Experten des BWO über Wohnen in der Schweiz

«Das Wohnumfeld ist und bleibt wichtig»

Neue Wohnformen sind zwar vieldiskutiert – die meisten Menschen leben aber nach wie vor konventionell. Wie die aktuelle Situation aussieht und welche Trends sich durchsetzen könnten, erklären Martin Tschirren und Christoph Enzler vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO).

Interview und Bilder: Daniel Krucker | Dezember 2020

Wohnenextra: Der Bund muss sich gemäss Bundesverfassung dafür einsetzen, dass in der Schweiz alle Bevölkerungsgruppen eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden. Welche Rolle spielt dabei das BWO?


Martin Tschirren: Wohnen gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Das BWO ist deshalb stark präsent in der Wohnraumförderung. Das bekannteste Instrument dazu ist der Fonds de Roulement, der von den Verbänden Wohnbaugenossenschaften Schweiz und Wohnen Schweiz in unserem Auftrag verwaltet wird. Darüber hinaus haben wir vor allem zwei weitere Aufgaben: Zum einen sind wir zuständig für das Mietrecht. Wenn eine mietrechtliche Frage auftaucht, sind wir federführend bei der rechtlichen Ausarbeitung. Und zudem haben wir den Auftrag, uns mit grundlegenden wohnungspolitischen Fragen auseinanderzusetzen. Wir machen also Grundlagenforschung und pflegen Kontakte zu allen wichtigen Akteuren im Wohnungswesen, auch international.

Wird der Verfassungsauftrag der angemessenen Wohnraumversorgung auch im unteren Marktsegment wirklich erfüllt? Wie schätzen Sie das ein?

Christoph Enzler: Schaut man den gesamten Markt an, ist die Bevölkerung in der Schweiz im Schnitt gut mit Wohnraum versorgt. Haushalte mit eher tiefem Einkommen müssen jedoch einen grossen Teil ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Das können dreissig Prozent oder gar mehr sein. Etwa ein Viertel aller Haushalte gibt mindestens einen Viertel des Einkommens für das Wohnen aus. Das ist belastend und engt den finanziellen Spielraum stark ein. Im langjährigen Vergleich blieb die durchschnittliche Belastung über alle Haushalte hinweg zwar mehr oder weniger gleich. Nur kam das Haus­haltseinkommen früher meist von einem Lohn, während es heute oft aus zwei (Teilzeit-)Einkommen besteht. Wir beanspruchen aber auch immer mehr Wohnfläche. 1980 waren es 34 Quadratmeter pro Kopf, 2012 waren es schon 45. Dieser Trend hat sich in jüngerer Vergangenheit etwas abgeflacht. Wir sehen bei den Neubauten, dass die Wohnungsflächen nicht mehr grösser werden, sondern zum Teil eher wieder zurückgehen, denn jeder Quadratmeter kostet.

Wie und wo wohnen Herr und Frau Schweizer am liebsten?

C.E.: Die Schweiz ist immer noch ein Land der Mieterinnen und Mieter. Etwa 57 Prozent der Haushalte leben in einer Mietwohnung, knapp 38 Prozent in den eigenen vier Wänden und zirka 5 Prozent in einer Wohnung eines gemeinnützigen Wohnbauträgers.
M.T.: Das Bundesamt für Statistik macht eine Dreiteilung: Stadt, intermediärer Raum – also Agglomeration – und Land. Nimmt man diese Aufteilung, so leben 63 Prozent der Bevölkerung in einer Stadt, 21 Prozent im intermediären Raum und 16 Prozent auf dem Land.

Wissen Sie auch, welcher Wohnungstyp am beliebtesten ist?

C.E.: Das ist nicht einfach zu beantworten, denn die Wahl der Wohnung hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab. Je nach Lebensphase stehen ganz andere Kriterien auf der Wunschliste. Ein Blick aufs Zahlenmaterial zeigt, dass die durchschnittliche Woh­nung – hier sind auch Einfamilienhäuser mitgerechnet – in der Schweiz 3,8 Zimmer hat und eine Fläche von 99 Quadratmetern aufweist.

Wird mit der demografischen Entwicklung die Nachfrage nach so grossen Wohnungen abnehmen?

M.T.: Es ist klar, dass es in einer längerfristigen Perspektive in der Schweiz einen höheren Anteil an betagten und vor allem hochbetagten Menschen geben wird. Und dies hat auch Auswirkungen auf die Wohnungsnachfrage: Sie wird bei kleineren Wohnungen steigen. Was aber noch wichtiger ist für die ältere Generation, sind hindernisfreie Wohnungen oder die Qualität der Nahversorgung im Quartier.
C.E.: Es ist jetzt schon so, dass zwei Drittel der Haushalte Ein- oder Zwei-Personen-Haushalte sind. Die durchschnittliche Belegung einer Wohnung wird noch weiter sinken, und Wohnungen mit weniger Zimmern werden noch stärker nachgefragt. Allerdings dürfte die Entwicklung zu noch mehr Kleinhaushalten nicht unbedingt zu weniger Flächenverbrauch führen, denn mehr Kleinhaushalte verbrauchen nicht per se weniger Fläche.

Ein Treiber beim Flächenverbrauch könnte das Homeoffice sein. Allgemein geht man davon aus, dass Arbeiten von zu Hause aus auch nach der Pandemie nicht mehr verschwinden wird. Glauben Sie, dass dies zu einer verstärkten Nachfrage nach grösseren Wohnungen oder mehr Zimmern führt?

M.T.: Es kann durchaus sein, dass sich Leute deswegen mehr Raum wünschen. Auswertungen von Suchabos zeigen, dass in den vergangenen Monaten ein zusätzliches Zimmer, ein Balkon oder eine Terrasse stärker gefragt waren. Zudem gibt es auch erste Anzeichen, dass auch eine Wohnung in Frage kommen könnte, die weiter vom Arbeitsplatz entfernt liegt. Dennoch: Ein gutes Wohnumfeld ist und bleibt wichtig. Dazu gehören Standortqualitäten wie Zugang zu Grünflächen, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen oder eine ruhige Lage. Einen positiven Effekt könnte das Homeoffice auf die Entwicklung der reinen Wohnquartiere haben. Ich kann mir vorstellen, dass dort die Nahversorgung wichtiger wird, beispielsweise mit mobilen Verpflegungsmöglichkeiten wie Foodtrucks. Dies könnte auch zur Belebung beitragen.

Zu den bekannteren neuen Wohnformen gehören Clusterwohnungen. Wie schätzen Sie das Potential dieser Form des Zusammenlebens ein?

M.T.: Wir verfolgen das Thema mit gros­sem Interesse. Uns sind mindestens zwanzig Projekte bekannt, in denen Clusteransätze angewendet werden. Wie Sie sagen, sind Cluster noch eine ziemlich neue Wohnform und im Moment haben sie wohl noch einen Nischencharakter. Das Potential für mehr Clusterwohnungen ist aber vorhanden, auch wenn konkrete Prognosen zur Anzahl schwierig sind. Wir bleiben aber am Thema dran und wollen wissen, in welche Richtung es geht.