Die Grünräume in Wohnsiedlungen müssen vielfältige Ansprüche erfüllen

Naturnah und nutzungsbezogen

Die Aussenräume von Wohnsiedlungen sollen nicht nur den Bewohnerinnen und Bewohnern dienen, sondern auch einen Beitrag zum Erhalt der Vielfalt von Flora und Fauna leisten. Dabei gilt es, Mitsprache und Mitgestaltung, landschaftsarchitektonische und gesellschaftliche Trends sowie ökologische Notwendigkeiten unter einen Hut zu bringen. Keine leichte Aufgabe, sind die Ansprüche an den Siedlungsgrünraum doch stark gestiegen.

Von Sabine Wolf | Bilder: Johannes Marx, Müller Illien Landschaftsarchitekten, Lucas Ziegler, Krebs und Herde Landschaftsarchitekten, Volker Schopp | August 2017

In den Aussenräumen genossenschaftlicher Siedlungen treffen die unterschiedlichen Haltungen, Wertevorstellungen und Bedürfnisse von Nutzerschaft und Bauträgern häufig unmittelbarer aufeinander als bei architektonischen Fragen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass – mit wenigen Ausnahmen – die Wohnbedürfnisse noch weniger stark hinterfragt werden als jene an die Aussenräume: Die Grundrisse von der Anderthalb- bis zur Sechszimmerwohnung sind weitgehend standardisiert, es ändern sich eher die technischen Anforderungen an Materialien und Energieträger als die Wohnungstypologien.

«Reclaim the Greens»
Die Aussenräume aber müssen unterschiedlichste Anforderungen erfüllen: Sie sollen als Erweiterung der Wohnung dienen, als Spielplatz, Aufenthaltsort und Anbaufläche, wobei bei Letzterem die Ansätze von Gemeinschafts- und Privatgarten bisweilen miteinander konkurrenzieren. Ausserdem steigt der Anspruch an Mitsprache, Mitbestimmung oder Mitgestaltung unter freiem Himmel besonders stark. Es geht um die Grundsätze «partizipative Planung» versus «Planung von oben» und eine Art «Reclaim the Greens», analog zum 2000er-Slogan «Reclaim the Streets».
Gefordert werden Möglichkeiten zur Aneignung von Aussenräumen durch Bewohnerinnen und Bewohner, meist verbunden mit der Idee gemeinsamen Gärtnerns oder selbst gestalteter Treffpunkte. Dazu kommen (landschafts)architektonische und gesellschaftliche Trends sowie ökologische Notwendigkeiten wie die Förderung der Biodiversität im Siedlungsraum. Kein Wunder also, dass sich die Vorstände und Entscheidungsträger vielerorts bei der Frage, welchen Gestaltungsansatz sie für ihre Freiräume verfolgen wollen, in die Enge ­getrieben fühlen. In den Fokus rückt derzeit regelmässig eine Frage, die nur binär zu beantworten sein scheint: «ökologisch oder nutzerbezogen?».

Mit dem Irchelpark in Zürich, 1986 eingeweiht, entdeckte die Landschaftsarchitektur die ­naturnahe Gestaltung neu. Die Kombination von Erholungsräumen für die Menschen und ­natürlicher Umwelt mit einheimischen Bäumen und Hecken, Magerwiesen und Feuchtbiotopen war damals für eine Parkgestaltung neu und stiess nicht nur auf Zustimmung.

Der Hunziker-Platz bei einem Festanlass; im Hintergrund das Gebäude von Müller Sigrist Architekten mit naturnaher Fassadenbegrünung.

