Lebendige und vielfältige Genossenschaftskultur

Gemeinsam stark

In der Schweiz spielen nicht nur Wohnbaugenossenschaften, sondern auch andere Genossenschaften eine wichtige Rolle. Ihre Wurzeln reichen bis ins Mittelalter, und bis heute sind sie stark in unserem Alltag präsent – von Schwimmbädern über Restaurants bis hin zu Arztpraxen. 

Text: Patrizia Legnini | Bilder: Seraina Boner, Interlaken Tourismus, Mobility Genossenschaft, Energie Genossenschaft Schweiz | 2024/03

Seit vier Uhr nachmittags hantiert Paolo D’Aniello hinter der Theke einer Kaffeebar in Winterthur mit Kaffeetassen und Weingläsern. Eine Pinsa Romana hat der Neapolitaner gerade in den Ofen geschoben, nun serviert er den Gästen Oliven und Prosecco. Vor vier Jahren ist der 40-Jährige, der eigentlich Buchhalter und Pflegehelfer ist, in die Schweiz gekommen und hat in Windeseile Deutsch gelernt. Im «Copi» in Winterthur fühlt er sich heute wie zu Hause; am liebsten sind ihm die Abende, an denen Konzerte, Lesungen oder Podiumsdiskussionen zu politischen Themen im Lokal stattfinden. Dann ist dort am meisten los.
Dass das «Copi» einer Konsumgenossenschaft gehört, die vor fast 120 Jahren von italienischen Migranten gegründet wurde, bekommen die Gäste nur mit, wenn sie die Schwarzweissfotos und die alte Menükarte an der Wand genauer betrachten. 1906 hatten sich die Italiener in der Stadt zusammengetan, um Lebensmittel aus der Heimat günstig kaufen und verkaufen zu können. Ein paar Jahre später führten sie neben einigen Lebensmittelläden auch ein Restaurant, und zu einer Fürsorgekasse kam ein Unterstützungsfonds für hilfsbedürftige Genossenschafter dazu.
Die Società Cooperativa Winterthur ist heute nur eine von knapp 8200 Genossenschaften in der Schweiz. Diese sind in allen Landesteilen vertreten, konzentrieren sich aber immer stärker in den städtischen Gebieten. Das ist auch auf die Popularität der Wohnbaugenossenschaften zurückzuführen. Neben der Bau- und Wohnbranche haben sich insbesondere der Detailhandel, das Finanzwesen mit Versicherungen und Banken, die Energiewirtschaft und die Landwirtschaft genossenschaftlich organisiert.

Vom Startup bis zum Riesenkonzern
Die Schweiz ist – auch im Vergleich mit ihren Nachbarländern – ein genossenschaftsreiches Land mit einer langen genossenschaftlichen Tradition. Bis heute sind Genossenschaften fest in der Gesellschaft, in Kultur und Wirtschaft verwurzelt; wir haben in fast allen Lebensbereichen mit Genossenschaften zu tun. Oft ist ihr Beitrag in der Öffentlichkeit aber nicht so sichtbar; wahrscheinlich auch darum, weil die allermeisten Genossenschaften klein oder mittelgross sind. So gibt es zum Beispiel Schwimmbäder, die genossenschaftlich organisiert sind, Brauereien und Kellereien, aber auch Zeitungsverlage, Buchhandlungen, Kinos, Restaurants, Theaterhäuser oder Museumsbahnen.
Mit den Detailhändlern Migros und Coop, der Agrargenossenschaft Fenaco (unter anderem mit Volg und Landi), der Raiffeisen-Bank und der Mobiliar-Versicherung sind aber auch gewichtige Schweizer Konzerne als Genossenschaft organisiert. Obwohl alle Genossenschaften insgesamt nur ein Prozent der Unternehmen in der Schweiz ausmachen, beschäftigen die zehn grössten über vier Prozent der Erwerbstätigen und tragen elf Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Allein für die Migros arbeiten fast 100 000 Menschen. Auch international haben Genossenschaften eine grosse Bedeutung als Arbeitgeberinnen und Wirtschaftsfaktor. Schätzungen zufolge bieten sie weltweit 280 Millionen Arbeitsplätze. In Entwicklungsländern sind Finanzgenossenschaften für Mikro-Kredite oft die wichtigsten Geldgeber.

