Nutzung und Gestaltung von Gemeinschaftsräumen sind im Wandel

Lebendige Orte der Begegnung

Lange stellten Genossenschaften Gemeinschaftsräume fertig ein­gerichtet zur Verfügung – genutzt wurden sie aber oft kaum. Seitdem die Bewohnenden vermehrt mitreden, werden Konzepte grundlegend überdacht. Wohnen wollte wissen, wie der Gemeinschaftsraum der Zukunft aussieht und ob es ihn überhaupt noch gibt.

Von Daniel Krucker | Bilder: zVg, Alessandro Fischer, Daisuke Hirabayashi, Andreas Mader, Stefano Schröter, Martin Stollenwerk

Gemeinschaftsräume sollten eigentlich Orte der Begegnung sein, die Beziehungen in einer Siedlung fördern. Die Realität sieht aber häufig anders aus. Mercedes Nötzli leitet die Soziokultur bei der Zürcher Siedlungsgenos­senschaft Eigengrund (SGE) und sagt: «Die Bezeichnung Gemeinschaftsraum ist eigentlich falsch, weil dort meistens private Veranstaltungen stattfinden.» Von anderen Verantwortlichen aus den Geschäftsstellen tönt es ähnlich: Viele Gemeinschaftsräume würden vor allem für private Zwecke wie Geburtstagsfeiern oder für Angebote wie Yogalektionen oder Spielgruppen genutzt.
Um wieder näher an die Idee des Gemeinschaftlichen zu kommen, muss die Planung und Gestaltung von Gemeinschaftsräumen neu gedacht werden, sagt Andreas Wirz, Architekt und Vorstandsmitglied des Regionalverbands Zürich von Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Er berät und begleitet seit Jahren gemeinnützige Bauträger bei Entwicklungsprozessen. Mitbestimmung lautet für ihn die Devise der Stunde. Auch er stellt den Begriff Gemeinschaftsraum zur Diskussion, denn: «Viele haben eine fixe Idee, was das sein soll. Das ist bereits die erste Falle.» Andreas Wirz spricht lieber von ertragsfreien Flächen. Diese können sich im Aussenraum befinden, auf der Dachterrasse oder im Eingangsbereich. Für ihn ist es nicht einmal zwingend, dass es einen Raum im herkömmlichen Sinn gibt. Viel wichtiger sei, dass gemeinschaftliche Flächen Charakter hätten und einladend seien. Und, sagt er: «Je nach Grösse des Projekts sollte die Ini­tia­tions­phase professionell begleitet werden.»

Ohne Partizipation geht es nicht (mehr)
Neu gedacht werden die Gemeinschaftsräume auch bei der grössten Genossenschaft der Schweiz, der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ). Regula Dopmann ist verantwortlich für die Siedlungs- und Quartierarbeit und erklärt, dass die ABZ seit einigen Jahren den Siedlungen gemeinschaftlich genutzte Räume im erweiterten Edelrohbau übergibt. Die Räume sollen von Anfang an funktionieren, sind aber nicht fertig eingerichtet, und auch die Nutzung ist nicht definiert. Beides wird mit den Menschen in den Siedlungen festgelegt. Das brauche Zeit, und es sei nicht immer einfach, solche Prozesse zu begleiten, sagt Regula Dopmann. «Manche wünschen sich möglichst viele Freiheiten, während andere klare Regeln bevorzugen.» Da gelte es, jeweils gute Lösungen auszuhandeln.
Einen partizipativen Ansatz verfolgt auch die Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ). Sie gehört mit rund 2000 Wohnungen ebenfalls zu den Grossen der Branche. In jeder ihrer Überbauungen kümmert sich eine Siedlungsgruppe um alle Fragen des Zusammenlebens, wie René Fuhrimann, Teamleiter Fachbereich Zusammenleben, erzählt. Die Genossenschaft ihrerseits animiere und bringe ihre Erfahrungen ein mit dem Ziel, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Räume und Flächen selber aneignen und entwickeln. Neben den gewöhnlichen Gemeinschaftsräumen möchte die BGZ bei neuen Projekten immer auch «Black-Box-Räume» zur Verfügung stellen. Solche Räume oder Flächen sind beim Bezug noch leer. Was dort passieren soll, bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam. Erste Erfahrungen mit einer Werkstatt gibt es bereits. «Das läuft total gut», sagt René Fuhrimann. In einem Neubauprojekt in Bülach entsteht gerade ein Raum, der auch Kleinkunst, Konzerte oder Lesungen möglich macht.

