Region Bern-Solothurn: Genossenschaften wollen wieder wachsen

Kooperieren und wachsen

Wie schaut der genossenschaftliche Aufschwung in Biel aus? Sind Arealentwicklungen für Thun ein valables Modell? Was tut sich in der Peripherie? Ein Blick in die Region.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Christoph Gerber, Thomas Bürgisser | November 2021

Der Regionalverband Bern-Solothurn ver­tritt über 180 Wohnbaugenossenschaften mit knapp 20 000 Wohnungen. Fast drei Viertel davon befinden sich in und um Biel, Bern und Thun. Die drei Städte besetzen schweizweit Topränge beim Anteil Genossenschaftswohnungen: Biel liegt hinter Spitzenreiterin Zürich auf dem zweiten Platz, Bern und Thun belegen mit je rund 10,5 Prozent die Ränge fünf und sechs. Allerdings sind diese Anteile am Sinken. Das könnte sich nun aber ändern.
Abseits der grösseren Gemeinden bestehen in der Region viele weisse Flecken auf der Genossenschaftslandkarte. Tupfen darin setzen Orte mit meist nur einer Genossenschaft und überschaubarem Be­stand. Dennoch haben in den letzten Jahren gerade auf dem Land gemeinnützige Projekte Impulse gesetzt. Die Initiative kam oft aus der Bevölkerung, weil etwa Wohnungen für ältere Menschen fehlten oder Gebäude nach einer Umnutzung riefen. Mit Masse punk­ten solche Vor­haben zwar nicht. Dafür geben sie spezifische Ant­worten auf den lokalen Bedarf.
In Gimmelwald oder Beatenberg et­wa sind es alte Schulhäuser, die die engagierte Dorfbevölkerung mit einer Genossenschaftsgründung rettet und zu Wohn- und Begegnungsorten umnutzt. In Twann und Aegerten haben Private Genossenschaften ins Leben gerufen, um fehlende Alterswohnungen zu schaffen. In Langnau im Emmental wird gerade ein Generationenhaus mit 20 bar­riere­freien Wohnungen gebaut, das mit Mehrzweckraum und Spielplatz auch der Bevölkerung offen steht. Und auch in Hasliberg will eine junge Genossenschaft zwei Generationenhäuser mit 24 Wohnungen, Dorfladen, Café und Mehrzweckraum erstellen.

Biel
Die genossenschaftliche Tradition Biels reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Heute sind in Biel und Umgebung gut 30 Genossenschaften mit 4000 Wohnungen aktiv. Der Marktanteil lag in Spitzenzeiten bei fast 20 Prozent, in zwanzig Jahren sank er auf 13,7 Prozent. Vier Fünftel der Genossenschaftsbauten stammen aus der Zeit von 1945 bis 1970 und stehen auf städtischem Baurechtsland. Um die Weiterentwicklung an­zugehen, traten die Genossenschaften mit der Stadt in einen Dialog. Die IG-Biel des Regionalverbands lancierte 2014 erfolgreich eine Doppelinitiative, um die Gemeinnützigen zu stärken und ihnen die Hälfte des Gurzelenareals zu sichern. Eine Charta und ein städtisches Reglement regeln nun die langfristige Zusammenarbeit und die Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Erklärtes Ziel ist, dass sein Anteil bis 2035 wieder bei 20 Prozent liegen soll. Dafür wurden eine gemeinsame Arbeitsgruppe sowie ein mit fünf Millionen Franken dotierter Förderfonds geschaffen.

