Erste Wohnbaugenossenschaften zertifizieren nach SNBS

Ein roter Faden für nachhaltiges Bauen

Wer nachhaltig bauen will, kann seit gut einem Jahr ein Um- oder Neubauprojekt nach dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) zertifizieren. Zu den ersten, die sich daran gewagt haben, gehören Wohnbaugenossenschaften. Eine Bestandesaufnahme.

Von Christine Steiner* | Bild: SGE | Oktober 2017

Für viele Wohnbaugenossenschaften ist nachhaltiges Bauen schon lange eine Selbstverständlichkeit. Kein Wunder also, gehören sie nun zu den ersten, die sich an den neuen Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS, siehe Box) heranwagen. Insgesamt wurden bisher 14 Projekte für die Zertifizierung eingereicht. Gleich mit drei Vorhaben dabei ist die Siedlungsgenossenschaft Eigengrund (SGE) aus Zürich: mit einer Sanierung, einem Ersatzbau und einem Neubau (siehe Boxen Seite 20). Alle drei Projekte betreffen relativ grosse Überbauungen in der Stadt Zürich.

Zertifizieren, weil es zur Vision passt
Das Engagement beim nachhaltigen Bauen entspricht der Vision der SGE. Sie verpflichtet sich zu einer ökologischen, wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Entwicklung. Was das konkret heisst, erklärt Barbara Pataky, Architektin und Projektleiterin: «Die SGE will Massstab sein für gutes Wohnen. Sie baut auch für die kommenden Generationen. Deshalb schafft sie günstigen Wohnraum, der die Bedürfnisse verschiedener Lebensphasen und Familienformen abdeckt.» Um ein lebendiges Wohnumfeld zu schaffen, bietet sie zudem auch dem Gewerbe Räume an und engagiert sich für eine naturnahe Aussenraumgestaltung.
Grundsätzlich könnte die SGE ihre Bauvorhaben mithilfe des SNBS einer kostenlosen Selbst­beurteilung unterstellen. Sie hat sich aber für die aufwändigere kostenpflichtige Zertifizierung entschieden. Zum einen hängt das mit der kantonalen Wohnbauförderung zusammen. Um in den Genuss der vollen Unterstützung zu kommen, muss nach einem anerkannten Standard zertifiziert werden – im Kanton Zürich etwa nach einem Minergie-Standard. Weil die Anforderungen von Minergie-Eco weitgehend im SNBS integriert sind, verursacht die Doppelzertifizierung nach Minergie und SNBS keinen grossen Zusatzaufwand.
Hinzu kommt, dass auch die Stadt Zürich, die der SGE die Grundstücke im Baurecht zur Verfügung stellt, klare Vorgaben bezüglich Nachhaltigkeit macht. Sie fordert entweder einen Nachweis, dass ein bestimmtes Niveau erreicht wird, oder aber ein entsprechendes Zertifikat. Letzteres dürfte oft sinnvoll sein, weil es Mehrwerte generiert, beispielsweise in Form einer besseren Immobilienbewertung. Interessant an der Zertifizierung findet Barbara Pataky auch, dass sie es ermöglicht, Projekte untereinander zu vergleichen.

Objektivierung möglich
Die SGE hat bereits klare Vorstellungen vom nachhaltigen Bauen entwickelt, bevor sie den SNBS angewandt hat. Bei ihren Projekten schliesst sie schon seit Längerem entsprechende Zielvereinbarungen mit den Planenden ab. Im Lauf der Arbeiten mit dem SNBS hat sich gezeigt, dass die eigenen Zielvorgaben gut mit dem SNBS harmonieren. So wurde beispielsweise bei der Überbauung Obsthaldenstrasse bis Ende Vorprojekt mit dem eigenen Raster gearbeitet. Ab Start Bauprojekt wurde das Bisherige probehalber mit dem SNBS 2.0 bewertet. Resultat war eine sehr beachtliche Gesamtnote 4,9. Damit gibt sich die SGE aber nicht zufrieden, sie möchte eine Note über 5 erreichen, was dem SNBS-Zertifikat «Gold» entspricht.
Die Beteiligten sind sich einig, dass bei den beiden Neubauten keine grösseren Probleme im Zusammenhang mit dem SNBS aufgetaucht sind. Dazu beigetragen haben dürften laut Barbara Pataky die Erfahrungen, die die SGE bereits früher mit Minergie-Eco sammeln konnte. Als Vorteil des SNBS nennt sie die Objektivierung der Arbeit: Der SNBS liefert ein Raster, das alle drei Nachhaltigkeitsbereiche Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft abdeckt und systematisiert. So bildet er einen roten Faden durch den komplexen Prozess des nachhaltigen Bauens. Richtig angewendet, helfe der SNBS zudem, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Bei der SGE geht man davon aus, dass er zu langfristig besseren Entscheidungen beiträgt. Ein Beispiel ist das Mobilitätskonzept für die Obsthaldenstrasse. Hier half er, die Anzahl Parkplätze in einer Tiefgarage zu optimieren. Keinen grossen Einfluss hatte die Arbeit mit dem Standard indessen auf den Umgang mit weichen Aspekten wie der Partizipation, sagt Jérôme Gaberell, SGE-Geschäftsführer. Das hängt damit zusammen, dass sich die Genossenschaft selbst eine Strategie verordnet hat, die die Handhabe solcher Faktoren regelt. Erfreulich sei es aber, festzustellen, dass sich die Anforderungen des SNBS weitgehend mit denen der eigenen Strategie deckten.