Bewohnende in Verantwortung nehmen
Dass Mitbestimmung und Teilhabe zentrale Faktoren für einen funktionierenden Gemeinsinn sind, bestätigt auch die Wissenschaft. Stephanie Weiss, Projektleiterin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern, sieht Genossenschaften mit partizipativen Ansätzen auf dem richtigen Weg. 2017 veröffentlichte die Hochschule die Studie «Nachbarschaften in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen – ein Beitrag zur sozialen Nach­haltigkeit». In den Black-Box-Räumen sieht die Dozentin eine der wichtigsten Studienerkenntnisse umgesetzt: «Gelebte Nachbarschaft kommt vielfältig daher und kann überall stattfinden.» Wichtig seien die Bedürfnisabklärung und die Abgabe von Verantwortung an die Bewohnenden.
Wenn Gemeinschaftsräume zu echten Kontakträumen werden sollen, kommt eine Genossenschaft kaum mehr am Thema Partizipation vorbei. Vor sechs Jahren befragte Wohnen Jesús Turiño, damals Leiter Soziales und Genossenschaftskultur bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL), zu Gemeinschaftsräumen. Er sagte damals: «Wenn man möchte, dass Gemeinschaftsräume genutzt werden und leben, muss man ernsthaft abklären, was dort stattfinden soll. Und zwar gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern.» Immer mehr Genossenschaften setzen das mittlerweile mit innovativen Ansätzen um (siehe Beispiele unten). Es wird interessant sein, zu sehen, wie sich Begegnungsräume künftig weiterentwickeln.

Der Regionalverband Zürich von WBG Schweiz vermittelt Kontakte zu Fachleuten, die die Entwicklung von Gemeinschafts­flächen begleiten.Anfragen: nina.pfenninger@wbg-zh.ch

Den Alltag gestalten bei gemeinschaftlicher Nutzung

Bei allem Wandel: Es gibt auch Themen, die bleiben. Ob Gemeinschaftsraum oder Freifläche: Wo Menschen zusammenkommen und wirken, gibt es Konflikte. Zu den Dauerbrennern zählen Lärm und Sauberkeit. «Es ist ein stetes Aushandeln», sagt dazu Regula Dopmann von der ABZ, die 42 Gemeinschaftsräume betreibt. Insbesondere für Leute in den Siedlungen, die für Organisatorisches wie Reservationen oder Schlüsselübergaben zuständig sind, sei der Rollenkonflikt ein grosses Thema. «Es ist nicht einfach, dem Nachbar sagen zu müssen, dass es 23 Uhr ist und er den Lärmpegel doch bitte runterschrauben soll.» Auch Stephanie Weiss hat kein Patentrezept parat. Ihrer Erfahrung nach sind aber gemeinsam formulierte Grundsätze wie «Wir alle tragen Sorge» oft zielführender als formalistische Reglemente.
Einen eigenen Weg bei der Lärmproblematik gehen die ABL und die SGE: Sie haben jeweils in einer Neubausiedlung einen schallisolierten Partyraum erstellt. Das Zielpublikum: die Jungen. Bei beiden Genossenschaften waren die Räume nur kurze Zeit in Betrieb, bevor sie wegen der Pandemie schliessen mussten. Mercedes Nötzli von der SGE ist aber zuversichtlich, dass sich diese Lösung bewährt. Der Raum im Untergeschoss steht an zwei Nachmittagen pro Woche Kindern zwischen 5 und 12 Jahren offen (mit organisierter Betreuung) und abends ab 20 Uhr Jugendlichen bis 18. Die ABL verweist auf die Pilotphase und möchte sich noch nicht äussern.