Projekte
Die vermehrte Zusammenarbeit der Bieler Genossenschaften untereinander und mit der Stadt trägt Früchte. Bei der grössten städtischen Brache, die entwickelt wer­den soll, dem Gurzelenareal beim ehe­maligen Fussballstadion, wird die erste Tranche «Blumenstrasse Süd» vollständig gemeinnützig überbaut. Dafür gründeten letztes Jahr sechs gemeinnützige Bauträger die Baugenossenschaft Gurzelenplus – eine Premiere für Biel. Das gilt auch für die partizipative Entwicklung. Gurzelenplus will bis 2025 ein Leuchtturmprojekt umsetzen. Vorgesehen sind innovative ökologische Wohnangebote für etwa 230 Menschen sowie Ateliers, Gewerbe- und Gemeinschaftsflächen.
Auch beim Geysiried-Quartier im Süden der Stadt gehen acht Genossenschaften neue Wege und spannen zusammen. Um Ideen für die Quartierentwicklung ge­meinsam zu entwickeln und um zu skizzieren, wie Erneuerung und Verdichtung unter Erhalt der bestehenden Qualitäten aussehen könnten, nehmen die Genossenschaften zusammen mit der Stadt an «Europan 16» teil, einem europäischen Wohn- und Städ­tebauwettbewerb. Gefragt sind unter anderem partizipative Ansätze. Die Ergebnisse werden auf Ende Jahr erwartet.
Ob auch das Agglolac-Vorhaben dereinst zu den genossenschaftlichen Erfolgsgeschichten zählt, ist offen. Auf dem ehemaligen Expo02-Gelände planten die Gemeinden Biel und Nidau zusammen mit der Mobimo ein neues Quartier mit bis zu 700 Wohnungen, ein Viertel davon gemeinnützig. Nach zehnjähriger Planung und heftigen Kontroversen zum Pro­jekt – zu exklusiv, zu dicht – haben diesen Frühling die beiden Parlamente das Projekt versenkt. Wie es weitergeht, diskutieren sie 2022. Die Genossenschaften fordern einen höheren Anteil an gemeinnützigen Wohnungen und mehr Freiraum.
Auch bereits umgesetzte Projekte zeugen von Aufbruchstimmung. Um das erste grosse Ersatzprojekt im Kanton zu stem­men, gründete die Traditionsgenossenschaft Mettlenweg die Coopérative Narcisse Jaune. Diese wagte für die Region Neues: Ihre 2016 bezogene Siedlung Les Amis mit 138 Wohnungen bietet neben Gemeinschaftsräu­men innovative Extras wie Einkaufs- und Fahrdienst, Fitnessbereich und Kinderbetreuung. Um neue Woh­nformen ging es 2010 den Gründerinnen und Grün­dern der FAB-A. 2014 konn­ten sie ihre autofreie Siedlung mitten in der Stadt beziehen, die mit 19 unkonven­tionellen Woh­nungen und gemeinschaftlichen Flächen punktet. Menschen in der zweiten Lebenshälfte hatte die 1925 gegründete Biwog bei ihrem ersten Neubau nach über fünfzig Jahren im Fokus. Seit 2017 bietet die Muttimatte in Brügg 27 hindernisfreie Wohnungen und viel Raum für gemeinschaftliche Aktivitäten.

Bei ihrem ersten Ersatzbau nach über fünfzig Jahren konnte die Biwog in Brügg dringend ­benötigten Wohnraum für ältere Menschen schaffen.

Thun
Auch Thun hat einen relativ hohen Anteil an Genossenschaftswohnungen. In zehn Jahren sank er allerdings von 13 auf 10,4 Pro­zent. Es gibt 16 Genossenschaften mit rund 2400 Wohnungen. Die Hälfte des Bestands stammt aus der Zeit von 1945 bis 1979, die Häuser stehen mehrheitlich auf städtischem Baurechtsland. In den letzten zwanzig Jahren wurde kaum gebaut; die meisten Thuner Genossenschaften kämpfen mit Nachwuchsproblemen. Die Erneuerungsplanung ist ein grosses Thema.
Nachdem die Stadt lange auf den gehobenen Wohnungsmarkt setzte, hat in den letzten Jahren ein vorsichtiges Umdenken eingesetzt. 2016 hat die Stadt ihre Wohnstrategie 2030 veröffentlicht, die festhält, der gemeinnützige Anteil solle gehalten oder ausgebaut werden. Dafür müssten pro Jahr mindestens 70 Genossenschaftswohnungen gebaut werden. Für die Umsetzung hat die Stadt einen Kooperationsvertrag mit dem Regionalverband ab­geschlossen und eine Anlaufstelle ge­schaffen. 2018 haben die Stadt und acht Thuner Genossenschaften eine Charta un­ter­schrieben, die wohn­poli­tische und räumliche Entwicklungsziele um­schreibt. Im Zentrum steht die Abgabe von Baurechtsland. Die laufende Orts­pla­nungsrevision sieht einen neuen Artikel vor, laut dem bei einer Überbauungsordnung oder einer Zone mit Planungspflicht Mindestanteile an gemein­nützigem Wohnungsbau festgelegt werden können.

