Simone Gatti über die Trends beim Alterswohnen

Am besten spricht man gar nicht von Alter

Genossenschaftlich organisierte Hausgemeinschaften sind ein Zukunftsmodell, erleichtern sie doch das selbständige Wohnen im Alter. Viele der neuen Siedlungen wenden sich allerdings an ein höheres Mietersegment. Dies zielt an den künftigen Bedürfnissen vorbei, sagt Simone Gatti, die schon viele solcher Projekte initiiert und beraten hat.

Interview: Richard Liechti | Bild: Frederic Meyer | Juli-August 2016

Wohnen: In den letzten Jahren haben wir beim Alterswohnen einen rasanten Wandel erlebt. Vorbei sind die Zeiten, als es vor allem darum ging, genügend Altersheimplätze zur Verfügung zu stellen. Heute herrscht unter Fachleuten ein breiter Konsens: Die fitten Seniorinnen und Senioren wollen möglichst lange selbständig leben. Ist das in der Immobilienbranche angekommen?

Simone Gatti: Angekommen ist dort auf jeden Fall, dass viele ältere Menschen grosszügige Wohnungen wünschen. Tatsächlich verfügen viele 80-Jährige über eine gute Rente. Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Viele Leute können oder wollen nicht mehr als 1500 oder 1600 Franken pro Monat für das Wohnen ausgeben. Das ist in der Immobilienbranche – der einzigen Branche, wo man noch Geld verdienen kann – nicht wirklich ein Thema.

Und bei den Baugenossenschaften? Noch immer schiessen 50- oder 55-plus-Genossenschaftsprojekte wie Pilze aus dem Boden. Sie beruhen meist auf drei Pfeilern: eigene Wohnung – gemeinschaftliche Einrichtungen – Unterstützung durch Pflege- und andere Dienstleistungsangebote. Ist das tatsächlich das Zukunftsmodell?

Davon bin ich überzeugt. Über neunzig Prozent der Menschen möchten im Alter so selbständig wie möglich wohnen. Bei diesem Modell muss sich allerdings das Bewusstsein, dass man zwar weniger Wohnfläche, dafür aber mehr Gemeinschaftsraum zur Verfügung hat, oft erst bilden. Auch würde ich bei solchen Projekten stets genau hinschauen, ob die Gemeinde nicht auch Pflegeplätze benötigt. Die Integration einer Pflegewohnung – sie funktioniert ab einer Grössenordnung von etwa 16 Plätzen – ist eine gute Lösung, auch um Gemeinschaftseinrichtungen besser zu nutzen.

Die meisten dieser neuen Genossenschaftsprojekte werden von den Gemeinden unterstützt, etwa durch die Vergabe von günstigem Bauland. Welches Motiv haben sie?

Bis 2011 wurden in den meisten Gemeinden Alters- und Pflegeheime durch die öffentliche Hand erstellt und als gemeindeeigene Betriebe geführt, für die Defizitbeiträge zu leisten waren. Seit 2011 ist das neue Pflegefinanzierungsgesetz in Kraft. Seither leisten die Gemeinden keine Objekthilfe mehr, sondern übernehmen einen Teil der gesetzlich festgelegten Pflegekosten. Diese Subjekthilfe steigt mit zunehmendem Pflegebedarf. Gemeinden sind deshalb daran interessiert, neue Wohnformen zu entwickeln, die dafür sorgen, dass die Menschen später ins Pflegeheim eintreten. Dadurch sparen die Gemeinden letztlich viel Geld.

Es fällt auf, dass sich auch die neuen Genossenschaftsprojekte oft an einen oberen Mittelstand wenden, nämlich an Menschen, die vorher im Eigenheim wohnten. Dies ist bei allen vier Neubauten, die wir in diesem Heft vorstellen, der Fall. Sie bieten viel individuellen Wohnraum und grosszügige Gemeinschaftsflächen.

Wenn man Menschen, die im eigenen Haus leben, für diese Wohnform gewinnen will, so geht das nur mit grossen Wohnungen. Das Problem ist: Solche Projekte werden relativ kostspielig. Wenn man dafür eine Genossenschaft gründet, bedeutet dies, dass die Bewohner zwischen zehn und zwanzig Prozent der Anlagekosten mit Eigenmitteln finanzieren müssen. Das funktioniert oft nur, wenn sie dafür ihre Einfamilienhäuser verkaufen können.


«Ich plädiere für Projekte, die bescheiden ausgelegt sind.»


Ein Argument für das «gehobene» Modell lautet: In der Gemeinde werden wieder Einfamilienhäuser für Familien frei.

Das ist sicher eine gute Entwicklung. Man sollte das aber weiterdenken. Wenn man schon grosse Wohnungen baut, bietet dies die Chance, neue Modelle umzusetzen. Am Anfang, wenn die Wohnungen teuer sind, könnten dort Senioren leben, die sich das leisten können. Nach zehn oder zwanzig Jahren sind diese Wohnungen immer noch grosszügig, doch dank der Kostenmiete und des Gewinnverzichts der Genossenschaften viel günstiger. Dann könnten Familien einziehen, für die der Preis nun tragbar ist.