Auch Gemeinschaftsfläche kostet
Auch gemeinschaftlich genutzte Fläche muss finanziert werden. Gerade in partizipativen Prozessen ist dieser Aspekt nicht immer allen Teilnehmenden bewusst. Je nach Genossenschaft werden Erstellungs- und Betriebskosten unterschiedlich in Rechnung gestellt. Kathrin Schriber, Leiterin der Fondsabteilung von Wohnbaugenossenschaften Schweiz, ist der Meinung, man solle gewöhnliche Gemeinschaftsräume am besten über den Wohnungsmietzins finanzieren. Anders sieht es aus, wenn viel und unterschiedliche Gemeinschaftsfläche zur Verfügung steht. «Da braucht es einen nutzungsabhängigen Betriebsbeitrag der Bewohnenden, wobei ich zwischen privater und kommerzieller Nutzung unterscheiden würde. Zuletzt muss die Rechnung immer aufgehen.»
Bei der Nutzung halböffentlicher Räume müssen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen beachtet werden. Für Film­abende oder Mittagstische beispielsweise bedarf es je nach Kanton und Konstellation einer Bewilligung oder sogar des Wirtepatents für den Ausschank von alkoholischen Getränken, sagt Katharina Bossert vom Rechtsdienst des Dachverbands. Je nach Kanton und Angebot unterstehen Mittagstische auch einer Meldepflicht.

Fast wie daheim

Nicht wenige Gemeinschaftsräume versprühen den Charme eines gewöhnlichen Sitzungszimmers. Nicht so der «Platzhirsch» in der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ). Eine Nachbarschaftsgruppe lancierte eine Diskussion um den ehemaligen Gewerberaum. Die FGZ kam zwar zum Schluss, dass in der Genossenschaft genügend Gemeinschaftsräume vorhanden seien, zeigte sich aber einverstanden damit, dass ein neu gegründeter Verein den Raum mit Küche und Keller regulär mietet und betreibt. Dank Eigeninitiative aus der Bewohnerschaft, Partizipation und Unterstützung durch die FGZ ist ein Ort entstanden, der in die Zukunft weist: Wegen des Wohnzimmercharakters hält man sich hier gerne auf. Es gibt ein kunterbuntes Programm, und die Betreibenden sehen im «Platzhirsch» auch ein soziokulturelles Angebot für das ganze Quartier, von dem auch die Genossenschaft profitiert.

Ideenhaus für alle

In der 2019 fertiggestellten Siedlung Sennhof hat die Heimstätten-Genossenschaft Winterthur (HGW) ein ganzes Haus als Quartiertreff initiiert. Etwa die Hälfte der Wohnungen im Sennhof-Quartier gehört der HGW. Die Genossenschaft fühlte sich darum besonders verpflichtet, sich zum Quartier hin zu öffnen. Das sogenannte Ideenhaus ist in einem Partizipationsprozess entstanden und hat mehrere nutzungsorientierte Räume. Die Stadt Winterthur zum Beispiel betreibt im Erdgeschoss einen Jugendtreff, der an zwei Nachmittagen pro Woche geöffnet ist. Der Werkstattraum wird betreut von vier HGW-Mitgliedern und ist mit Profimaschinen für die Holzbearbeitung ausgestattet; zum Start des Musikraums (siehe Bild) hat die HGW ein E-Piano spendiert. Ausserdem lädt eine Stube mit Büchern und kleiner Teeküche zu spontanen Begegnungen ein, während im Atelier allerlei Bastel- und Werkmaterialien vorhanden sind. Der Zugang für die Bewohnerinnen und Bewohner ist mit Badges organisiert.