Projekte
Vor diesem Hintergrund wird über die Ent­wicklung verschiedener Areale nachgedacht. Spruchreif ist wenig, die Chancen für die Gemeinnützigen stehen aber so gut wie lange nicht mehr. Beispielsweise beim Bostudenzelg. Auf dem grossen, unbebauten Areal im Stadtteil Schoren, das zur Hälfte der Stadt gehört, könnten bis zu 600 Wohnungen entstehen. Wer diese bauen wird, steht noch nicht fest. Die lokalen Genossenschaften erwägen jedenfalls, ähnlich wie die Bieler eine Dop­pelinitiative zu lancieren, um den städtischen Arealteil für den gemeinnützigen Wohnungsbau zu sichern. Acht von ihnen haben sich auch bereit erklärt, über 300 Wohnungen zu bauen.
Zur Diskussion steht auch die Umwandlung des Siegenthalerguts, wo am südwestlichen Stadtrand auf vorwiegend landwirtschaftlich genutztem Grund ein neues Quartier geplant ist. Die Stadt hat dazu eine öffentliche Mitwirkung und eine Bevölkerungsbefragung durchgeführt. Das Richtkonzept sieht einen Park und verschiedene Angebote für durchmischtes Wohnen vor, wobei ein «sub­stanzieller Anteil» gemeinnützig sein soll. Bis wann die nötige Zonenänderung und Masterplanung vorliegen, ist offen.
Auch das Freistattareal im Länggassquartier wird sein Gesicht in den nächsten Jahren verändern. Der Stadt schwebt ein Leuchtturmprojekt mit 200 Wohnungen vor. Auf einem Arealteil steht die Siedlung von Thuns ältester Genossenschaft Freistatt mit 111 Wohnungen. Sie wird nun teilweise ersetzt und verdichtet, voraussichtlich bis 2025. Die Stadt führt derzeit zusammen mit der Freistatt und der städtischen Pensionskasse, der zweiten involvierten Bauträgerin, den Archi­tekturwettbewerb durch. Der erste genossenschaftliche Ersatzbau in Thun wurde übrigens 2017 von der Bau- und Wohngenossenschaft Nünenen an der Feldstrasse realisiert, die damit 27 familientaugliche Wohnungen bereitstell­te.

Kanton Solothurn
In der Kantonshauptstadt ist der Anteil an Genossenschaftswohnungen bescheiden. Eine Option könnte sich nun aber auftun: Vor Längerem hat die Stadt das Weitblickareal erwor­ben und als wichtiges Entwicklungsgebiet definiert. Hier soll ein neuer Stadtteil mit Wohnungen für 1700 Menschen, ebenso vielen Arbeitsplätzen, Grünräumen und Freizeitnutzungen für Leben sorgen. Das weckte 2010 das Interesse einer Gruppe, die 2013 die Genossenschaft Weitwohnen gründete. Zusammen mit der gemeinnützigen Logis Suisse AG möchte sie eine Parzelle übernehmen und dort 60 Woh­nungen in einer autofreien, generationendurchmischten Siedlung erstellen. Nachdem sich die städtischen Planungen über Jahre hingezogen haben, könnte es jetzt konkret werden: Eine Ortsplanungsrevision läuft, nach ihrem Abschluss werden die Baufelder ausgeschrieben – allenfalls schon nächstes Jahr.
Das halbe Dutzend Genossenschaften in Olten verfügt über rund 900 Wohnungen, vorwiegend aus den 1940er- und 1950er-Jahren. Wenige Projekte wurden seither entwickelt. Neue Perspektiven und innovative Wohnformen will nun der 2017 gegründete Verein Lebendige Oltner Nachbarschaft (Leona) einbringen, der sich ans Konzept Le­benswerte Nachbarschaften (Lena) anlehnt. Leona möchte einen gemeinwohl­orien­tierten Wohn- und Lebensort für etwa 100 Menschen schaffen und dafür eine Genossenschaft gründen. Die Gruppe ist aktiv unterwegs und steht im Austausch mit anderen Genossenschaften, bis jetzt ist es ihr aber nicht gelungen, zu zahlbarem Land zu kommen. Sie hofft nun auf das neue räumliche Leitbild der Stadt, das in der Vernehmlassung steht und auch die Umnutzung von Arealen vorsieht.