Baugenossenschaft Rotach stellt Weichen für die Zukunft ihrer Stammsiedlung

Soziale Nachhaltigkeit fassbar machen

Erhalt oder Ersatz? Diese Frage stellt sich der BG Rotach bei ihrer Stammsiedlung aus den 1920er-Jahren. Die fünf Blockrandbauten mit 324 Wohnungen bieten viel Wohnwert und sind identitätsstiftend fürs Quartier. Bei der Zukunftsplanung gilt es darum, auch die soziale Nachhaltigkeit gebührend zu berücksichtigen. Die Genossenschaft hat deshalb vom ETH Wohnforum eine Studie erstellen lassen. Dabei wurde ein Kriterienraster entwickelt, das Baugenossenschaften künftig als Hilfsmittel dienen kann.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Juliet Haller | November 2016

Wer heute im Zürcher Stadtkreis Wiedikon durchs Sihlfeldquartier spaziert, passiert baumgesäumte und grösstenteils verkehrsberuhigte Strassen, ansehnliche drei- bis fünfstöckige Blockrandbauten, Quartierläden, Beizen und andere kleine Gewerbebetriebe. Nahversorgung und Verkehrsanbindung sind ausgezeichnet. Grosse, geschützte Innenhöfe bieten Erholungs- und Begegnungsräume. Kurz: Die Stammsiedlung der BG Rotach sieht nach viel städtischer Lebensqualität aus – und bietet diese auch, wie die Bewohnerinnen und Bewohner in einer vom ETH Wohnforum – ETH CASE letztes Jahr durchgeführten Studie bestätigt haben. Trotz Altbaumängeln erfreut sich die auf fünf Gebäudeblöcke verteilte Siedlung an der Gertrud-, Rotach-, Saum- und Nussbaumstrasse, die in den 1920er-Jahren erstellt wurde, grosser Beliebtheit. Die Bewohnenden identifizieren sich stark mit ihr und schätzen den ausgeprägten Gemeinschaftssinn.
Dies ist einer der wichtigen Befunde der im Auftrag der BG Rotach erstellten Untersuchung. Durchgeführt wurde sie, weil sich die Baugenossenschaft für die Planung der Zukunft ihrer Stammsiedlung nicht einfach nur auf baulich-ökologische und ökonomische Daten und Zahlen abstützen will. Vielmehr soll im Sinne einer umfassenden Nachhaltigkeit, der sich die BG Rotach verpflichtet hat, auch die soziale Dimension gebührend berücksichtigt werden. Was ein nicht ganz einfaches Unterfangen ist, wie auch Peter Ess weiss: «Die meisten versuchen, sich um das Thema herumzumogeln.» Diese Erfahrung hat der Architekt, der schon lange in der Rotachsiedlung wohnt und Leiter der vom Vorstand für die Zukunftsplanung eingesetzten Arbeitsgruppe ist, bei seiner früheren Tätigkeit als Direktor des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich immer wieder gemacht. Eine wirtschaftliche und bauliche Analyse sei relativ einfach erstellt. Man wisse aber nicht so genau, was mit sozialer Nachhaltigkeit wirklich gemeint sei und verfüge auch nicht über griffige Instrumente, um diese zu erfassen.

Die Innenhöfe im Rotachquartier sind unterschiedlich gestaltet, alle sind aber geschützt, begrünt und vielfältig nutzbar.