Da denken Sie an die demographische Entwicklung.

Ab 2045 hört die sogenannte Überalterung auf, denn dann sterben die Babyboomer der Hochkonjunkturjahre weg. Deshalb ist es wichtig, dass man heute Wohnungen baut, die verschiedene Zwecke erfüllen können.

Simone Gatti (58) ist dipl. Organisationsentwicklerin IFO/BSO mit abgeschlossenem universitärem Nachdiplomstudiengang in Gerontologie.

Der Mietpreis ist auch für ältere Menschen ein entscheidender Faktor. Geräumige Wohnungen, viel Gemeinschaftsraum, ein Concierge oder eine Animatorin – all das kostet. Welche Preise liegen drin, wenn man nicht auf einem tollen, aber zu teuren Angebot sitzenbleiben will?

Ich plädiere für Projekte, die bescheiden ausgelegt sind – allerdings ohne auf Qualität zu verzichten – und deshalb für eine breitere Schicht bezahlbar bleiben. Für Paare ist dies meist weniger ein Problem. Tatsache ist jedoch, dass ab einem gewissen Alter besonders die Frauen allein zurückbleiben. Sie haben es auf dem Wohnungsmarkt sehr schwierig – ja, diese Zielgruppe existiert für die Anbieter schlichtweg nicht, wie eine Studie von 2010 belegt. Man muss auch bedenken, dass die Umwandlungssätze der Pensionskassen sinken und man auf dem Ersparten kaum noch Rendite erzielt. Viele werden im Alter weniger Geld zur Verfügung haben, als sie es sich heute vorstellen. Auch dies sind Indizien dafür, dass wir für die künftigen Senioren günstige Wohnungen brauchen.

Ist das in den Gemeinden kein Thema? Günstiger Wohnraum würde doch gerade dazu beitragen, dass weniger Sozialleistungen ausgerichtet werden müssen.

Leider ist Altersarmut in der Schweiz ein Tabuthema. Die Beiträge an die Pflegeplätze steigen mit jedem Pflegebedürftigen. Es ist deshalb verständlich, dass Gemeinden zum Teil gar keine günstigen Alterswohnungen wollen, die Senioren anziehen, die allenfalls irgendwann Ersatzleistungen brauchen. Wenn ich Gemeinden berate, zeige ich auf, dass sie mit günstigen Wohnungen für ihre Einwohner doppelt sparen – nämlich bei den Pflegekosten und bei den Sozialleistungen.


«Die Bewohner sind bereit, sich zu engagieren.»


Gibt es beim Mietzins eine «Schallgrenze»?

Für eine alleinstehende Person würde ich 1500 Franken Monatsmiete als Obergrenze setzen. Wenn ich Seniorinnen und Senioren frage, wie viel sie denn bezahlen können, fallen Beträge wie 1000, 1200 oder 1500 Franken. Im stadtnahen Wallisellen waren es kürzlich aber plötzlich 2000 und 2500 Franken. Die Antwortenden gehörten zu den gut 75-jährigen «Golden Agern». Es kommt also sowohl auf die Alters- und Einkommensgruppe als auch auf die Lage an.

Wie viel dürfen Zusatzleistungen kosten, die der Gemeinschaft dienen?

Den Anteil für die Gemeinschaftsförderung würde ich klein halten. 35 Franken Zuschlag pro Monat für eine Moderation ist kein Thema, 250 oder 300 Franken schlagen schon stark zu Buche. Auch bei den Gemeinschaftsflächen wäre ich zurückhaltend, denn auch hier muss jeder Quadratmeter bezahlt werden. So braucht es etwa auf den Stockwerken kaum Treffpunkte, denn diese Gemeinschaften bilden sich selber.

Stichwort «Gemeinschaftsförderung»: Sie haben selbst schon in vielen neuen Wohnsiedlungen als Coach gewirkt. Nur: Wollen die aktiven Seniorinnen und Senioren überhaupt eine Animation?

Grundsätzlich gehört es bei solchen Wohnmodellen dazu, dass man vor der Erstvermietung über Gemeinschaftliches redet und eine Gelegenheit bietet, die Menschen kennenzulernen, mit denen man künftig zusammenwohnt. Oft ist es auch später einfacher, wenn ich als aussenstehende Moderatorin Ideen aufnehme und in die Runde werfe. Dann habe ich sozusagen eine Scharnierfunktion, was bedeutet, dass man keinen Nachbarn vor den Kopf stossen muss, wenn man mit einem Vorschlag überhaupt nicht einverstanden ist. Ziel ist aber immer, dass die Bewohnerinnen und Bewohner selbst die Initiative ergreifen. «Altersnachmittage » führe ich ganz bestimmt keine durch.

