Die Arbeitersiedlung Zelgliacker der Gemiwo AG in Windisch (AG) wird vierzig

Radikale Arbeitersiedlung

Mit der Reihenhaussiedlung Zelgliacker wagten Architekten der Metron AG vor vierzig Jahren ein Experiment: Dank Reduktion aufs Notwendigste senkten sie Baukosten und Mieten auf ein Minimum. Damit boten sie Menschen mit geringem Einkommen eine Alternative zu Wohnungen in Grossüberbauungen – und Gestaltungsspielräume sowie Mitsprache. Die Siedlung war Auslöser für die Gründung der gemeinnützigen Gemiwo AG.

Von Thomas Bürgisser | Bilder: Thomas Bürgisser, Metron | Dezember 2021

Am 1. Oktober 1981 bezogen 22 Erwachsene und 26 Kinder ihr neues Zuhause in der Arbeitersiedlung Zelgliacker in Windisch (AG). Die zwölf Reihenhäuser mit je 109 Quadratmetern Wohnfläche verteilt auf drei Etagen waren damals noch eher Rohbauten. Die tragenden Wände präsentierten sich in rohem Kalksandstein, die Decke in Beton, ebenso wie der Boden im Dachgeschoss und sämtliche Treppen. Einzig der Parkettboden, eine schlichte Küchenzeile, das Badezimmer sowie eine Gästetoilette wurden zur Verfügung gestellt. Wer mehr wollte, musste selber Hand anlegen. Dank tiefem Ausbaustandard, der Reduktion auf das absolut Notwendige und Bundessubventionen lagen die Anfangsmietzinse im Gegenzug bei lediglich 690 Franken pro Monat.
Die Reihenhäuser basierten auf den Bedürfnissen der damaligen Arbeiterinnen und Arbeiter in den umliegenden Industriebetrieben. Denn dort hatte das Architekturbüro Metron AG zuvor Befragungen durchgeführt. Ziel: Auch Arbeiterfamilien sollten eine Alternative zu den Wohnungen in Grossüberbauungen haben. «Ich glaube, bei Metron hatte man ein bisschen genug von den damals weit verbreiteten Einfamilienhaus-Auftraggebenden aus der Mittelschicht. Man wollte etwas Neues wagen», erzählt Stephan Bircher, Geschäftsleiter der Gemeinnützigen Mietwohn AG (Gemiwo AG). Sie ist Besitzerin der Reihenhäuser. Für ähnliche Projekte wählten andere zwar häufig die Form einer Genossenschaft. Nicht so aber beim Zelgliacker. Hier brachte die Metron AG das erforderliche Eigenkapital selber ein und gründete später die Gemiwo AG. «Ein allfälliges Genossenschaftskapital hätten Arbeiterfamilien kaum aufbringen können. Zudem wollte man mit diesem Experiment zeigen, dass auch ein klassischer Investor sozialverträglich bauen kann. Dabei blieb die Entscheidungskompetenz jederzeit bei Projektverfasser und Investor. Die Mitsprache der Bewohnenden konzentrierte sich auf den Ausbau der Mietobjekte sowie das Zusammenleben.»

Die Grundrisse von Erd- sowie Obergeschoss zeigen den ­spar­samen Umgang mit Raum. Auf Verkehrsflächen wurde ­weitgehend verzichtet.

