Begegnungsorte in Grosswohnsiedlungen am Beispiel des Tscharnerguts in Bern

Eine Nachbarschaft mit Geschichte

In neuen Wohnüberbauungen lebendige Nachbarschaften zu schaffen, ist anspruchsvoll. Im Tscharnergut in Bern spielte der Gemeinschaftsgedanke schon bei der Planung vor 70 Jahren eine wichtige Rolle. Mit der Zeit haben sich die Bedürfnisse der Bewohner und die Angebote verändert. Doch bis heute sind gemäss einer Studie des ETH Wohnforums engagierte Akteure und Institutionen, die konstruktiv zusammenarbeiten, von grosser Bedeutung.

Von Eveline Althaus und Leonie Pock (ETH Wohnforum) | Bilder: Deborah Baeriswyl, Bruno Bucheli, Werner Zwahlen | 2022/05

Gemeinschaft und Begegnung entstehen nicht allein aufgrund baulicher Strukturen. Noch wichtiger sind die Akteure und Institutionen, die sich aktiv um die Gemeinschaftsinfrastruktur kümmern – über Jahre hinweg. Das bestätigt eine neue Studie am ETH Wohnforum, die im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts «PuSH» durchgeführt wurde. Während zwei Jahren untersuchte das Team öffentliche Räume, Begegnungsorte und Qualitäten des Zusammenlebens in Grosswohnsiedlungen. Neben der Telli in Aarau stand auch das Tscharnergut in Bern im Fokus. Die Forschung ging unter anderem der Frage nach, was aus dem Gemeinschaftsgedanken der Planung geworden ist, wie die Bewohnenden die kollektiven Räume einschätzen und welche Rolle Wohnbauträger, Quartierakteure und die öffentliche Hand dabei spielen. Dazu wurden unter anderem über 60 Interviews mit Bewohnenden, Verwaltung, Wohnbauträgern, städtischen Behörden und Quartiersakteuren geführt (siehe Box unten).
Vor 70 Jahren noch eine grüne Wiese, leben heute über 2600 Menschen im Tscharnergut. Mehr als ein Drittel der Bewohnenden ist über 65 Jahre alt, 42 Prozent besitzen eine ausländische Staatsangehörigkeit. Damit ist die Wohnbevölkerung der Grossüberbauung deutlich älter und diverser als im städtischen Durchschnitt. Das Internationale gehörte von Anfang an dazu, wobei es anfänglich vor allem Migrantinnen und Migranten aus südeuropäischen Ländern waren, die im Tscharnergut ein Zuhause fanden. Entsprechend den Migrationsströmen in die Schweiz haben sich die Herkunftsländer immer mehr ausdifferenziert. «Hier wohnen Leute aus aller Welt, und das finde ich schön», berichtet etwa eine junge Frau*, die vor einigen Jahren aus der Türkei in die Schweiz geflohen ist. «Neulich war ich für einige Tage bei Freunden in einem kleinen Dorf zu Gast. Dort habe ich mich fremd gefühlt, hier im Tscharnergut nicht. Hier kann man so sein, wie man ist.»

Mit dem Quartier verbunden
Filme wie der 1979 noch auf Super 8 gedrehte «Tscharniblues» und der 40 Jahre später realisierte Nachfolgefilm «Tscharniblues II» sowie der in der Siedlung aufgewachsene Musiker Büne Huber der bekannten Mundartrockband Patent Ochsner machten das «Tscharni» als Ort der kreativen Köpfe bekannt. Und noch heute scheinen die Verbundenheit und Identifikation der Bewohnenden mit der Grosswohnsiedlung und allgemein mit Bern-West ungewöhnlich stark zu sein.
In zahlreichen Interviews betonen die Bewohnenden, dass man in der Siedlung immer miteinander in Kontakt kommen könne, wenn man das wünsche. Förderlich ist dabei die gemeinschaftliche Infrastruktur. Zwar gibt es bei der Nutzung der geteilten Räume immer mal wieder Spannungen, etwa in der Waschküche oder wegen Ruhestörungen oder Littering. Trotzdem wohnen die meisten Bewohnerinnen und Bewohner sehr gerne in der Siedlung. Dass diese ein verkehrsfreies und mit dem Tram und Zug gut erschlossenes Gebilde ist, schätzt beispielsweise eine 76-jährige Bewohnerin, die in den 1980er Jahren eingezogen ist. Sie gibt an, sich nicht vorstellen zu können, jemals wieder weg zu ziehen. Tatsächlich sind viele ältere Bewohnende auch nach der Familienphase und dem Verlust von Partnern in ihren Wohnungen geblieben. Demografische Alterung und Unterbelegung von Wohnungen sind die Folge, mit denen sich die Wohnbauträger heute auseinandersetzen müssen. Diese hatten das vormals landwirtschaftlich genutzte Land 1955 mit hundert Jahren Baurecht von der Stadt Bern erhalten.

