So erleben Nachbarschaftsprofis bei Baugenossenschaften die Corona-bedingte Ausnahmesituation

Mehr Konflikte – und mehr Hilfsbereitschaft

In vielen Genossenschaften fördern Fachleute die Nachbarschaft. Mit der Corona-Pandemie mehren sich Nachbarschaftskonflikte, Existenzsorgen und psychische Probleme. Es wächst aber auch die Hilfsbereitschaft, neue Ideen werden unbürokratischer realisiert, Unter­stützungsnetzwerke rascher aufgebaut. Das zeigen Telefoninterviews, die das Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen (IFSAR-FHS) im Lockdown mit Nachbarschaftsprofis durchgeführt hat.

Von Caroline Haag und Nicola Hilti, IFSAR-FHS | Bild: mehr als wohnen | August 2020

Die Corona-Pandemie hat unser Leben radikal verändert, zumindest vorläufig. In nahezu allen Lebensbereichen müssen wir uns mit grosser Geschwindigkeit auf neue Situationen einstellen, nicht zuletzt in unserer Arbeit. Dies gilt auch für Fachleute, die mit Nachbarschaften arbeiten – so wie Katharina Barandun. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) in Zürich und bestätigt, dass ihre Arbeit während des Shutdowns Kopf steht. Sie begleitet, berät und unterstützt die Menschen in den Siedlungen der BEP aus ihrem Homeoffice. Dabei stellt sie fest: «Ich muss derzeit viel mehr Streit schlichten, beobachte aber auch ganz viel Hilfe und Unterstützung in den Nachbarschaften.»
Mit dieser Beobachtung ist Katharina Barandun nicht allein unter den Fachleuten, die sich professionell um das nachbarschaftliche Zusammenleben in Genossenschaften, Quartieren oder Gemeinden kümmern. Dies zeigen 13 Interviews, die Forscherinnen und Forscher des Instituts für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen im April 2020 geführt haben. Sie wollten wissen: Was bedeutet die Corona-Pandemie für die nachbarschaftsorientierte Arbeit? Zuvor schon hatten sie sich im Rahmen des Projekts «Nachbarschaften als Beruf» mit diesem Berufsfeld beschäftigt und beschrieben, wie nachbarschaftsorientierte Stellen konzipiert und entwickelt werden können. Mitgewirkt hatten unter anderem Fachleute der Baugenossenschaften ABZ, Freiblick, Gaiwo, Gesewo, mehr als wohnen, Glattal, BEP und Littau.