Wendepunkte Grün 80 und ­Irchelpark
Schon seit den 1970er-Jahren – freilich mit historisch wesentlich älteren Bezügen – kehrt das Thema Ökologie insbesondere im Rahmen der sogenannten Naturgartenbewegung in die Gestaltung der Aussenräume zurück. Inhaltlich steht neben Zielen des Natur- und Umweltschutzes der Wunsch einer stärkeren Verbindung des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt im Vordergrund. Die Natur wird nicht mehr als reiner Funktionsraum gesehen, sondern auch wieder als Ort vielfältiger Regenerationsprozesse. Dazu scheint es nötig, von ihr zu lernen, ihre Kreisläufe zu ­verstehen und nachhaltiger zu wirtschaften.
In der Schweiz entstehen mit der 2. Schweizerischen Ausstellung für Garten- und Landschaftsbau, der «Grün 80» in Münchenstein, sowie dem Zürcher Irchelpark Pionierprojekte für die wiederentdeckte naturnahe Gestaltung, die über die Landesgrenzen hinweg für Aufmerksamkeit sorgen. Beide Projekte tragen – zumindest teilweise – die Handschrift des Zürcher Landschaftsarchitekturbüros Atelier Stern + Partner (heute ASP Landschaftsarchitekten). Aus heutiger Perspektive klingt es erstaunlich, wenn Christian Stern von den Schwierigkeiten erzählt, die den Planern bei der Gestaltung des Areals unter anderem im Wege standen: Es gab kaum Erfahrungswissen und keine Ansaatmischungen für naturnahe Wiesen. Experimentieren war nötig, um die Natur nachzubauen. Doch schon die Grün 80 beweist, dass naturnahe Gestaltung kein Widerspruch zum Nebeneinander und zur Einbettung unterschiedlicher Nutzungen in die rahmengebenden Grünräume ist.

Unverzichtbar für Ökosystem
Lässt sich über die Ästhetik naturnah gestalteter Flächen noch streiten, sind ­deren Leistungen als Ökosystem insbesondere in unseren dicht bebauten ­Siedlungsräumen heute beinahe unverzichtbar: Sie fördern unter anderem die Biodiversität von Flora und Fauna (die Artenvielfalt in naturnahen Städten ist teilweise höher als auf dem Land!), verbessern das Mikroklima und wirken dem Phänomen der urbanen Hitzeinseln (Heat Island Effect) entgegen. Sie lassen sich ausserdem gut mit Angeboten zur Naturerziehung von Jung und Alt kombinieren, was Akzeptanz und Identifikation erhöht.
Der grösste Vorteil aber ist, dass Massnahmen zur naturnahen Gestaltung vielfältig, kombinierbar und in verschiedenen Lagen möglich sind, selbst als begrünte Fassade, Fliessgewässer oder Baumgruppe. Und anders als bei der Grün 80 sind heute vielfältige Systemlösungen möglich, es gibt eine hohe Anzahl an standortgerechten Saatmischungen und hoch qualifizierte Landschaftsarchitekturbüros, die auch Erfahrung mit partizipativen Planungsprozessen mitbringen. Drei Beispiele zeigen nachfolgend auf, wie die vielfältigen Ansprüche in neuen Wohnsiedlungen aufgenommen wurden.

