Organisationsentwickler Paul Krummenacher befasst sich seit zwanzig Jahren mit Mitwirkung

«Ergebnisoffenheit ist matchentscheidend»

Das Thema Partizipation ist in aller Munde und beschäftigt auch viele Baugenossenschaften intensiv. Paul Krummenacher vom Beratungsunternehmen Frischer Wind hat einschlägige Erfahrungen und weiss, worauf man achten sollte.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: zVg | Februar 2019

Wohnen: In den letzten Jahren erlebt Partizipation einen regelrechten Boom: Gemeinden ziehen Bürger bei wichtigen Weichenstellungen mit ein, ganze Quartiere werden partizipativ entwickelt, und auch bei Bau­genossenschaften ist das Thema en vogue. Wie erleben Sie als Experte das? 


Paul Krummenacher: Partizipation, Mitwirkung, Beteiligung – wie immer man das nennt: Seit den 1990er-Jahren befinden wir uns tatsächlich in einer Mitwirkungswelle. Der zweiten übrigens, nach einer ersten im Zuge der 1968er-Bewegung, bei der es vor allem um Bürgerbeteiligung ging. Solche Ansätze sind heute überall anzutreffen, im öffentlichen Bereich, bei Baugenossenschaften und interessanterweise auch in der Wirtschaft. Dort sind aktuell Beteiligung und Buttom-up-Ansätze – Entwicklungen von der Basis her – sehr wichtig.

Wann machen partizipative Prozesse Sinn?

Neben allgemeinen Zeitströmungen gibt es drei Gründe, weshalb man sie durchführt. Der erste ist eine bestimmte Haltung, wenn eine ­Institution grundsätzlich möchte, dass die ­Leute einbezogen werden. Das entspricht dem genossenschaftlichen Selbstverständnis, eine Gemeinschaft zu sein, die gemeinsam Lösungen findet. Bei Firmen spielen eher die anderen beiden Gründe: Effizienz und Komplexität. Oft steht dort ein Scheitern am Anfang, wenn die Führung feststellen muss, dass sie trotz hehrer Ziele und schlauer Analysen auf riesige Widerstände bei der Umsetzung stösst und Projekte nicht recht vorwärtskommen oder gar abstürzen. Dann merkt sie, dass sie das nicht alleine entwickeln kann, sondern die Mitarbeitenden hätte ein­beziehen müssen. Partizipative Verfahren eignen sich besonders gut, wenn es um komplexe Veränderungs- oder Entwicklungsprozesse geht, wo unterschiedliche Erwartungen zusammenkommen und man verschiedene Interessen und Logiken unter einen Hut bringen muss.

Was aber ist Partizipation? Der Begriff wird nicht einheitlich verwendet, jede und jeder versteht etwas anderes darunter. Können Sie Klärung schaffen?

Am hilfreichsten finde ich die Unterscheidung in die drei Stufen Information, Partizipation und Kooperation. Information ist Einwegkommunikation, zu der man allenfalls unverbindlich seine Meinung abgeben kann. Bei Partizipation wirken Betroffene bei der Erarbeitung von Inhalten und Entscheidungsgrundlagen mit. Den Entscheid fällt dann bei Genossenschaften aber der Vorstand oder, je nachdem, die Vollversammlung. Bei Kooperationen schliess­lich entwickelt und entscheidet man gemeinsam. Beispiele sind etwa öffentlich-­private Partnerschaften wie die zwischen SBB und Stadt Zürich bei der Arealentwicklung Neugasse. Wichtig ist nun, dass man sich selber jeweils wirklich klar ist und dies auch deutlich so kommuniziert, auf welcher Stufe man sich bewegt. Sonst entstehen Missverständnisse und Unmut.

Gerade bei Genossenschaften verstehen Mitglieder nicht immer das Gleiche unter Partizipation wie die Führung, sie erwarten mehr «echte» Mitbestimmung. Manchmal setzt die Basis gehörig Druck auf und es gibt Konflikte. Wie gehen Sie damit um?

Weil sich die Mitglieder als Basis verstehen, die auch Entscheidungen fällt, haben sie teilweise sehr hohe Erwartungen. In jüngerer Zeit stelle ich eine zunehmende Anspruchshaltung fest. Es gibt Leute, die ihre Eigeninteressen ziemlich vehement und unverblümt einbringen, frei nach dem Motto «Ich wohne ja schliesslich hier und habe das Recht, persönliche Ansprüche zu erheben!» Das ist ein Stück weit nachvollziehbar, weil es unmittelbar ums eigene Umfeld geht. Man muss aber in solchen Fällen unbedingt darauf achten, dass nicht Einzelinteressen durchgesetzt werden und sich nur dieje­nigen, die besonders laut schreien, Gehör verschaffen. Es müssen alle An­spruchs­gruppen ihre Anliegen einbringen können.

