Spielen wie Momo in ­stadtzürcher Innenhof

Versteckte ­Oase in alten ­Gemäuern

Mitten im Zürcher Kreis 5 überdauert ein lauschiger Ruinenspielplatz die Zeit. Mit der Idee, ein Gebäude im Klingenhof nur unvollständig abzubrechen, gewann der Architekt in den 1970er-Jahren einen Wettbewerb. Für seinen Entwurf hatte er sich von einem Kinderbuchklassiker inspirieren lassen.

Text und Fotos: Patrizia Legnini | 2024/01

Auf bunt besprayten Mauerresten wachsen im Klingenhof in Zürich Löwenzahn und Moose, kleine Treppen führen auf Podeste und wieder hinunter. Neben verschiedenartigen Eingängen, Gruben, Nischen, Durchschlüpfen und Schrägen animieren auch gros-se Steine und Geländer zum Klettern und Verstecken; die vielen Graffitis zeigen Regenbögen, Flamingos, Pandas und Monster in allen Farben. Mit seinen alten Gemäuern und Bäumen bietet der Innenhof, der von den Strassen her nicht einsehbar ist, Ruhe vor dem Grossstadtrummel. Und er ist wohl der wildeste und zugleich poetischste Spielplatz der ganzen Stadt. Seit über zwanzig Jahren wohnt Christine Le Pape Racine beim Klingenhof ganz in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs. Der ehemaligen Sekundarlehrerin und Professorin bedeutet der Spielplatz, der der Stadt gehört, sehr viel: Sie liebt es, von ihrer Wohnung im dritten Stock der Block-randbebauung das Treiben im Hof zu beo-bachten, wo unter anderem Kirschbäume und ein Aprikosenbaum wachsen. «Während es nachts im Innenhof sehr ruhig ist, wird er tagsüber von recht vielen Menschen besucht», sagt sie. Immer wieder seien auch Kinder da, die von den umliegenden Kindertagesstätten kämen. Aber auch Mütter hielten sich mit ihren Kindern oft im Klingenhof auf. «Über den Mittag picknicken hier Lernende und Berufsschülerinnen, während andere Jugendliche auf dem Platz in der Mitte Fuss- oder Basketball spielen.» In der wärmeren Jahreszeit seien auch die Gartenwirtschaften zweier Restaurants gut besucht.

«Momo» im Amphitheater
Anlass für die Entstehung des Spielplatzes war Mitte der 1970er-Jahre eine Hinterhofsanierungskampagne der Stadt, mit der Innenhöfe attraktiver gestaltet, die Wohnlichkeit in den Quartieren verbessert und neue Freiräume geschaffen werden sollten. Am städtischen Architekturwettbewerb für die Neugestaltung des Klingenhofs beteiligte sich 1977 auch der Architekt René Haubensak. Er schlug vor, die zwei alten Handwerkerbuden im Hof nur teilweise abzubrechen. Der Ruinenspielplatz sollte den Kindern einen weiten Spielraum eröffnen, in dem sie ihre Fantasie entfalten und Wasser, Feuer und Erde direkt erleben konnten, wie in Zeitungsartikeln von damals nachgelesen werden kann.
Bei seinem Entwurf liess sich der Architekt von Michael Endes «Momo» inspirieren. Protagonistin des Romans ist ein mittelloses Mädchen, das am Rande einer Grossstadt in den Ruinen eines Amphitheaters lebt. Momo fallen immer wieder neue Spiele ein; in ihrer Fantasie verwandelt sich die Ruine etwa in ein Schiff, auf dem sie mit ihren Freundinnen und Freunden als Forschungsreisende unterwegs ist. Tatsächlich schaffte es Haubensak, die Expertenkommission von den kreativen Möglichkeiten seiner Spielruine zu überzeugen. Und wie geplant liess der Architekt 1978 bei der Umgestaltung Teile der Aus-senmauern der Hofgebäude mit Fensterdurchblicken und Treppen sowie Kiesflächen und einen Brunnen stehen. «Das Resultat ist ein gestalterisch nicht genau definierter Ort, der die in der Zeit vorherrschende Natursehnsucht aufgreift und als Ruinenästhetik inszeniert», heisst es in einer Publikation der Gartendenkmalpflege der Stadt Zürich. Sie hat den Klingenhof 2013 ins Inventar der schützenswerten Gärten und Anlagen von kommunaler Bedeutung aufgenommen.