Neue Tendenzen: drei Beispiele
Das Bedürfnis der Nutzerinnen und Nutzer nach Mitgestaltung und Aneignung war von Anfang an eines der zentralen Motive des Aussenraumkonzepts auf dem Hunziker-Areal der Zürcher Baugenossenschaft mehr als wohnen (2014/15). Neben professionell «fertig» gestalteten Bereichen wie dem zentralen Platz gibt es mehrere naturnahe Areale und Allmenden mit Hochstamm-Obstbäumen, die von der Bewohnerschaft selbst beispielsweise mit Nutzgärten gestaltet werden können. Das Konzept der frei gestaltbaren Flächen erlaubt auch einen flexiblen Nutzungswandel über die Zeit.
Die Berner Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz hat in ihrer Siedlung Hardegg schon 2004 die Weichen für eine naturnahe Gestaltung gestellt. Die Typologien der Erdgeschosse sind unterschiedlich; in der Zeilenbebauung im Norden ragen die betonierten, privaten Terrassen ein wenig in das umgebende Grün, in den Punkthäusern hat es gedeckte Sitzplätze im Hochparterre. Hier stösst der naturnahe und mit einem Wasserlauf gestaltete Freiraum unmittelbar an die Bebauung an. Kinder wie Erwachsene können auf ökologische Entdeckungstouren gehen und sich Räume für das Spiel oder zum Verweilen zu eigen machen. Die die Gebäude umfliessende Landschaft integriert verschiedene Bausteine naturnaher Gestaltung – beispielsweise sind die Wege nicht versiegelt und laden zum spielerischen Hüpfen ein; der Bachlauf ist ausgedolt, die Grünflächen übernehmen zugleich die Versickerung des Regenwassers.
Ein weiterer Trend nimmt Einfluss auf die Aussenraumgestaltung: die «Sharing Economy», in der die gemeinschaftliche Nutzung der Privatisierung von Raum vorgezogen wird. Im Zürcher Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite (2014) der gleichnamigen Genossenschaft erlaubt die Zonierung der naturnah angelegten Flächen sogar ein Areal für Urban Gardening auf einer der Terrassen. Auch die Planung der Aussenräume wurde partizipativ erarbeitet: Die künftige Bewohnerschaft sammelte ihre Bedürfnisse, welche die Landschaftsarchitekten in ihrem Konzept in Gestaltung umsetzten – und erneut mit den künftigen Nutzerinnen und Nutzern diskutierten. Während der Hof öffentlich zugänglich ist, dienen die Terrassen als gemeinschaftliche private Aussenräume der Hausgemeinschaft.

Im öffentlichen Hof der Siedlung Kalkbreite hat es grosse zusammenhängende, naturnah bepflanzte und gepflegte ­Flächen.

Wie Trampelpfade durchzieht ein offenes Wegenetz aus Trittsteinen das Hardegg-Areal, im Lauf der Zeit schreiben sich auch die Alltagswege der Bewohnerinnen und Bewohner in die Fläche ein.

Wie der Mix gelingt
Was Bauträgern bewusst sein sollte: Wer naturnahe Flächen anlegt, investiert in einen Prozess. Viel stärker noch als beim wie bestellt gelieferten Schaugartenmodell mit Rollrasen, aufwändig bepflanzten Blumenrabatten und Schnittgehölzen braucht eine naturnahe Gestaltung begleitende Pflege und Zeit. Zwar gibt eine Initialpflanzung mit ausgewählten Arten die Richtung der Entwicklung wie die Raumbildungen und Höhenstufungen, Blühaspekte und Herbstfärbung vor, vieles weist sich aber erst über die Zeit und hängt neben dem Sub­strataufbau auch von den lokalen Licht- und Wasserverhältnissen sowie dem Zufall ab: Wo der Wind den Samen hinträgt, blüht vielleicht im nächsten Jahr ein weiterer Vertreter einer Gattung.
Damit der Unterhalt nach den Vorstellungen der Genossenschaft erfolgt, ist es sinnvoll, die Zuständigkeiten klar zu delegieren und Kommissionen einzusetzen, die Entscheidungsgrundlagen für Gestaltung, Nutzung und Pflege der Aussenräume erarbeiten. Auch der Umgang mit dem Schnittgut – und, in Stoffkreisläufen weiter gedacht, mit dem Siedlungskompost – kann Gegenstand eines Pflegekonzepts sein. Um der dauerhaften Entwicklung Sorge zu tragen, ist es wichtig, dass die Zuständigkeit an einem möglichst zentralen Ort wie Geschäftsleitung oder Vorstand verankert ist, damit einmal Beschlossenes nicht wieder vergessen geht oder bei personellen Wechseln erneut verhandelt werden muss.
Je nachdem, wie eine Genossenschaft aufgestellt ist und zu welchem Zeitpunkt eine naturnahe Planung erfolgen soll – im Bestand, wo sie eine in die Jahre gekommene Bepflanzung ablöst, oder im Neubau –, gibt es weitere erfolgssteigernde Optionen: das Einbinden der heutigen oder der künftigen Mieterinnen und Mieter in den Gestaltungsprozess; die Kombination des Nebeneinanders anstelle von monofunktionalen und -ästhetischen Gestaltungen; den Einbezug von benachbarten Schulen oder Kindergärten in Angebote zur Umweltbildung. So können sich neue, lebendige Nachbarschaften entwickeln, und das Projekt findet gegebenenfalls weitere Finanzierungspartner.

