Genossenschaften entsiegeln Böden gegen Sommerhitze und für mehr Biodiversität

Grün statt grau

Einmal zuasphaltiert, lassen sich Böden nur mit grossem Aufwand wieder entsiegeln. Trotzdem gehen immer mehr Wohnbaugenossenschaften gegen die Betonwüsten in ihren Wohnsiedlungen vor. Mit unterschiedlichen Strategien, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Von Isabel Plana | Bilder: zVg | August 2023

Im Sommer draussen sitzen, essen, ein Buch lesen, Fangen spielen: Für die Bewohner:innen des Mattenhofs in Zürich-Schwamendingen war das an heissen Tagen bisher undenkbar. Der Aussenraum der 2017 fertiggestellten Siedlung der Genossenschaft Sunnige Hof verwandelte sich stellenweise in einen glühenden Ofen, wie die Bewohner:innen bereits nach den ersten Hitzesommern feststellten. Eine Temperaturmessung, die Anfang Juli 2020 auf dem asphaltierten Platz zwischen den Wohnhäusern durchgeführt wurde, ergab an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen Temperaturen von über 40 Grad an der Sonne, und selbst nachts fielen sie kaum unter 20 Grad. Zu diesem Zeitpunkt war die Siedlungsgenossenschaft der ­Lösung des Problems bereits einen wichtigen Schritt näher. «In Zusammenarbeit mit einem Landschaftsarchitekturbüro und unter Mitwirkung engagierter Bewohner:innen hatten wir über ein Dutzend mögliche Massnahmen gegen die Hitzeinseln skizziert», erzählt Cécile Bachmann, Bereichsleiterin Genossenschaftliches Leben und Kommunikation des Sunnige Hof. Über die Vorschläge konnten danach alle Bewohner:innen des Mattenhofs abstimmen, mittels eines Flyers mit QR-Code, der in alle Briefkästen verteilt wurde. «Von den 400 Haushalten nahmen 160 teil, also gut vierzig Prozent – eine sehr gute Quote», sagt Bachmann. Das Resultat: Fast alle Massnahmen wurden gutgeheissen.
Im Herbst 2021 ging es an die Umsetzung. Seither ist das Dach der Garageneinfahrt entsiegelt und genauso wie die Dächer der Velo-Unterstände mit einem Mosaik verschiedener Stauden begrünt. An fünf Stellen in der Siedlung klettern Hopfen oder Pfeifenwinde als ­Vertikalbegrünung die Fassade empor. Und die Boule-Bahn ist neu mit einer Pergola überdacht – bis die Kletterpflanzen das Ganze überwachsen, spendet ein provisorisches Netz Schatten. Diesen Frühling wurde die anspruchsvollste und wohl auch wirksamste Massnahme umgesetzt: Vor drei Hauseingängen wurde der Asphalt auf einer Fläche von je rund 200 Quadratmetern aufgebrochen. «Weil sich der Platz über der Tiefgarage befindet, war unter dem Asphalt nur relativ wenig Erde. Dort, wo wir Bäume pflanzen wollten, mussten wir daher grössere Erdhügel aufschütten.» Knapp eine Million Franken hat sich der Sunnige Hof die rund ein Dutzend Klimamassnahmen im Mattenhof kosten lassen, davon rund 150 000 Franken für die Entsiegelung der drei Flächen vor den Hauseingängen.

In der Wohnsiedlung Mattenhof in Zürich-Schwamendingen wurde es im Sommer jeweils allzu heiss. Zur Hitzeminderung setzte die Genossenschaft Sunnige Hof mehrere Klimamassnahmen um. Zuletzt wurde im Frühling vor drei Hauseingängen der Asphalt aufgebrochen — auf einer Fläche von je 200 Quadratmetern.

Im Nachhinein ist man schlauer
Angesichts solcher Kosten stellt sich die Frage: Warum hat man nicht schon beim Bau auf mehr entsiegelte und begrünte Flächen und weniger Asphalt gesetzt? «Als der Architekturwettbewerb zur Siedlung Mattenhof im Jahr 2010 durchgeführt wurde, hatte man Klimamassnahmen noch nicht auf dem Schirm. Das Bewusstsein dafür kam erst mit den sich häufenden Hitzesommern ab 2015», sagt Bachmann. «Bei künftigen Projekten wird es mehr Grün und unversiegelte Flächen geben.»
Das zeigt: Versiegeln ist eine Selbstverständlichkeit, eine Gewohnheit. Es wurde bisher kaum hinterfragt. Das wollen die «Asphalt­knackerinnen» von Plan Biodivers ändern. Das drei Frau starke Unternehmen berät bei Entsiegelungsprojekten, hilft bei der Suche nach Fördergeldern, vermittelt Gartenbau­firmen, die sich mit Entsiegelung und naturnaher Aufwertung besonders gut auskennen, und übernimmt die Entsorgungskosten für den aufgebrochenen Asphalt. «Unsere wichtigste Aufgabe sehen wir darin, über Entsiegelung und ihre Vorteile zu berichten, um ein Umdenken anzustossen und Hürden abzubauen», sagt Isabella Sedivy, Biologin und Mitgründerin von Plan Biodivers. «Wir dokumentieren auch vorbildliche Projekte, bei denen wir sonst nicht weiter involviert sind, wie zum Beispiel jenes im Hunzikerareal, wo die Genossenschaft Mehr als Wohnen zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW grossflächig entsiegelt und begrünt hat. Wir konnten damit einen Beitrag im Schweizer Fernsehen anstossen.» Es geht den Asphaltknackerinnen nicht darum, den Asphalt komplett zu verbannen. Mancherorts sei er durchaus sinnvoll, etwa auf Strassen, Trottoirs oder in einer Garageneinfahrt, wo im Winter grossflächig Schnee geräumt werden muss – denn auf entsiegelten Flächen können Maschinen nur bedingt eingesetzt werden, sagt Sedivy. In vielen Fällen erfüllt aber auch eine entsiegelte Fläche den Zweck. «Ein feinkörniger Kiesweg ist für Velos, Kinderwagen und Rollstuhlfahrer:innen genauso gut passierbar wie Asphalt.»