Qualität des Bestehenden erfassen

Gerade die Nachhaltigkeit aber ist der Genossenschaft bei ihrer Stammsiedlung besonders wichtig. Bei einer vor einigen Jahren beschlossenen strategischen Langfristplanung des gesamten Wohnungsportfolios war klar, dass dieses Herzstück mit hohem historischem und symbolischem Wert eine umsichtige und frühzeitige Bestandesaufnahme erfordert. Durch einen ausgezeichneten Unterhalt und einen behutsamen Umgang mit der baulichen Substanz präsentiert sich die Siedlung heute in gutem Zustand. Ohne tief gehende Eingriffe kann sie aber nur noch etwa 25 Jahre lang bestehen. Um den weiteren Unterhalt zu planen, muss die BG Rotach deshalb bald über die weitere ­Zukunft der Siedlungen im Rotachquartier ­entscheiden. «Nachhaltigkeit heisst auch frühzeitige Planung», hält Peter Ess fest. Nur diese erlaube es, die Bedürfnisse der aktuellen Bewohnenden angemessen einzubeziehen und gleichzeitig die Weichen für Bedürfnisse und Lebensformen künftiger Generationen zu stellen.
Die Stammsiedlung der BG Rotach steht nicht unter Denkmalschutz, liegt aber in der Quartiererhaltungszone Q1, die festlegt, dass der Grundcharakter des Quartiers erhalten werden muss. Das bedeutet, dass Blockrandbebauungen auch künftig zwingend sein werden; Verdichtungspotenzial gibt es praktisch keines. Welche Vorteile Neubauten so brächten und wie viel bestehende Qualitäten dabei verloren gingen, gilt es daher sehr gut abzuwägen. Viel eindeutiger war im Vergleich etwa die Situation bei der nahe gelegenen Siedlung Triemli 1 der BG Rotach: Dort war die Bausubstanz sehr schlecht, und durch einen unlängst erfolgten Ersatzneubau konnte der Wohnungsanteil um ein Drittel erhöht werden. Bei der Stammsiedlung hingegen ist es für die BG Rotach alles andere als klar, welcher Weg am nachhaltigsten ist.
Die Arbeitsgruppe hat angesichts dieser kniffligen Ausgangslage bei der Strategieentwicklung für die Siedlung im Rotachquartier nach neuen Wegen gesucht. «Uns ging es da­rum, die Qualität des Bestehenden fassbar zu machen und zu überprüfen, welche Optionen zukunftsfähig sind. Was macht es aus, dass Wohnungen, die vor neunzig Jahren gebaut wurden, heute noch funktionieren und viel Wohnqualität sowie einen hohen Gebrauchswert aufweisen? Wieso leben die Leute gern hier, und was macht die Siedlung besonders?», erklärt Peter Ess. Ganz ähnlichen Fragen geht auch die 2014 erschienene Publikation «Vom guten Wohnen» des ETH Wohnforums anhand von vier «Hausbiographien» nach. Dieser beschreibende Ansatz überzeugte die Arbeitsgruppe, die deshalb das Wohnforum mit dem Erstellen einer Nachhaltigkeitsstudie beauftragt hat. Daran beteiligt hat sich – auch finanziell – das Amt für Städtebau (AfS) der Stadt Zürich, das sich Erkenntnisse und Instrumente für ähnliche Projekte erhofft.

Das ganze Quartier ist von Blockrandbauten geprägt. Die fünf Blöcke der Rotachstammsiedlung verteilen sich auf mehrere Strassen.

Vertiefte Auslegeordnung

Die Studienverfasserinnen Angela Birrer und Marie Antoinette Glaser haben mit Unter­stützung des AfS diverse Daten und Informa­tionen zusammengetragen. Der Rahmen wurde bewusst weit gespannt, so dass nun ein differenziertes Bild vorliegt, das von der Wohnungsebene über die Siedlungsstruktur bis hin zur städtebaulichen Situation reicht. Auch die Alters- und Bewohnerstruktur wurde beleuchtet. Zudem fanden verschiedene Interviews mit Bewohnenden sowie mit Ver­tretern von Siedlungs­kommis­sion, Be­wirt­schaf­tung, oder Haus­wartung statt. Damit flossen auch «weiche» Faktoren wie Wohnbedürfnisse und die aktuelle Lebens­qualität in die Analyse ein. Diese hat gezeigt, dass die Bewohnenden sich sehr verbunden mit ihrer Siedlung fühlen und neben den tiefen Mieten besonders die gute Nachbarschaft, die Mitwirkungsmöglichkeiten, die familienfreundlichen Innenhöfe sowie die zentrale und dennoch naturnahe Lage schätzen. Bemängelt werden vor allem das einseitige Wohnungsangebot – über die Hälfte sind Dreizimmerwohnungen von etwa 62 bis 72 Quadratmetern –, fehlende Lifte, Ringhörigkeit und wenige Abstellplätze für Mobilitätsgeräte und Kinderwagen.