Paul Krummenacher (57) ist Geschäftsführer des auf Organisationsentwicklung, partizi­pative Prozesse und Grossgruppenanlässe spe­zialisierten Beratungsunternehmens Frischer Wind, das er 2000 mitgegründet hat. Der studierte Sozialpsychologe und Politikwissenschafter hat bereits viele Projekte von ­Baugenossenschaften und anderen Organisationen begleitet. Er verfügt über Weiterbil­dungen in Wirtschafts- und Umweltmediation und war tätig als Gastdozent an der UC Ber­keley in Kalifornien (USA) sowie als Leiter der Management- und Organisationsentwicklung einer grossen Firma.

Wie gelingt das?

Wir versuchen jeweils von Anfang an herauszufinden, worum es im Kern geht und wer alles mit ins Boot geholt werden muss. Alle Interessen sollten ­vertreten sein, Befürworterinnen, Gegner, Neutrale, Junge, Alte usw. Ich erinnere mich an den Fall einer Genossenschaft, wo es um ein Leitbild für die künftige Entwicklung ging. Wir suchten mit einer Ausschreibung Leute aus allen Siedlungen und Altersgruppen. Bei den Rückmeldungen war der Altersdurchschnitt dann aber über 75, es gab praktisch keine jungen Interessenten. Da haben wir die Veranstaltung abgesagt, weil das so einfach keinen Sinn machte. Ganz grundsätzlich versuchen wir immer, alle Stimmen einzubinden. Dafür bringen wir beim Auftraggeber in Erfahrung, welche Tendenzen und Gruppierungen es gibt. Dann laden wir Vertreter möglichst aller Strömungen in eine Spurgruppe ein, die den Prozess beobachtend begleitet und spiegelt, wie die Stimmung ist, worauf man achten muss, wo Konflikte oder Unmut bestehen. Auch kritische und konfrontative Siedlungen oder Gruppierungen sollte man einbinden und bei ihnen abholen, was es braucht, damit der Prozess für sie glaubwürdig und eine konstruktive Zusammenarbeit möglich ist.

Eine Grundbedingung für Partizipation ist Ergebnisoffenheit. Wie sehen Sie das?

Ergebnisoffenheit ist matchentscheidend. Wer einen partizipativen Prozess startet, muss offen sein für alles – egal, wie die Resultate ausfallen. Ist man dazu nicht bereit, verzichtet man besser ganz. Es ist verheerend, wenn jemand mit einer versteckten Agenda pro forma einen solchen Prozess durchführt und dabei nur seine eigenen Ideen bestätigen lassen will. Das funktioniert nicht und ist viel schlimmer, als gar nichts zu machen. Weil sich die Teilnehmenden nicht ernst genommen fühlen und das Vertrauen verlieren.

Haben Sie selber solche Fälle erlebt?

Nur ganz selten. Meistens zeichnet sich das schon in der Vorbereitung ab. Ich kenne das Beispiel einer öffentlichen Verwaltung, wo die Geschäftsleitung nach den Workshops fand, die Resultate seien schon nicht so, wie sie sie sich vorgestellt habe. Entsprechend wurden sie nicht umgesetzt. Der Frust bei der Belegschaft war enorm. Wenn das derart in die Hose geht, kann man die Leute für eine nächste wichtige Fragestellung nicht mehr gewinnen. Als wir Jahre später für einen Beteiligungsprozess eingeladen wurden, stand die schlechte Erfahrung immer noch im Raum, die Skepsis war riesig. Das bringt man fast nicht mehr weg, es brauchte enorme Anstrengungen für einen Neustart. Bei einer Genossenschaft haben wir auch schon den Prozess abbrechen müssen, weil wir merkten, dass die Führung eine versteckte Agenda durchdrücken wollte. In der ersten Runde waren nicht die von den Vorstandsmitgliedern erwarteten Ergebnisse herausgekommen und sie versuchten, diese entsprechend umzubiegen. Das geht natürlich gar nicht.

Was braucht es ausserdem, damit Partizipa­tion gelingt?

Es ist sehr wichtig, den Gesamtprozess mit seinen Rahmenbedingungen von Anfang an sauber und klar abzustecken. Man muss gut überlegen und auch aufzeigen können, welche Ressourcen es braucht, welche Schritte nötig sind, wer welche Aufgaben, Handlungsspielräume und Kompetenzen hat, wer worüber entscheidet. Wir haben ja bereits über Ansprüche und Erwartungen gesprochen. Wenn man klarmacht, was geht und was nicht, schafft man eine gemeinsame Grundlage, auf die man sich immer wieder beziehen kann. Transparenz über den Prozess ist entscheidend. Das kann man gar nicht genug betonen. Man muss permanent kommunizieren, immer wieder. Und auch wenn im Prozessverlauf Anpassungen nötig werden, weil sich zum Beispiel bestimmte Ergebnisse aus Workshops nicht realisieren lassen, muss man darüber transparent kommu­nizieren. Dabei sind Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit enorm wichtig.

Was bedeutet das?