Presslufthammer mieten ‒ und anfangen
Sedivy regt an, im Kleinen anzufangen. «Es muss nicht immer ein grossflächiges Entsiegelungsprojekt sein. Man kann auch einen Presslufthammer mieten und selber da und dort ein paar Löcher in den Asphalt brechen und bepflanzen.» Um zusätzlich Kosten zu sparen, empfiehlt sie, eine Entsiegelung dann in Angriff zu nehmen, wenn etwa wegen Belagsschäden eine Erneuerung nötig wird – aufbrechen muss man dann so oder so.
Dies war in der Siedlung Ottostrasse der ­Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) im Zürcher Kreis 5 der Fall. «Zusammen mit ­einer Gruppe von Bewohner:innen haben wir diesen Frühling den in die Jahre gekommenen Spielplatz im Innenhof umgestaltet und beschlossen, die Fallschutzplatten aus Gummi durch Rundkies zu ersetzen», erzählt Mirco ­Huber, Teamleiter Aussenraum der ABZ. «Uns störte aber auch das Sammelsurium aus Verbundstein und anderen Belägen im Innenhof. So hat das eine das andere ergeben und wir haben uns nebst dem Spielplatz gleich auch noch die asphaltierten Wege und den Gemeinschaftsplatz vorgeknöpft.»

Vor der Umgestaltung (links) und danach (unten): Die ABZ hat in der Siedlung Ottostrasse in Zürich den Spielplatz im Innenhof umgestaltet und die asphaltierten Wege und den Gemeinschaftsplatz entsiegelt.

Auch im Hunzikerareal hat die Genossenschaft Mehr als Wohnen zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW grossflächig Flächen entsiegelt und begrünt.

Keine Angst vor dem Unterhalt
Mit Unterstützung von Plan Biodivers machten sich die Verantwortlichen in der Siedlung Ottostrasse ans Werk. Am Ende war der gesamte ­Innenhof entsiegelt – bis auf wenige Quadratmeter vor den Hauseingängen, die als Schmutzschleusen dienen, damit weniger Staub und Kies ins Haus gelangt. «Selbst die Feuerwehr­zufahrt haben wir auf Anregung von Plan Biodivers entsiegelt. Solange der Weg einfach befahrbar ist, ist auch ein Kiesbelag zulässig.» Bedenken wegen des Unterhalts der entsiegelten Fläche hat Huber nicht. Auch wenn öfters Rechen und Schaufel statt Maschinen zum Einsatz kommen, halte sich der Aufwand in Grenzen. «Kieswege und -plätze dürfen vergrünen, nur unerwünschte Pflanzen wie invasive Neophyten gilt es zu jäten. Und das Herbstlaub kann liegen bleiben und sich natürlich abbauen.»
Rund 90 000 Franken hat das Projekt in der Siedlung Ottostrasse gekostet, etwas mehr als die Hälfte davon machte die Erneuerung des Spielplatzes aus. Eine Investition, die sich gelohnt hat. «Die Bewohner:innen bejubeln die ökologische Aufwertung», sagt Huber. «Jetzt bin ich gespannt, ob man auch bei den Sommertemperaturen einen Unterschied wahrnimmt – obwohl die Hitze wegen der vielen Bäume im Innenhof bisher immer erträglich war.» Dank der Entsiegelung dürfte das nun auch in einer heisseren Zukunft so bleiben.

Entsiegeln als Kunstform

Entsiegeln und begrünen als kollektives Kunstprojekt: Diese Idee steckt hinter der Initiative «entsiegeln.art», die dieses Jahr in der Stadt Bern angelaufen ist. «Wir wollen das Thema Entsiegeln sicht- und erlebbar machen, den Fokus darauf richten, wie wir mit unseren Flächen ­umgehen, und der Natur die Möglichkeit zurückgeben, Kunstwerke zu erschaffen», sagt die Künstlerin Duscha Padrutt, die das Projekt gemeinsam mit dem ­Verein Berner Wildpflanzen-Märit und der Quartierkommission Dialog Nordquartier ins Leben gerufen hat. Im Rahmen der partizipativen Veranstaltungsreihe «Stadt als Garten» haben sie ­zusammen mit der Quartierbevölkerung bereits mehrere Flächen auf öffentlichem Grund ebenso wie auf privaten Grundstücken entsiegelt und begrünt. Bis Ende 2024 sollen möglichst viele ­dazukommen. Auf einer «Spaziergangskarte» zusammengetragen, lassen sich diese kunstvoll entsiegelten Flächen ­flanierend erkunden. ­