Zertifizieren oder nicht?
Wie auch für Hochbauten gibt es für Aussenräume Zertifikate. Schweizweit etabliert ist das Label der Stiftung Natur & Wirtschaft, das vom Bundesamt für Umwelt mitgetragen wird. Seit rund 20 Jahren zertifiziert die Stiftung Unternehmen, die ihr Firmenareal naturnah gestalten und pflegen. Seit 2014 können sich auch Wohnareale mit mehr als 15 Wohneinheiten bewerben. Als Grundsatz gilt, dass mindestens 30 Prozent der Umgebungsflächen naturnah gestaltet sein müssen. Zu den weiteren Mindestanforderungen gehört beispielsweise, dass einheimische und standortgerechte Arten verwendet werden, keine Biozide oder Düngemittel eingesetzt werden und auch die Kinderspielplätze naturnah gestaltet sind. Die Familienheim-Genossenschaft Zürich hat im Mai 2017 als erste Wohnbaugenossenschaft der Schweiz von der Stiftung Natur & Wirtschaft die Label-Auszeichnung für ihre Aussenräume erhalten (siehe Kasten).
Eine Zertifizierung kann für Genossenschaften insbesondere dann interessant sein, wenn sie (noch) kein eigenes Leitbild zur Gestaltung ihrer Aussenräume verfasst haben: Dann kann das Label helfen, Verbindlichkeiten herzustellen und Inhalte zu transportieren. Auch bei künftigen Projektwettbewerben oder Umgestaltungen können die Rahmenbedingungen für naturnahe Gestaltung dann von Anfang an klar formuliert werden und sind nicht erneut Gegenstand von Diskussionen. Alternativ könnten die Ziele auch in den Statuten der Genossenschaft verankert werden. Es ist wie so oft: Wo ein Wille, da ein Weg. Er ist in diesem Fall mit Vorteil unversiegelt.

FGZ erste Genossenschaft mit Aussenraum-Label

Die Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ) trägt neu das Label der Stiftung Natur & Wirtschaft. Das Gärtnerteam, die Aussenraumkommission und die Arbeitsgruppe AktionNaturReich der FGZ setzen sich in ihrer täglichen Arbeit dafür ein, dass die Aussenräume der FGZ-Wohnsiedlungen möglichst naturnah gestaltet und gepflegt werden. So werden beispielsweise weitgehend einheimische Pflanzenarten verwendet, um damit ideale Lebensbedingungen für die Tierwelt zu schaffen.
Anlässlich des Festivals «Abenteuer StadtNatur» wurde der FGZ am 20. Mai ein Zertifikat für zehn Bauetappen übergeben. Die FGZ ist die erste Wohnbaugenossenschaft der Schweiz, die das Label erhält. «Und hoffentlich nicht die letzte», wünscht sich Reto Locher von der Stiftung Natur & Wirtschaft. 

Er ist sich sicher, dass die Auszeichnung einen Mehrwert für alle Beteiligten bringt. Diese Ansicht teilt auch Alfons Sonderegger, Präsident der FGZ. «Von mehr Naturnähe profitieren nicht nur Tier- und Pflanzenarten, sondern auch die Bewohnerinnen und Bewohner der FGZ. Zudem schafft die Zertifizierung Verbindlichkeit, die Kommunikation mit allen Beteiligten bezüglich Naturnähe wird erleichtert, und bei künftigen Planungsverfahren ist von Beginn an klar, welche Rahmenbedingungen bezüglich naturnaher Gestaltung gelten.»
Die Etappe 24 «Brombeeriweg» (siehe Eröffnungsbild zu diesem Beitrag) diente der Stiftung als Beispiel für eine gelungene Neugestaltung und wurde zur Verifizierung der Stiftungskriterien für Wohnbauten verwendet. Bis 2020 will die FGZ schrittweise auch die restlichen Etappen zertifizieren lassen.