Vieles muss neu erfunden werden
Die Corona-Pandemie hat die Arbeit der Nachbarschaftsprofis tatsächlich gehörig durcheinandergebracht, wie eine erste Auswertung der Interviews zeigt. Es scheint, als wankten sämtliche Grundpfeiler, an denen ihre Arbeit ausgerichtet ist. Dabei gibt es sowohl neue Herausforderungen als auch neue Chancen:
Im Zusammenleben der Menschen vor Ort zeigen sich viele neue und kreative Ansätze. René Fuhrimann, Leiter Fachbereich Zusammenleben bei der Baugenossenschaft Glattal, erzählt: «Bei uns ist vieles in Selbstorganisation entstanden. Eltern haben die Nutzung des Spielplatzes via WhatsApp-Chat organisiert. Eine Gruppe hat ein Programm für den ‹Tag der Nachbarn› auf die Beine gestellt, das auf Distanz über die Balkone hinweg funktioniert. Und Familien haben T-Shirts gestaltet und diese auf einer Schnur quer durch die Siedlung aufgehängt, um einander zum Durchhalten zu motivieren.» Hinzu kommt all die Hilfe, die Nachbarinnen und Nachbarn einander im Alltag nun leisten – der junge Mann, der für die ältere Nachbarin einkaufen geht; das Paar, das besonders darauf achtet, wie es dem alleinstehenden Mann nebenan geht; die Familie, die sich zeitweise um die Kinder der alleinerziehenden berufstätigen Nachbarin kümmert.
In der Arbeit mit den Menschen vor Ort zeigt sich, dass sich vorhandene Strukturen und Beziehungen jetzt ausbezahlen: Je mehr diese schon etabliert sind, umso eher tragen sie auch in der Not und begünstigen beispielsweise ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Zugleich nehmen durch die ökonomische Krise prekäre Lebenslagen zu, die mancherorts dazu führen, dass die Menschen ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Zudem kann das dauernde Zuhausesein zu Isolation, Einsamkeit und Überforderung führen. Dadurch verschärfen sich bestehende Problemlagen, etwa psychische Probleme und Nachbarschaftskonflikte, sodass die Fachpersonen vermehrt Hilfe vermitteln und Konflikte bearbeiten müssen. Das ist aber nicht immer möglich: «Wenn es Konflikte gibt, für die es ein persönliches Gespräch braucht, dann müssen wir dieses im Moment verschieben», sagt Katharina Barandun.
Die Arbeitsweise der Fachleute ist geprägt davon, dass sie «auf Distanz» tätig sein müssen – ganz im Gegensatz zu ihrer Arbeit unter Normalbedingungen. Dabei entwickeln und ­erproben sie viel Neues, besonders mit Hilfe technologischer Unterstützung. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie zukünftig partizipative Prozesse gestaltet werden können, mit denen man möglichst viele Personen erreicht. Denn, so Marco Hort, Fachspezialist Siedlungs- und Quartierarbeit bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ): «Sich kennenzulernen und gemeinsam etwas zu entwickeln, funktioniert nur bedingt über Videokonferenzen. Es ist kein Ersatz, aber fast das Einzige, was wir im Moment haben.»
Die Kooperationen mit anderen Akteurinnen und Akteuren haben sich teilweise neu ausgerichtet und intensiviert; mit vereinten Kräften werden vielerorts mit grossem Engagement und Tempo Herausforderungen angepackt und Angebote gemacht. Aus der Gemeinde Horgen zum Beispiel berichtet Wohn- und Siedlungsassistentin Regula Suter: «Innert kürzester Zeit haben wir in der Gemeinde ein Corona-­Infotelefon eingerichtet. Die Polizei haben wir im Umgang mit den älteren Menschen beraten, deren Freiheiten besonders eingeschränkt worden sind. Und mit der lokalen Gärtnerei haben wir Blumengrüsse für alle, die nun daheimbleiben müssen, organisiert.»
Und schliesslich sind durch die Pandemie auch das Selbstverständnis und die Rolle der Fachleute herausgefordert. Zum einen stellt sich mancherorts die Frage, warum so viel Engagement, Solidarität und institutionelle Flexibilität erst jetzt möglich geworden sind, obwohl die Fachleute schon lange darauf hinarbeiten. Zum anderen wird aber sehr deutlich, dass viele der positiven Entwicklungen in Nachbarschaften wesentlich auf die Arbeit der Profis zurückgehen. Das stellt auch Regula Suter fest: «Ich kann jetzt ganz klar die Früchte meiner bisherigen Arbeit ernten. Es zeigt sich zum Beispiel, wie wichtig es ist, immer und immer wieder Anlässe zu organisieren, an denen sich die Nachbarinnen und Nachbarn kennenlernen und austauschen können.»

Hoffnungsvoller Blick in die Zukunft
Die Corona-Pandemie hat weitreichende Folgen für die Arbeit der Nachbarschaftsprofis: In einzigartiger Weise und Geschwindigkeit entstehen Ideen, Initiativen, Aktivitäten, Kooperationsachsen sowie Reflexions- und Entwicklungsmöglichkeiten. Und dabei gibt es die grosse Hoffnung und die einmalige Gelegenheit, die positiven Entwicklungen und vielversprechenden Innovationen mitzunehmen und weiterzuentwickeln für die Zeit nach der Corona-Pandemie.
Zur Diskussion steht beispielsweise, inwiefern grosse Veranstaltungen und Ab­stimmungen in Genossenschaften digital ergänzt oder sogar ersetzt werden können. Marco Hort ist überzeugt: «Die heutigen Versammlungen und Abstimmungen könnten überdacht und teilweise ins Digitale verlagert werden. Das wäre auch eine grosse Chance, mehr Jüngere für ein Engagement zu gewinnen.» Die optimistische Sichtweise überwiegt auch bei Katharina Barandun: «Ich habe die Hoffnung, dass das auch nach der Krise weitergeht, dass diese neu entstandenen nachbarschaftlichen Beziehungen und Netzwerke anhalten.»

Weiterbildungskurs

Der Weiterbildungskurs «Nachbarschaft als Beruf – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» wird zum zweiten Mal in Zürich durchgeführt am 24. August 2020, 14–17 Uhr. Details und Anmeldung finden Sie hier.