Manche Genossenschaften stellen sogar einen Concierge oder eine andere Betreuungsperson ein. Braucht es das wirklich?

In der Siedlung Am Hof in Köniz gibt es seit fast vier Jahren jeden Vormittag einen solchen Conciergedienst – dieser wird von den Bewohnern selbst gestellt. Diese Erfahrung mache ich auch in anderen Siedlungen: Die Bewohnerinnen und Bewohner sind bereit, sich zu engagieren, und zwar für die verschiedensten Aufgaben. Angestellte wollen sie keine.

Wie sieht der Grundriss der idealen «Alterswohnung» aus?

Ideal wäre, wenn man hundert Wohnungen mit ganz unterschiedlichen Grundrissen bauen könnte. Leider geht das in den meisten Gemeinden nicht. Sinnvoll ist sicher, viele kleinere, bezahlbare Wohnungen bereitzustellen. Und sich zu sagen: Die Senioren sind zwar unser erstes Zielpublikum – wenn der Bedarf jedoch nachlässt, können auch jüngere Menschen dort wohnen. Denn zahlbare kleinere Wohnungen fehlen unterdessen allenthalben, weil man in den letzten Jahren fast nur grosse gebaut hat.

Die höchste Hürde für 55-plus-Projekte ist die Finanzierung. Sie haben schon viele solcher Neubauten initiiert oder begleitet. Welches sind die wichtigsten Tipps?

Ist die Gemeinde bereit, ein Projekt beispielsweise mit der Vergabe von Bauland zu unterstützen, würde ich zusätzlich um eine Anschubfinanzierung für die Projektentwicklung bitten. Das ist die schwierige Phase. Wenn das Projekt einmal steht, kann es mit Mitteln (Darlehen und Anteilkapital) der künftigen Bewohner mitfinanziert werden – das ist machbar. Und ich würde mir überlegen, ob die Finanzierung nicht über einen Anteil an Wohneigentum sichergestellt werden könnte. Wichtig ist, dass die Eigentümer in die Genossenschaft eingebunden werden.

Eine neue Studie an der Sie auch mitgearbeitet haben, kommt zum Schluss: Es braucht gar keine spezifischen Alterswohnungen. Vielmehr müsse das Äl- «Die Bewohner sind bereit, sich zu engagieren.» 14 WOHNEN 07/08 JULI–AUGUST 2016 INTERVIEW terwerden beim Neu- oder Umbau bereits mit eingeplant sein. Auch brauche es keine Dienstleistungsangebote in den Siedlungen, da diese in der gut erschlossenen Schweiz zur Genüge vorhanden seien.

Diese Folgerung hat sicher auch damit zu tun, dass wir über 50-Jährigen überhaupt keine Lust haben, auf das Thema Alter angesprochen zu werden. Deshalb stellt man am besten kleinere Wohnungen für Singles und Paare in der Nachfamilienphase bereit und spricht gar nicht von Alter. Aber im Vermietungsprozess kann man den Älteren dann den Vorzug geben.

Kann in solch gemischten Siedlungen die gleiche Gemeinschaftlichkeit entstehen wie in den 55-plus-Projekten?

Gemischte Siedlungen ja, aber ich plädiere dafür, ein Treppenhaus mit kleineren Wohnungen und eines mit Familienwohnungen zu schaffen. Nicht nur dass auf diese Weise niemand über einen Kinderwagen stolpert. In einem Haus, wo einige Pensionierte wohnen, ist die Chance für Kontakte einfach grösser. Tatsache ist doch, dass Familien heute untertags meist auswärts sind, weil beide Partner arbeiten und die Kinder im Hort oder in der Schule sind. Und noch eines stelle ich fest: Zumindest nach meiner Erfahrung funktioniert generationenübergreifendes Wohnen kaum. In Siedlungen, die dies anstrebten, hatten stets entweder die Familien oder die älteren Menschen eine klare Überzahl.

Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft. Sie beschäftigen sich stark mit neuen Wohnmodellen für die zweite Lebenshälfte und beobachten auch die Entwicklung im Ausland. Was könnte zukunftsweisend sein?

Ein vieldiskutiertes Thema ist das betreute Wohnen. Es gibt viele Menschen, die nicht allein leben können, sei es aus Altersgründen oder wegen einer Behinderung, aber auch wegen psychischer Beeinträchtigungen oder einer Sucht. Hier geht der Trend weg von Pflegewohngruppen. Vielmehr sollen diese Menschen punktgenau betreut und unterstützt werden, auch aus Kostengründen. Zu nennen ist sicher auch die elektronische Unterstützung. Dabei geht es darum, dank vernetzter Technik mehr Sicherheit im Wohnalltag zu bieten. Dass eine alleinlebende Person rasch merkt, wenn zum Beispiel der Herd nicht abgestellt ist. Das muss natürlich günstig sein und leicht zu bedienen. Dabei darf man aber nicht vergessen: Auch die jetzt älter werdende Generation ist eine IT-Generation geworden.