Das Klettergerüst ist Teil des 2015 renovierten Spielplatzes. Das Foto wurde - genau­so wie die nachfolgenden - von einem Bewohnenden beim Fotowettbewerb zum Thema «Leben im Tscharni» eingereicht. Diesen hat das Forschungsteam 2021 zusammen mit dem Quartierzentrum durchgeführt.

Ein Pionier in vielerlei Hinsicht
Im Zuge der akuten Wohnungsnot war das Ziel, günstigen Wohnraum insbesondere für Familien mit Kindern zu erstellen. Noch heute ist das Tscharnergut vorwiegend in der Hand von Gemeinnützigen: Der Genossenschaft Fambau gehören vierzig, der Genossenschaft Brünnen-Eichholz dreissig Prozent der Liegenschaften. Die restlichen Wohnungen besitzen die Pensionskasse der Stadt Bern und die Stiftung Unia. Bereits in der Planungsphase schlossen sich die verschiedenen Wohnbauträger zur Koordination mit der Einwohnergemeinde Bern in der Tscharnergut Immobilien AG (TIAG) zusammen. Anders als in anderen Grosswohnsiedlungen mit vielen verschiedenen Eigentümern ist diese als einziges Organ für den Betrieb und den Unterhalt der gemeinsam genutzten Anlagen, Grünanlagen und Plätze zuständig.
Das Tscharnergut wurde von 1958 bis 1965 gebaut und war eine der ersten Grosswohnsiedlungen der Schweiz. Ihr Pioniercharakter lässt sich auch daran festmachen, dass das Architektenkollektiv um Hans und Gret Reinhard für die Gesamtüberbauung von Anfang an soziale Anliegen in die Planung miteinbezogen hatte. Gemeinschaftsräume für Spiel-, Begegnungs-, Sport- und Freizeitaktivitäten, ein Ladenzentrum und Restaurant sowie der zentrale Quartierplatz sollten den sozialen Zusammenhalt stärken und es den Menschen leichter machen, sich in der damals noch ungewohnten Wohnform der Grosswohnsiedlung rasch einzuleben und wohlzufühlen. Dazu gehörten auch grosszügige Grünflächen zwischen den Wohnblöcken und Autofreiheit innerhalb der Siedlung. Besonderes Anliegen des Architektenkollektivs war der Bau eines Freizeitzentrums für das Quartier. Als erstes seiner Art in der Schweiz spielte es eine Pionierrolle für nachfolgende Gemeinschaftszentren sowie für die Entwicklung der Gemeinwesenarbeit in Bern. Dass diese Bemühungen gefruchtet haben und sich bald ein reges Quartierleben entwickelte, zeigt die Studie «Wohnort Grossüberbauung» von Elisabeth Bäschlin zur Geschichte des Tscharnerguts auf.