Durch die Studie konnten zudem Aspekte erfasst werden, die für die Bewohnenden wichtig sind, bei anderen Analyseinstrumenten wie dem Wohnungsbewertungssystem oder den Empfehlungen SIA 112/1 zu nachhaltigem Bauen aber weitgehend fehlen. Dazu zählt etwa der ausgesprochene «Altbaucharme» der Wohnungen. Peter Ess meint dazu: «Solche Befunde sind für uns wichtig. Sie helfen bei der Einordnung von Prioritäten. Knarrende Böden können ärgern. Für viele Leute sind sie aber akzeptabel, wenn das Gesamtambiente stimmt – eine Wohnung mit schönen alten Holzböden, -täfer und -türen verströmt Altbauflair, nicht Altbaumuff.» Faktoren, die üblicherweise negativ zu Buche schlagen würden, erscheinen so in einem neuen Licht.

Kriterienraster

Um die ganz unterschiedlichen Faktoren bewerten zu können, hat das ETH Wohnforum ein Kriterienraster entwickelt. Dieses erlaubt eine – verglichen mit Instrumenten wie dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) – einfache und kompakte Gesamteinschätzung. Anhand von 13 Kriterien (siehe Tabelle) werden die sozialräumlichen Qualitäten auf einer Skala von 0 bis 4 bewertet und auf ihre Zukunftstauglichkeit hin eingeschätzt. Damit zeigen sich auf einen Blick entsprechende Potenziale und Schwächen einer Siedlung.
Ein einfaches Hilfsmittel zu entwickeln, war denn auch eines der Anliegen der Verfasserinnen. Um die Pilotversion zu optimieren, würden sie diese gerne mit weiteren Baugenossenschaften testen. Ziel ist eine Checkliste, die auch von kleinen Baugenossenschaften mit ähnlichen Fragen zu Bestandesbauten ohne viel Aufwand eingesetzt werden kann. Den Nutzen sieht Angela Birrer vor allem im Bewusstmachen von Aspekten, die sonst unterzugehen drohen: «Die Studie hat nicht nur die Qualitäten der Rotachsiedlung aus Bewohnersicht aufgezeigt, sondern auch ihre Ausstrahlungskraft ins Quartier.» Gleichzeitig wurden heikle Punkte wie die tiefe Belegung, die drohende Überalterung bei fehlender Bar­riere­freiheit oder das wenig flexible Raum­angebot benannt, das viele Familien zwingt, wegzuziehen. Die meisten Befunde seien zwar kaum überraschend; sie nun aber schwarz auf weiss belegen zu können, verleihe ihnen ein ganz anderes Gewicht.

Noch vieles offen

Auch Peter Ess stellt fest: «Die Auslegeordnung hat uns Klarheit und Transparenz gebracht und die soziale Nachhaltigkeit fass­barer gemacht. Wir sehen jetzt die wichtigen ­Themenfelder und können diese besser gewichten.» So wird eine der nächsten Aufgaben beispielsweise sein, zu definieren, auf welche Personengruppen und Lebensformen die Siedlung im Rotachquartier künftig ausgerichtet sein soll. Dies wird wesentlich mitbestimmen, wie sich die Siedlung weiterentwickelt. Entschieden ist allerdings noch gar nichts. Die BG Rotach musste aus Kapazitätsgründen die Arbeit an der Zukunftsplanung verschieben, weshalb die nötigen baulich-energetischen Überprüfungen sowie Kostenberechnungen für ­verschiedene Varianten – vom Erhalt mit Minimalunterhalt bis zum Ersatz – noch nicht gemacht wurden. Erst wenn die sozialen, ökologischen und ökonomischen Aspekte offen und gleichwertig auf dem Tisch liegen, wird die Güterabwägung erfolgen und sind die Konsequenzen verschiedener Szenarien abzuschätzen.
Wie beim bisherigen Prozess sollen auch dafür wieder Rückmeldungen und Inputs von den Bewohnenden eingeholt werden. Dies und eine gute Kommunikation halten Peter Ess und die Studienverfasserinnen für zentral; bei der Planung sind Bewohnende in der Arbeitsgruppe vertreten und werden auch weiterhin mit einbezogen. Geschäftsführer Jürg Aebli zeigt sich denn auch davon überzeugt, dass durch die frühzeitige Einberufung der Arbeitsgruppe durch den Vorstand und dank dem inhaltlich sowie personell breit abgestützten Vorgehen eine tragfähige und nachhaltige Lösung gefunden wird.

  1. Download Studienzusammenfassung. Kontakt: Angela Birrer, ETH Wohnforum – ETH CASE, birrer@arch.ethz.ch