Seit 300 Jahren kommen im Justistal im Berner Oberland beim Alpabzug die Bauern verschiedener Alpgenossenschaften zusammen, deren Kühe auf den Alpen gesömmert haben. An der «Chästeilet» wird der von den Alphirten produzierte Käse fair aufgeteilt.

Ein Mensch, eine Stimme
In der Schweiz geht die Zahl der Genossenschaften seit einigen Jahren leicht zurück, wie Idée Coopérative, das Kompetenzzentrum für Genossenschaften in der Schweiz, im Genossenschaftsmonitor 2024 festhält. Allerdings werden auch regelmässig neue gegründet, oft Wohnbaugenossenschaften. So zählt der zentrale Firmenindex seit 2020 rund 460 neu eingetragene Genossenschaften. «Das zeigt, dass die Genossenschaft eine aktuelle und keineswegs auslaufende Rechtsform ist», sagt Elias Maier, Geschäftsführer von Idée Coopérative. Doch wodurch zeichnen sich Genossenschaften grundsätzlich aus? Genossenschaften oder Kooperativen sind demokratisch strukturierte Selbsthilfeorganisationen. Zu ihnen schliessen sich Personen oder Unternehmen zusammen, die gemeinsam wirtschaftliche oder soziale Interessen verfolgen und sich von dieser Zusammenarbeit einen Mehrwert versprechen – etwa den, Kosten zu sparen. Anders als bei Kapitalgesellschaften hängt die Geschäftspolitik nicht von den wirtschaftlichen Interessen aussenstehender Investoren ab, sondern nur von denjenigen der Mitglieder.
Genossenschafter:innen gestalten und bestimmen also mit. Im Unterschied zu Aktiengesellschaften sind alle Genossenschaftsmitglieder gleichermassen stimmberechtigt, unabhängig von der Anzahl Genossenschaftsanteile am Genossenschaftskapital. Sie sind somit nicht nur Kund:innen, sondern auch Besitzer:innen der Genossenschaft.

«Fünf S» der Genossenschaftsidee
Die sogenannten «fünf S» bilden die Genossenschaftsidee gut ab: Es geht um Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung, Solidarität und Selbst- respektive Mitbestimmung. Besonders hochgehalten wird letztere etwa bei der Energie Genossenschaft Schweiz aus Bern. Dort setzt man auf die Soziokratie, eine Organisationsstruktur, die von der Gleichberechtigung der Individuen ausgeht; eine Entscheidung kann nur getroffen werden, wenn niemand einen schwerwiegenden Einwand hat. «So stellen wir sicher, dass alle Mitarbeitenden gleichwertig an Beschlüssen mitwirken können, was zu besseren Entscheidungen und einer stärkeren Identifikation mit unseren Zielen führt», sagt Geschäftsleiter Thomas Feldmann. Die Genossenschaft plant und installiert seit 2012 Photovoltaikanlagen für Häuser. Sie wurde kurz nach der Fukushima-Katastrophe in Japan von einer Gruppe engagierter Personen gegründet.
Zwar müssen sich Genossenschaften ebenfalls im Wettbewerb behaupten, und auch sie streben nach Wachstum. Ein erwirtschafteter Gewinn wird nachhaltig in die Genossenschaft reinvestiert. Eine Auszahlung von Gewinnen an Genossenschafter (analog der Dividendenzahlung an Aktionäre) ist nur möglich, wenn die Statuten das ausdrücklich vorsehen. Bis heute haben Genossenschaften auch den Anspruch, dem Allgemeinwohl zu dienen. In der Regel verhalten sie sich verantwortungsbewusst und werteorientiert; den meisten sind eine nachhaltige und langfristige Ausrichtung und gesellschaftliches Engagement wichtig.