Nicht allen behagt die Nähe gleich gut
Anstatt Kapital investierten die Bewohnerinnen und Bewohner also Eigenleistung in ihr Zuhause. Dachgeschosse und Keller wurden ausgebaut, Gipswände eingezogen und wieder verschoben oder rausgenommen. Es wurde gestrichen, tapeziert und getäfert. Da zuerst die eigenen vier Wände verschönert wurden, mussten die Umgebungsarbeiten vorerst noch warten. Neben der befürchteten «Gettoisierung» ihres Einfamilienhausquartiers war der Nachbarschaft zu Beginn denn auch besonders die karge Umgebung ein Dorn im Auge. Längst aber ist die Siedlung in der Nachbarschaft integriert, und zwischen den Häuserzeilen ist ein abwechslungsreicher Gemeinschaftsbereich entstanden. Während der kleine Garten auf der Hausrückseite jeweils Privatbereich ist, trifft man sich im gemeinsamen Hof zum Grillieren, Plaudern und Spielen. Die verglasten Hauseingangstüren stellen dabei eine direkte Verbindung zu den Wohnbereichen her. So hat man aus der Wohnküche nicht nur die spielenden Kinder im Blick, sondern auch die Nachbarschaft.
«Eine Nähe, die nicht in jeder Lebensphase behagt, wie sich mit den Jahren gezeigt hat. Das könnte mit ein Grund sein, wieso viele nach dem Auszug der eigenen Kinder irgendwann ebenfalls weiterziehen», sagt Bircher. Nie ein Thema waren Massnahmen im Falle einer Unterbelegung. Sie würden auch erschwert durch fehlende Alternativangebote und einen umfassenden Kündigungsschutz. Dieser war den Initianten ein grosses Anliegen und besteht bis heute. Bei der Auswahl von Neumietenden sind jedoch Kinder und Einkommen weiterhin Hauptkriterien. An Interessentinnen und Interessenten mangelt es dabei kaum, auch wenn es nicht mehr 160 wie zu Beginn sind.

Eindrücke aus den Anfängen des Zelgliackers. Gut sichtbar sind die rohen Ziegelwände. Bewohnende konnten den Innenausbau weitgehend selber gestalten.

Der Mieterverein bestimmt mit
Ganz alleine bestimmt die Gemiwo die Nachmietenden aber nicht. Sie legt dem Mieterverein eine Vorauswahl vor, das letzte Wort haben die Bewohnerinnen. Der Mieterverein ist das zentrale Mitbestimmungsorgan der Siedlung, die Mitgliedschaft aller Mietenden ist Pflicht. Über ihn tauscht sich die Gemiwo mit den Bewohnern aus, innerhalb des Vereins wird das Zusammenleben organisiert und über den jährlichen Gemiwo-Beitrag von 1200 Franken für Anschaffungen verfügt. Dafür sind die Mietenden auch selber zuständig etwa für das Wischen des Laubs oder Schneiden der Sträucher. «Sobald aus den Büschen aber Bäume werden, sind wieder wir als Eigentümerin in der Verantwortung, weshalb wir zwischenzeitlich eingreifen müssen», räumt Bircher ein.
Auch in anderen Bereichen zeigten sich mit den Jahren Grenzen der Selbstbestimmung. So bei den qualitativ hochwertigen Innenausbauten, in die Mietende viel investiert haben; gemäss Mietvertrag werden diese beim Auszug nicht entschädigt. Dass manche Bewohnerinnen in den Anfangsjahren trotzdem versuchten, Nachmietern den Vorzug zu geben, die ihnen eine Entschädigung zahlten, war ernüchternd. Heute geht die Gemiwo teilweise auch bei ausserterminlichen Kündigungen selber auf die Suche nach Mietenden für eine Vorauswahl.

Über die Jahre hat sich der Ausbaustandard angehoben. 2002 und 2005 hat die Gemiwo alle Küchen und Bäder erneuert. Aktuelle Aufnahmen, die zum Jubiläum entstanden.