Eine «sinnvolle» Freizeitgestaltung
Die vielfältigen Aussenräume und Gemeinschaftsinfrastrukturen kompensierten die schon damals relativ kleinen Dreieinhalbzimmerwohnungen, die in den 1960er-Jahren als Standard-Familienwohnungen galten. Als ausgesprochen familienfreundliche Siedlung geplant, sollten sich die Kinder auf Spielplätzen und der Spielwiese austoben und dank einem kleinen Zoo in Kontakt mit Tieren aufwachsen können – die Hausordnung untersagte das Halten von Haustieren. Für die Erwachsenen boten das Restaurant, die Bibliothek oder die Gemeinschaftsräume und Freizeitwerkstätten des Quartierzentrums Kontaktmöglichkeiten. Hinter dem reichhaltigen Freizeitangebot stand auch eine normativ-erzieherische Absicht der damaligen Behörden: Kinder und Eltern sollten ihre Freizeit mit «sinnvollen» Aktivitäten verbringen und «fragwürdigen Unterhaltungs- und Vergnügungsunternehmen» fernbleiben.
Das «Freizeitproblem» war in der Nachkriegszeit durch die Einführung der Fünftagewoche und durch die Verkürzung der Arbeitszeit aufgekommen. Dessen ungeachtet hatte der soziale Gedanke hinter dem Tscharnergut grosse Strahlkraft und wirkte in vielerlei Hinsicht pionierhaft. Dazu trug insbesondere die professio­nelle Gemeinwesenarbeit des Quartierzentrums Tscharni bei, die von den 1960er-Jahren bis heute vom Gedanken getragen wurde, eine lebendige Nachbarschaft zu fördern, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen und sie dabei zu unterstützen, eigene Initiativen zu ent­wickeln. Eine solche Initiative war etwa der «Wulchechratzer», eine Quartierzeitung, die seit 1963 von einer Gruppe von Quartierbewohnenden herausgegeben wird, oder die Unterstützung bei der Grün­­dung eines der ersten Mütterzentren der Schweiz.
In den vergangenen sechzig Jahren haben sich viele der Begegnungsorte im Tscharnergut verändert. Die Freizeitwerkstätten bieten der Wohnbevölkerung heute nicht nur die Möglichkeit, sich handwerklich zu betätigen, sondern haben sich der Nachfrage angepasst. Sie ­bieten auch einen Lehrbetrieb, geschützte Arbeitsplätze sowie handwerkliche Dienstleistungen und Produkte an. Das Quartierzentrum in seiner heutigen Form wiederum wurde in den 1970er-Jahren gebaut und Mitte der 1980er-Jahre umgebaut. Seine Angebote und die Quartierarbeit haben sich im Laufe der Jahre den wechselnden Bedürfnissen aus der Wohnbevölkerung angepasst. Fanden dort in den 1960er-Jahren vor allem Aktivitäten und Veranstaltungen für Familien und Kinder statt, werden heute eher Tanzveranstaltungen, Kartenspielabende oder ein Mittagstisch für Seniorinnen und Senioren abgehalten, was von diesen sehr geschätzt wird. Aber auch von verschiedenen Gruppen und Quartierbewohnenden aus aller Welt wird das Quartierzentrum rege genutzt. So hat dort eine tamilische Bewohnerin während der Coronapandemie etwa ein Projekt zur Nachbarschaftshilfe für ältere, tamilische Menschen im Quartier lanciert.

Mehr als ein Wohnort – die Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich ihrer Siedlung verbunden.

Räume für Jugendliche sind rar
In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden im Quartierzentrum mehrheitlich Aktivitäten für die vielen Jugendlichen im Quartier durchgeführt. Die Jugenddiscos im Tscharnergut entwickelten damals eine grosse Anziehungskraft – am Wochenende trafen sich jeweils um die 600 Jugendliche. Der 1980 gegründete Jugendtreffpunkt «Martello» blieb ein beliebter Aufenthaltsort auch für Jugendliche aus den angrenzenden Quartieren, wurde allerdings im Jahr 2019 aufgrund von Problemen mit Jugendlichen respektive mangelnder Lösungsansätze im Umgang damit geschlossen. Heute machen sich fehlende Räume für Jugendliche im Quartier vereinzelt in nächtlichen Lärmkonflikten, Vandalismus und Beschwerden über Littering in den Aussenräumen bemerkbar. In der kälteren Jahreszeit haben die Liegenschaftsverwaltungen deshalb auch schon einen privaten Sicherheitsdienst zum Patrouillieren im öffentlichen Raum beauftragt. Pläne zur Wiedereröffnung des Jugendtreffs im Tscharnergut gibt es allerdings keine.
Nicht spurlos ist der Wandel der Zeit auch am einst gutlaufenden Ladenzentrum vorbeigegangen. Insgesamt wirkt dieses heute veraltet und kämpft immer wieder mit Leerständen. Die Apotheke, die Post, ein Imbiss und ein kleiner Supermarkt werden allerdings von vielen Bewohnenden geschätzt. «Dass ich nicht weit gehen muss, um kleine Besorgungen zu erledigen, finde ich sehr praktisch», sagt etwa ein älterer Bewohner.