Gruben, Nischen, Durchschlüpfe, Schrägen und ganz viel Farbe: Auf den bemalten Ruinen im Klingenhof finden Kinder unzählige Möglichkeiten zum Spielen.

In eine andere Welt eintauchen
«Der Klingenhof ist wirklich einzigartig», sagt auch Tünde Thalmeiner, die bis vor Kurzem als Gartendenkmalpflegerin bei Grün Stadt Zürich gearbeitet hat. Im Rahmen der Europäischen Denkmaltage 2023 hat sie eine Führung zum Klingenhof durchgeführt. Und sie ist auch persönlich vom Ort angetan. «Der Spielplatz ist farbig und sehr grün. Wenn man in den Hof hineinkommt, hat man das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Durch die Bemalungen und Graffiti, die hier erlaubt sind, erlebt man den Klingenhof zudem als Raum, in dem ein bisschen andere Regeln gelten als anderswo; als ein Ort von grosser Freiheit.» Dass der Spielplatz so lange kaum verändert worden sei, mache einen wichtigen Aspekt seiner besonderen Schönheit aus. «Er ist wie ein Kunstwerk aus einer anderen Zeit, dem man Sorge tragen muss.» Tatsächlich erlebte der Klingenhof auch schwierigere Zeiten. 1991 arbeitete Haubensak ein Konzept zur Instandstellung und zur Reaktivierung des Klingenhofs aus, nachdem dieser immer häufiger von Drogenabhängigen aufgesucht worden war. «Zu jener Zeit ging auf dem Klingenhof vieles kaputt. Weil Abfall, Scherben und Spritzen herumlagen, wurde das Spielen für Kinder gefährlich und unattraktiv», sagt die Gartendenkmalpflegerin. Nach verschiedenen Mottbränden habe man die Feuerstelle zugemauert, und Hauseigentümer und Mietende verlangten eine nächtliche Schliessung der Durchgänge zum Hof. Schliesslich seien auch der Brunnen abgestellt und der Sandkasten geleert worden. «Die Anwohnenden wurden damals auf eine Geduldsprobe gestellt», so Thalmeiner. Doch Ende der 1990er-Jahre kehrte auf dem Klingenhof allmählich wieder Ruhe ein.

Neue Spielgeräte als Wermutstropfen
2007 gab Haubensak nach einer längeren Diskussion seinen Segen zu einer weiteren Sanierung der Anlage; diese hatte sich nicht zuletzt aufgedrängt, weil auf dem Spielplatz das Wasser nicht mehr ablaufen konnte. Dass im Rahmen diverser Umgestaltungen ältere Spielgeräte entfernt wurden, die nicht mehr den Sicherheitsnormen entsprachen, und teils neue aufgestellt wurden, ist für Thalmeiner ein Wermutstropfen. «Weil der Garten erst spät inventarisiert wurde, gibt es heute ein paar Spielgeräte dort, die nicht ins Bild passen.» Christine Le Pape Racine sieht die Veränderungen gelassener. «Hin und wieder werden die Mauern von Kindern neu bemalt. Aber das Spielen an und für sich hat sich über die Zeit eigentlich nicht verändert.»

Kunst im Klingenhof

Der Klingenhof hat schon viele Künstler inspiriert. 2005 setzten die Filmemacherin Beatrice Michel und ihr Mann Hans Stürm ihm mit einem Dokfilm ein Denkmal. 2013 schenkte Christine Le Pape Racine der Stadt Zürich ein Kunstwerk von Pavel Schmidt. Der Künstler hatte in ihrem Auftrag zwei Skulpturen erschaffen und sie auf bestehende weis-se Säulen gesetzt. 2018 schmückten Memed Kivrak, Sengül Kivrak und Anna Egli mit elf Bildern von Persönlichkeiten aus aller Welt eine Mauer im Klingenhof. Die Porträts sind bis heute dort zu sehen. Im Rahmen des Projekts Hofgesang treten im Klingenhof auch immer wieder Chöre auf. Die nächsten Konzerte finden am 28. Mai und am 4. Juni statt.