Unsachgemässer Innenausbau
Ebenfalls zeigte sich, dass in den vierzig Jahren nicht immer sachgemäss ausgebaut wurde. So wurden beispielsweise Kalksteinmauern mit Kunstharzfarbe gestrichen, Tapeten mit Teppichleim an den Wänden angebracht oder Täfer unschön verlegt. Grössere Schäden am Rohbau seien dadurch nie entstanden, erzählt Bircher. «Wir können auch nicht alles kontrollieren, einiges sehen wir erst beim Mieterwechsel.» Bei weit zurückliegenden Baufehlern drückt man nun in der Regel ein Auge zu und übernimmt zugunsten der Werterhaltung die Kosten für den Rückbau und die Instandsetzung.
Ein Gestaltungsrecht haben die Mietenden aber weiterhin, sofern die Arbeiten professionell ausgeführt werden. Zum Zug kommt das vor allem noch in den Gärten. Denn inzwischen hat die Siedlung ihre Pionierphase hinter sich gelassen. Über die Jahre hat sich der Ausbaustandard langsam angehoben, Unterschiede zwischen den Häusern sind höchstens noch auf den zweiten Blick auszumachen. Grosszyklische Erneuerungen von Küchen und Bädern in den Jahren 2002 und 2005 wurden durch die Gemiwo organisiert und finanziert, ebenso die energetische Erneuerung der Gebäudehülle 2010. Dabei waren hin und wieder auch lieb gewonnene Ausbauten und Details aus Eigenleistungen betroffen, was teilweise zu Missstimmung führte. «Die Verantwortung für den Erhalt einer guten Grundsubstanz war aber immer schon Sache der Gemiwo. In dieser Hinsicht war das Mitspracherecht von Beginn weg bewusst eingeschränkt.»

2010 hat die Gemiwo die Gebäudehüllen energetisch erneuert. Der Charakter der Siedlung blieb ­unverändert. Neben dem gemeinsamen Hofraum verfügen die Häuser auch über einen kleinen ­Privatgarten.

Experiment geglückt?
Trotz aller Hürden: Als gescheitert sieht Bircher das Experiment keinesfalls. «Die Liegenschaften sind seit vierzig Jahren der Spekulation entzogen, mit 1528 Franken brutto sind die Kostenmieten noch immer tief, und mit zehn Kindern und vielen jungen Familien ist das Hauptzielpublikum gut vertreten.» Zudem habe das Recht zum Mitgestalten zu einer starken Identifikation mit der Überbauung geführt und zu einer überdurchschnittlichen Mietdauer von rund zehn Jahren. «Vor allem aber war die Siedlung auch der Grundstein für die Gemiwo, die ohne dieses Projekt nicht wäre, was sie heute ist», unterstreicht der Gemiwo-Geschäftsleiter die Erfolge.
Tatsächlich ist die Siedlung Zelgliacker nicht das einzige Projekt der Gemiwo geblieben. Neben verschiedenen Bewirtschaftungsmandaten – unter anderem von der Wogeno Aargau – gehören zur Gemiwo heute insgesamt neun eigene Liegenschaften mit über siebzig Wohnungen und 15 Ateliers und Gewerberäumen. Die meisten von ihnen widerspiegeln zumindest einen Teil der Zelgli-Idee, wenn auch für andere Zielgruppen. Die Häuser bedienen eine Nische im Wohnungsmarkt, von der Papiermühle bis zum Wohlfahrtshaus. Sie alle wurden langfristig der Spekulation entzogen, ob gekauft und renoviert oder neu erstellt. Die Mietenden bezahlen Kostenmieten, dürfen in den Wohnungen und im Aussenbereich innerhalb eines bestimmten Rahmens selbst gestalten und haben über die einzelnen Mietervereine ein Mitentscheidungsrecht. «Diese Beispiele zeigen, dass auch ein klassischer Investor sozialverträglich bauen und verwalten kann, wie es die Ursprungsidee war.» Diese möchte die Gemiwo künftig noch an weiteren Orten verwirklichen – finanziert durch grosse und kleine Investoren, die sich mit diesen Zielsetzungen persönlich identifizieren können. «Nur unsere Mietenden können laut Statuten nicht Aktio­näre werden, damit die Unabhängigkeit der Gemiwo als Entscheidungsträgerin sichergestellt ist.»

Im Geschäftsbericht 2020 porträtiert die Gemiwo die aktuellen Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Zelgliacker und blickt auf die Entstehungsgeschichte zurück. Er kann in elektronischer oder gedruckter Form (solange Vorrat) bestellt werden über info@gemiwo.ch.