Der Glockenturm wird renoviert
Während Plätze für Jugendliche rar sind und die vielen Dreieinhalbzimmerwohnungen für Familien heute meist zu klein, bietet das Tscharnergut Kindern nach wie vor viele Möglichkeiten. 2015 hatte die Stadt Bern beschlossen, die Spielplatzanlagen grundlegend zu sanieren und kleinere Spielplätze zugunsten eines neuen grossen, attraktiven Spielplatzes aufzuheben. Der Planungsprozess wurde unter Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt. In den letzten zwei Jahren der Coronapandemie erwies sich der Spielplatz mit gedeckten Sitzplätzen als intensiv genutzter und geschätzter Begegnungsort. Grosser Beliebtheit erfreuen sich ausserdem der seit den 1960er-Jahren bestehende Kleintierzoo mit Eseln, Ziegen und Hühnern und die anderen Spielorte im Gelände wie der Schlittelhügel, der rote Platz beim Schulhaus und der Spielbrunnen im Sommer. Das Wahrzeichen des Tscharnerguts, der Glockenturm auf dem zentralen Platz, wird zurzeit renoviert; sein Glockenspiel wird diesen Sommer wieder zu hören sein.
Die Quartierinfrastruktur gehört heute neben den günstigen Mieten und der internationalen Atmosphäre zu den Qualitäten des Tscharnerguts. Die vielseitig gestalteten Begegnungsorte und grünen Aussenräume haben massgeblich dazu beigetragen, dass sich in der Grosssiedlung über die Jahre hinweg eine lebendige Nachbarschaft herausgebildet hat.
Von Bedeutung war dabei, dass die Stadt mit der Vergabe des Baurechts und im Planungsprozess, aber auch mit Leistungsverträgen für das Quartierzentrum von Anfang an gute Voraussetzungen hierfür geschaffen hatte. Die Eigentümerstruktur spielt ebenso eine wichtige Rolle, stehen doch für die gemeinnützigen Wohnbauträger der Wert gemeinschaftlicher Anlagen und der soziale Gedanke bis heute nicht zur Debatte. Sie investieren viel in die öffentlichen und kollektiv geteilten Aussenräume, was sich offenbar auszahlt. Von Vorteil ist auch, dass die Eigentümer unter einer Dachorganisation miteinander verbunden sind und kollektive Anliegen gemeinsam entscheiden müssen.
Das Beispiel Tscharnergut zeigt: Eine konstruktive Koordination und zielgerichtete Zusammenarbeit unter den verschiedenen Wohnbauträgern und ein Engagement seitens der öffentlichen Hand sind für Grosssiedlungen von grosser Bedeutung. Nur so gelingt es, dass sich die Quartierarbeit, lokale Vereine und Initiativen sowie engagierte Bewohnende weiterhin für Gemeinschaftsbildung und lebendige Nachbarschaften und somit für einen Mehrwert über die Siedlungsgrenzen hinaus einsetzen können.

* Alle Aussagen der Bewohnenden stammen aus den Interviews

Zum Projekt des ETH Wohnforums

Im PUSH-Projekt arbeiteten insgesamt vier Forschungsteams zu sozialem Wohnungsbau und Grosswohnsiedlungen in der Schweiz, in Norwegen, Dänemark und Italien. Der Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz unterstützt das Team des ETH Wohnforums als Kooperationspartner. Dieses präsentierte seine Erkenntnisse aus über 60 Interviews mit Bewohnenden, Verwaltung, Wohnbauträgern, städtischen Behörden und Quartiersakteuren sowie aus Beobachtungen vor Ort, Dokument- und Medienanalysen und Kartierungen in vier themenspezifischen Ausstellungen und Workshops.
In partizipativen Schul- und Quartiersprojekten brachten die Teilnehmenden ihre Perspektive auf das Leben in Grosswohnsiedlungen mit ein. Das Forschungsprojekt schliesst im Herbst 2022 mit der Publikation der Resultate auf der Projektwebseite www.pushhousing.eu sowie auf www.wohnforum.arch.ethz.ch ab.