Mehrkosten – und finanzielle Vorteile
Die Zertifizierung führt zu Mehrkosten. Für die SGE war dies allerdings kein Hinderungsgrund. Erstens ist sie der Meinung, dass es oft besser ist, zunächst etwas mehr Geld in die Hand zu nehmen, damit einen später nicht hohe Betriebskosten einholen. Zweitens verursacht eine seriöse Nachhaltigkeitsüberprüfung bei Bauprojekten auch ohne Zertifizierung Aufwand und Kosten. Drittens war ohnehin geplant, die Neubauprojekte nach Minergie-Eco beziehungsweise Mi­nergie-P-Eco zu zertifizieren. Der zusätzliche Aufwand für die SNBS-Zertifizierung kann zwar nicht genau beziffert werden. Er wird aber von der SGE als «dem Nutzen angemessen» ein­geschätzt. Grundsätzlich erhalten Bauherrschaften zudem Rabatte auf die Zertifizierungskosten, wenn sie gleichzeitig nach SNBS und Minergie-Eco zertifizieren.
Dem Mehraufwand für die Zertifizierung stehen auch handfeste finanzielle Vorteile gegenüber. Im Kanton Zürich etwa erhöht sich die Limite der Erstellungskosten bezüglich der kantonalen Wohnbauförderung um fünf Prozent, wenn nach Minergie-P-Eco zertifiziert wird. Damit steigt auch der mögliche Kreditbetrag.

Wenig flexibel bei geschützten Bauten
Während die Arbeit mit dem SNBS bei den beiden SGE-Neubauten glatt vonstattenging, tauchten bei der Sanierung der Siedlung Winzerhalde, die aus den 1980er-Jahren stammt, einige Probleme auf. Knackpunkt: Das Doppelschalenmauerwerk mit fünf Zentimetern Dämmung entsprach nicht den heutigen Anforderungen. Weil aber die Fassade mit ihrer sichtbaren Betontragstruktur und Sichtbacksteinausfachungen denkmal­geschützt ist, kam keine Aussendämmung infrage.
Das führte bei der Zertifizierung zu Komplikationen, beispielsweise weil die Anforderungen für Raumluftqualität, winterlichen Wärmeschutz und Primärenergieverbrauch im Betrieb nicht erfüllt werden konnten. Grundsätzlich verlangt der SNBS, dass bei allen Nachhaltigkeitsdimensionen mindestens die Note 4 erreicht wird. Zwar sind bei Erneuerungen Ausnahmen vorgesehen, dazu zählen die erwähnten Aspekte allerdings nicht. Derzeit wird nach Lösungen gesucht. Unter Umständen könnte die geplante, aber noch nicht realisierte Wärmeversorgung Abhilfe schaffen. Sie soll Wärme von der nahe gelegenen Abwasserreinigungsanlage Werdhölzli beziehen.
Gregor Scherrer vom Architekturbüro Fahrländer Scherrer Architekten AG hat die Zertifizierung bearbeitet. Aufgrund der gemachten Erfahrungen hält er den SNBS bei Sanierungen von denkmalgeschützten Gebäuden für zu unflexibel. Auch erscheint ihm der Aufwand im Fall der Winzerhalde mit der relativ kleinen Eingriffstiefe eher zu hoch.