Die Leute wollen nicht einfach erfahren, dass man etwas so entschieden hat, sondern verstehen, weshalb. Man muss erklären können, warum etwas aufgegriffen wurde, anderes nicht. Ist ein Entscheid nachvollziehbar und glaubwürdig, akzeptieren ihn die meisten Leute auch dann, wenn er nicht dem entspricht, was sie selber wollten. Auch wenn es natürlich immer ein paar Enttäuschte gibt, die man nicht überzeugen kann.


«Man muss die Rahmen­bedingungen von Anfang an klar abstecken.»


Sie betonen Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Wie erreichen Sie die?

Am Anfang organisierten wir nur Zukunftskonferenzen. Das ist ein Format, bei dem bestimmte Themen erarbeitet werden. Die Resultate kommunizierten wir dann jeweils. Wir haben aber lernen müssen, dass das allein nicht reicht. Deshalb gibt es jetzt jeweils zwei Konferenzen. An der ersten wird festgelegt, was weitergeführt und -entwickelt werden soll. Später wird dann an einer Ergebniskonferenz vorgestellt, wo man steht und was man erreicht hat, wo man dranbleibt und was weshalb nicht weiterverfolgt wird. Mit diesen Eckpfeilern versuchen wir, die Ergebnisse stabil und überprüfbar zu halten. Denn die Leute wollen sehen, dass der Prozess sauber läuft und verbindlich umgesetzt wird.

Was muss man sonst noch beachten?

Partizipation ist immer ein Prozess. Kurzveranstaltungen reichen höchstens für ein Brainstorming, die Teilnehmenden können sich aber nicht wirklich auf andere einlassen und deren Meinungen in die eigenen Überlegungen einbeziehen. Wenn man es hinkriegt, dass die ­Leute miteinander in einen echten Austausch kommen, gibt es nicht nur andere Resultate, sondern auch gegenseitiges Verständnis. So ein Lernprozess und eine Entwicklung brauchen aber Zeit.

Mit welchen Themen kommen Baugenossenschaften zu Ihnen?

Klassiker sind die Entwicklung von Leitbildern, Zukunfts- oder Wachstumsstrategien beziehungsweise auf konkreter Ebene von Arealen, Siedlungen und Innenhöfen. Manchmal entwickelt man gemeinsam auch spezifische Fragen, etwa, wie Vermietungsgrundsätze aussehen, Vorstandswahlen durchgeführt oder ein politisches Engagement gestaltet werden sollen.

Methodisch arbeiten Sie viel mit Grossgruppenanlässen. Worum geht es da?

Grob gesagt sind das Veranstaltungen, bei denen eine grosse Zahl Betroffener gleichzeitig in einen gemeinsamen, interaktiven Prozess einbezogen wird. Dabei bringt man Menschen in einen intensiven Austausch über ein bestimmtes Thema, wobei die Gruppen bunt ge­mischt und immer wieder neu zusammengesetzt werden. Erfahrungsgemäss werden so span­nende Dialoge möglich und gute Re­sultate erzielt. Dabei wird der ganze Prozess so offen wie möglich gestaltet; vorgegeben ist nur das Leitthema, die Teilnehmenden entwickeln selber, was ihre Fragestellungen sind und worüber sie diskutieren. Bearbeitet man in dieser intensiven Art ein Anliegen wie die künftige Ent­wick­lungsstrategie der Genossenschaft, bildet sich meist eine gemeinsame Vorstellung heraus, deren Eckpfeiler von allen getragen wer­den können.

Partizipative Prozesse kann eine Genossenschaft auch selber durchführen. In welchen Fällen sollte sie externe Beratung beiziehen?

Je komplexer ein Projekt und je konfliktiver die Situation, umso sinnvoller ist es, mit Externen zu arbeiten, die einen neutralen Standpunkt einnehmen und allparteilich sind. Und das sind gute Beraterinnen – sie lassen sich nicht einspannen, um den Prozess in eine bestimmte Richtung zu steuern. Alles andere würden die Teilnehmenden auch sofort merken, und es wäre niemandem damit gedient.

Und worauf sollte man bei der Auswahl von Beratern achten?

Sicherlich darauf, dass er oder sie viel Erfahrung mit partizipativen Prozessen hat. Und zwar eine möglichst breite, mit ganz verschiedenen Kunden. Grundsätzlich sollte man jemanden suchen, der einen Draht zu unterschiedlichen Menschen schaffen und Vertrauen gewinnen kann, wobei man sich am besten auf sein Bauchgefühl verlässt. Eine gute Beraterin spricht einem nicht einfach nach den Lippen, sondern stellt kluge und kritische Fragen. Sehr hilfreich ist es, umgekehrt auch zu erfragen, wie die Person mit konkreten Situationen umgehen würde, was für sie zum Beispiel der Worst Case wäre oder wie sie schwierige Gruppen einbinden würde. Das ist sehr viel aufschlussreicher als eine Zahl auf einer Offerte.