Die Ziele von Genossenschaften sind nachhaltig und orientieren sich nicht an kurzfristigen Gewinnen. Genossenschaftlich organisiert ist zum Beispiel nicht nur die Energie Genossenschaft Schweiz, sondern auch das grosse Carsharing-Unternehmen Mobility.

Eine Arztpraxis für das ganze Dorf
Grundsätzlich sind Genossenschaften dort besonders sinnvoll, wo ein grosses öffentliches Interesse besteht oder wo es um die Versorgung mit existenziell wichtigen Gütern und Dienstleistungen geht. Das ist etwa bei der wirtschaftlichen Landesversorgung der Fall. Sie soll die Bevölkerung bei Mangellagen etwa mit Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Reis, Speiseölen und Getreide versorgen, die in verschiedenen Pflichtlagern gelagert werden. Diese Pflichtlagerhaltung ist in der Schweiz genossenschaftlich organisiert, was weltweit einzigartig ist.
Aus einem gesellschaftlichen Bedürfnis heraus entstand vor zwölf Jahren in Ebnat-Kappel (SG) auch die wohl erste Arztpraxis der Schweiz, die als Genossenschaft organisiert ist. «Sie geht auf eine Bürgerinitiative aus den Kreisen der bürgerlichen Ortsparteien zurück», sagt Genossenschaftspräsident Emil Aerne. Die Nachfolgeregelung für Hausärzte sei in der Gemeinde ein dringliches Problem gewesen, und man habe überlegt, wie eine private, selbsttragende Lösung ohne Beteiligung der Behörden aussehen könnte.
Heute praktizieren in der Gemeinschafts-praxis eine Hausärztin und ein Hausarzt, ein Zahnarzt und eine Zahnärztin sowie zwei Physiotherapeutinnen. «Sie sind alle in der Genossenschaft eingemietet, benutzen gemeinsam die medizinische Infrastruktur der Genossenschaft und arbeiten weiterhin als Selbständigerwerbende. Dadurch sind ihre Investitionskosten tiefer, und sie geniessen eine hohe Arbeitszeitflexibilität», so Aerne. «Das Genossenschaftsmodell bewährt sich bestens.»

Lange Tradition

In der Schweiz existieren Genossenschaften bereits seit dem 13. Jahrhundert. Schon im Mittelalter gab es etwa Beerdigungs­genossenschaften, um den Genossen ein angemessenes Begräbnis zu ermöglichen, aber auch bäuerliche Interessengemeinschaften und Alpgenossenschaften zur gemeinsamen Nutzung von Weiden und Wald. Arbeiten wurden zusammen organisiert, Erzeugnisse und Ernte geteilt. Bis heute ist die Alpwirtschaft an vielen Orten gemeinschaftlich organisiert.
Das moderne Genossenschaftswesen entwickelte sich mit der Industrialisierung zu Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte in Grossbritannien beginnt, wo auch die Arbeiterbewegung ihren Anfang nahm. Von sozialen Utopisten und Pionieren angeregt, die sich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbei-ter:innen einsetzten, wurden bald überall Konsumgenossenschaften, aber auch Wohn- und Baugenossenschaften gegründet. 1895 hoben Teilnehmende aus 13 Ländern den Internationalen Genossenschaftsbund (IGB) aus der Taufe, und die weltweite Genossenschaftsbewegung entwickelte sich zu einer pazifistischen und internationalistischen Kraft. Auch in der Schweiz stieg die Zahl der Genossenschaften Ende des 19. Jahrhunderts stark an. 1941, als in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, erfuhr die Bewegung hierzulande die nachhaltigste Ausdehnung: Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler und seine Frau Adele verwandelten die Migros von einer Firma in eine Genossenschaft, indem sie die Anteilscheine an 100 000 Kundinnen und Kunden verschenkten.