Ein Schwatz im Vorbeigehen

In der Greencity in Zürich Leimbach teilen sich die drei Genossenschaften Hofgarten, Wogeno Zürich und Gemeinnützige Bau- und Mietergenossenschaft Zürich (GBMZ) gemeinsame Flächen im Innen- und Aussenbereich, unter anderem eine grosse Dachterrasse. Auf dem Bild sieht man die «Rue intérieure». Sie verbindet die beiden Gebäudeteile von Hofgarten und Wogeno. Es zeigt sich hier beispielhaft, dass sich gute Verkehrsflächen bestens für nachbarschaftliche Kontakte eignen, weil die Menschen sie im Alltag sowieso benutzen. An an­derer Stelle in der «Strasse in der Luft», wie diese Gemeinschaftsfläche auch genannt wird, gibt es auch noch eine Sofa- und Bücherecke. Den regulären grossen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss teilen die drei Genossenschaften und betreiben ihn gemeinsam. Für alle, die nicht so aufs Putzen erpicht sind: Wer den Gemeinschaftsraum reserviert, kann bei Bedarf auch gleich noch eine professionelle Reinigung dazubuchen.

Mitreden von Anfang an

Die Luzerner Baugenossenschaft Wohnwerk baut nach eigenen Angaben «Wohn- und Arbeitsräume der Zukunft». Mitwirkung und Räume, die sich den wechselnden Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer anpassen, sind wichtige Merkmale ihrer Philosophie. Das erste Projekt der 500 Mitglieder zählenden Genossenschaft ist die 2018 bezogene «Teiggi» in Kriens (LU). Auf dem Areal der ehemaligen Krienser Teigwarenfabrik gibt es drei gemeinschaftlich genutzte und in einem Partizipationsprozess entwickelte Räume beziehungsweise Flächen: Dachterrasse, Werkstatt und der eigentliche Gemeinschaftsraum (Bild). Die künftigen Be­wohn­erinnen und Bewohner waren gemäss Sandra Sommer von der IG Gemeinschaftsräume schon sehr früh in den Prozess involviert. Sie gibt in die­sem Zusammenhang zu bedenken, dass der Zeitpunkt der Partizipation gut überlegt sein will. Ganz am Anfang, wenn alles noch möglich ist, bestehe die Gefahr, dass die Erwartungen zu gross werden können.

Divers und flexibel

Zwei attraktive Begegnungsorte gibt es in der selbstverwalteten Wohngenossenschaft Zimmerfrei in Basel: im Erdgeschoss eine einladende Lobby, auf dem Dach eine grosse Terrasse. Vorstandsmitglied Barbara Manz erzählt, dass die gemeinschaftlichen Räume und Flächen bewusst leicht und mobil möbliert wurden. So ist zum Beispiel der Tischtennistisch für das wöchentliche Pingpong-Gaudi schnell platziert. Das gesamte Raumprogramm ist in einem Partizipationsprozess ermittelt worden. Dafür hatte die Genossenschaft eigens eine professionelle Beratung in Anspruch genommen. Barbara Manz hat auch einen Tipp, wie man dafür sorgen kann, dass Gemeinschaftsräume auch wirklich genutzt werden und nicht mehrheitlich leer stehen: Man sollte das Flächenangebot möglichst tief halten, so dass sich die Leute fast ein bisschen bemühen müssen, ein freies Zeitfenster zu bekommen. Finanziert wird die gemeinschaftliche Fläche vollumfänglich über den Wohnungsmietzins.

Besser gemeinsam alt werden

Die Wohnbaugenossenschaft in buona compagnia in Aegerten (BE) ist ein Wohnprojekt für die zweite Lebenshälfte. Hier sind verschiedene gemeinschaftliche Einrichtungen entstanden, deren Finanzierung gesamthaft über die Mietzinse gesichert ist. Auf dem Bild sieht man den schicken Cheminéeraum mit Bibliothek. Man gönnt sich auch einen Fitness- und Wellnessbereich und trifft sich alle zwei Wochen zum Mittagessen im Gemeinschaftsraum. Ausserdem finden dort gemeinsame Fernseh­aben­de statt, die auf einem Pinboard angekündigt werden. Auch die Dachterrasse wird als Begegnungsort genutzt. Marianne Mathys ist Bewohnerin und für das Administrative bei der Ge­nossenschaft zuständig. Sie ist überzeugt, dass gemeinschaftlich genutzte Flächen den Zusammenhalt stärken. «Wir haben viele Gelegenheiten, um ein paar Worte auszutauschen. Es fühlt sich hier an wie eine kleine grosse Familie.» Der Zugang zu allen Räumen ist mit einem Badgesystem organisiert.