konform ist. Diese lassen nämlich eine Tür offen, um auch Wohneigentum zu schaffen. Sylvie Fischer lebt zwar in einer selbstverwalteten Genossenschaft, sieht aber ein Problem: Sobald man etwas mehr verdiene, könne der Zugang zu einer Genossenschaft schwierig werden. Deshalb will Totem ein Modell umsetzen, wo Menschen zusammenleben, die mehr oder weniger der Mittelklasse angehören, die Spekulation mit dem erworbenen Wohnraum aber per Statut unmöglich ist. Totem hofft auf 30 bis 40 Wohnungen, eine ideale Grösse für ihr Projekt.

Bewährungsprobe bestanden
Der Kanton will die Stellung der Genossenschaften in Genf stärken. Trotzdem wird er nicht jedes Halbjahr 100 000 Quadratmeter Baufläche aus dem Hut zaubern können. Wenn die Genossenschaften allerdings die Erwartungen erfüllen, wenn dank ihrer Mitarbeit Quartiere entstehen, die «Lust machen, dort zu wohnen» (Antonio Hodgers), dann werden sich weitere Türen öffnen. Denn das Ziel lautet, den Anteil des genossenschaftlichen Wohnungsbaus – er beträgt gerade mal vier Prozent – zu vergrössern. Mit der speditiven Abwicklung des Vergabeprozesses haben der GCHG und seine Mitglieder jedenfalls schon einen ersten Beweis ihrer Fähigkeiten geliefert.

Die elf Areale

Communaux d’Ambilly (Thônex)
Grossprojekt des Kantons, das die Überbauung von 36 Hektaren Brachland bis 2030 zum Ziel hat. Entstehen sollen insgesamt rund 2200 Wohnungen. Drei Teilflächen, die Platz für rund 550 Wohnungen bieten, werden den Genossenschaften angeboten. Während für die erste Parzelle (rund 125 Wohnungen) bereits das Quartierplanverfahren läuft, werden die zwei weiteren erst 2025 baureif. Dort werden die Genossenschaften sowohl beim städtebaulichen Wettbewerb als auch bei der Erarbeitung des Quartierplans mit einbezogen.

Chapelle-Gui (Lancy)
Drei Gebäude mit etwa 250 Wohnungen in der Nähe des künftigen Bahnhofs Genf Bachet (Léman Express); rund die Hälfte soll an Genossenschaften gehen.

Grands-Esserts (Veyrier)
Überbauung von zwölf Hektaren Brachland auf dem Plateau von Vessy. Von den geplanten rund 1200 Wohnungen sollen gut 100 an Genossenschaften gehen, ein Drittel ist für Neugründungen reserviert.

Paumière (Chêne-Bougeries)
Rund 180 Wohnungen, davon
90 genossenschaftlich

Soret-Rod (Genf)
Rund 40 Wohnungen

Clos-Belmont (Genf)
Rund 20 Wohnungen

Marbriers (Lancy)
Rund 20 Wohnungen

Grosselin (Carouge)
Grosses Testgebiet in einer Industriegegend, die in eine Wohnzone verwandelt werden soll. Rund 3700 Wohnungen und fast 130 000 Quadratmeter öffentliche Nutzungen könnten entstehen. Allerdings verfügen verschiedene ansässige Unternehmen über langfristige Baurechtsverträge. Der Kanton will sie mit Abtausch und/oder Entschädigungen zum Wegzug bewegen. Erwünscht ist auch, dass sich die Unternehmen als Immobilieninvestoren auf ihren Parzellen engagieren. Dies eröffnet für die Genossenschaften die Chance, als Partner aufzutreten.

Cointrin Est (Le Grand-Saconnex)
Testgebiet in einer Einfamilienhauszone (zone villas), die verdichtet werden soll. Die Baugenossenschaften sollen dazu beitragen, die Hausbesitzer vom Verkauf oder von der Vergabe von Baurechten zu überzeugen. 50 bis 200 Wohnungen könnten so entstehen.