Auch ohne mechanische Lüftung
Interessant sind auch die Erfahrungen von zwei weiteren Genossenschaften. Die eine ist die Wogeno Pumera aus dem bündnerischen Almens. Sie plant dort auf einer knapp 3000 Quadratmeter grossen Parzelle eine Überbauung mit rund zwanzig Wohnungen in verdichteter Bauweise. Ziel ist es, günstigen und ökologischen Wohnraum mit einem hohen Mass an Mitbestimmung zu vereinen. Insbesondere soll sich das Projekt gut mit dem intakten und teilweise geschützten Dorfbild von Almens vertragen. Gemäss Genossenschaftspräsident Urs
Chiara würde man gerne nach SNBS zertifizieren, der gut zu den eigenen Zielen passe. Für den SNBS spreche zudem, dass die Zertifizierung nicht unbedingt eine kontrollierte Lüftung voraussetzt.
Derzeit noch unklar ist indessen, wie sich die Anforderungen rund um die Mobilität erfüllen lassen. Im Wesentlichen geht es um die Versorgung mit dem täglichen Bedarf. Hierfür gäbe es in der näheren Umgebung von Almens zwar gute Einkaufsmöglichkeiten in Form von Bio-, Dorf- und Hofläden. Ob das dem SNBS genüge, sei aber noch unklar. Für die Zertifizierung spreche prinzipiell, dass sie Druck aufbaue, die eigenen Ziele zur Nachhaltigkeit auch wirklich zu erreichen, so Urs Chiara. Gegen sie spreche, dass sie für die Genossenschaft auf den ersten Blick keinen wesentlichen Vorteil biete – ausser hinsichtlich der Fördermittel. Aber inwiefern die Wogeno Pumera solche will, wird zurzeit noch diskutiert. Ungewiss ist ferner, welche Zusatzkosten durch die Zertifizierung insgesamt entstehen.

Für Verzicht entschieden
In Wilderswil bei Interlaken hat sich die Genossenschaft Lebensraum Belmont ebenfalls mit dem SNBS befasst. Sie plant die Umnutzung und Erweiterung eines alten Hotels und hat auf einer Nachbarparzelle bereits ein Familienhaus erstellt. Wie Renate Sträuli, im Vorstand für Bau und Finanzen zuständig, erklärt, passen die Vorgaben des Standards gut zu den Zielen der Genossenschaft. Auch sie will nachhaltig bauen, aber keine kontrollierte Wohnungslüftung installieren. Dass sie sich am Ende gegen die Zertifizierung entschieden hat, lag vor allem daran, dass noch keinerlei Erfahrungen damit vorhanden waren; Spatenstich war im Oktober 2016, als die Zertifizierung erst zwei Monate lanciert war. Befürchtet hat man vor allem, dass der Aufwand unverhältnismässig hoch geworden wäre. Gegen den SNBS habe zudem gesprochen, dass er den Betrieb der Gebäude nicht abdecke. Das ist der Genossenschaft aber wichtig, weil sie ausdrücklich auch neue Formen des Wohnens und Zusammenlebens realisieren will. Und die können sich natürlich auf den Betrieb auswirken.
Die bisherigen Projekte zeigen: Die Zertifizierung von Neubauten nach SNBS ist für Baugenossenschaften gut handhabbar. Er hilft, nachhaltiges Bauen zu systematisieren, und bietet einen roten Faden durch den Prozess. Einen Vorteil hat sicher, wer bereits selber klare Vorstellungen zur Nachhaltigkeit entwickelt und Erfahrungen mit anderen Standards wie Minergie-Eco gemacht hat. Je früher man sich mit dem Standard auseinandersetzt, umso besser klappt es später bei der Umsetzung.

* Christine Steiner, Architektin ETH, ist Vorstandsmitglied des Netzwerks Nachhaltiges Bauen Schweiz (NNBS)

Wie funktioniert der SNBS?

Der SNBS definiert als erster Schwei­zer Baustandard die drei Nachhaltigkeits-dimensionen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft umfassend. Er wurde 2013 lanciert und basiert weitgehend auf bestehenden Instrumenten (unter anderem Norm SIA 112/1, SIA-Effizienzpfad Energie, Minergie, Eco-Bau). Er kann samt zugehörigen Tools von Bauherren kostenlos zur Selbstbeurteilung genutzt werden. Seit August 2016 besteht zudem die Möglichkeit einer kostenpflichtigen Zertifizierung.
Mit dem SNBS lassen sich die bauliche Qualität von Gebäuden und ihr Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung einschät­zen sowie Verbesserungs-potenziale erkennen. Einbezogen werden Planung, Bau und teilweise Betrieb. Beurteilt wird nicht nur das 

Gebäude selbst, sondern auch sein Standort. Anhand von 45 Indikatoren werden die Nachhaltigkeits-dimensionen mit Noten von 1 bis 6 bewertet. Für eine Zertifizierung braucht es bei jedem Indikator eine Note 4, bei Sanierungen gibt es aber einige Ausnahmen.
Anwendbar ist der SNBS für Neu- und Umbauten. Die Kosten für die Zertifizierung liegen je nach Grösse und Nutzungsart zwischen 17 500 Franken (Wohngebäude mit weniger als 5000 m2 Fläche) und 37 500 Franken (gemischte Nutzung mit mehr als 50 000 m2). Wer gleichzeitig nach Minergie oder Minergie-Eco zertifiziert, erhält Rabatte.

Weitere Informationen:
www.snbs.ch | www.snbs-cert.ch
www.nnbs.ch