Interview mit Eva Herzog, der neuen Präsidentin von Wohnbaugenossenschaften Schweiz

«Ich bin offen, und ich erwarte Offenheit»

Die SP-Ständerätin Eva Herzog hat als Regierungsrätin über Jahre Erfahrungen mit der Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus gesammelt. Für die 58-jährige Baslerin bieten Baugenossenschaften zukunftsweisende Antworten auf wichtige gesellschaftliche Fragen wie die demografische Entwicklung. Um sie umsetzen zu können, muss die Branche aber weiter wachsen können. Als neue Präsidentin des Dachverbands will Eva Herzog sich dafür einsetzen.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Martin Bichsel | August 2020

Wohnen: Sie erleben gerade eine ausser­gewöhnliche Zeit. Corona-bedingt haben Sie seit Ihrer Wahl zur Ständerätin letzten Oktober erst eine reguläre Session in Bern erlebt, und im Juni wurden Sie nun schriftlich zur neuen Verbandspräsidentin gewählt. Wahrscheinlich haben Sie sich den Einstieg in Ihre neuen Funktionen anders vorgestellt. Wie gehen Sie mit dieser Situa­tion um?

Eva Herzog: Das ist in der Tat eine sehr spezielle Zeit. Aber für mich hatte sie auch sehr positive Seiten, ich fühle mich privilegiert. Bis Ende Januar hatte ich parallel zwei Mandate inne, ich amtete noch als Regierungsrätin des Kantons Basel-Stadt und bereits als Ständerätin. Das war ein Riesenstress – Aufräumen, Packen, Zügeln, Abschiednehmen, und gleichzeitig gingen die Kommissionssitzungen los. So war ich im März, als es nach zwei Wochen plötzlich hiess, die Frühlingssession werde abgebrochen, erst einmal einfach froh, eine Pause einlegen zu können. Ich war mit meiner Familie zuhause, alle im Home-Office oder Home-Schooling. Ich habe meine beiden Söhne viel mehr gesehen als in den letzten 15 Jahren. Das fand ich super.

Gab es auch Schattenseiten?

Es war schwierig, mich in ein neues Gebiet einzuarbeiten und Sitzungen per Videokonferenz abzuhalten – ganz ohne physische Kontakte ist Politik auf Dauer nicht denkbar. Gute Kompromisse sind so schwierig. Sehr spannend war es für mich dafür inhaltlich: Ich bin Mitglied der Finanzdelegation des Parlaments, die die Corona-Kredite abgesegnet hat, die der Bundesrat unter Notrecht beschlossen hatte. Das war für mich eine interessante Zeit, mit wenig Stress, kaum Anlässen, Ruhe vor Lobbyisten. Der Rest fiel ziemlich flach, Verwaltungsratssitzungen gab es keine, und auch im Verband waren leider kaum persönliche Treffen möglich. Mit den Lockerungen finden nun aber erste Sitzungen statt, worüber ich mich sehr freue.

Was war Ihre Motivation, für das Präsidium zu kandidieren?

Wohnen ist ein Grundbedürfnis – und etwas sehr Konkretes, Handfestes. Das hat mich gereizt. In meiner Zeit als Regierungsrätin des Kantons Basel-Stadt, der selber viele Immobilien besitzt, habe ich mich mit allem rund um Bauen, Wohnen und Wohnraumförderung auseinandergesetzt und auch intensiv mit Baugenossenschaften zusammengearbeitet – primär, um preisgünstigen Wohnraum zu erstellen. Faszinierend finde ich die Breite des Themas, von der Architektur über Energiefragen bis zu den Konzepten, die hinter dem Baulichen stehen. Weshalb wählt man die Genossenschaftsform? Wie will man zusammenleben? Was sind gemeinsame Flächen, was persönlicher Rückzugsraum? Wie gestaltet man das Umfeld? Wie handhabt man Mitbestimmung, und wie organisiert man sich so, dass Entwicklungen nicht blockiert werden? All diese Aspekte finde ich hochspannend, und ich hatte Lust, mich in dieser Branche gestaltend einzubringen.

Sie kommen als erfahrene Politikerin zum Verband. Vor Ihrem Ständeratsmandat waren Sie 15 Jahre lang Regierungsrätin und Finanzvorsteherin im Kanton Basel-Stadt. Dabei haben Sie sich für die Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus eingesetzt. Was ist Ihr Fazit aus dieser Zeit?

Dass man mit einer konstruktiven Zusammenarbeit und den richtigen Instrumenten wirklich weiterkommt. Auf Initiative der Basler Genossenschaften, die nach Land verlangten, und verknüpft mit dem Bedarf nach mehr günstigem Wohnraum fördert der Kanton seit der rot-grünen Mehrheit 2005 den genossenschaftlichen Woh­nungsbau. Kernstück ist eine aktive Bodenpolitik: Der Kanton kauft Land und gibt dieses nur noch im Baurecht an gemeinnützige Bauträger ab. Gemeinsam mit den Genossenschaften hat er zudem den partnerschaftlichen «Baurechtsvertrag Plus» entwickelt. Dieser verlangt, dass Genossenschaften einen Erneuerungsfonds äufnen und Belegungsvor­schriften einhalten. Bewährt haben sich auch ergän­zende Unterstützungsangebote etwa bei Fusionen, Beratungen und reduzierte Baurechtszinsen für die Anfangsphase. So sind in den letzten Jahren 400 neue Genossenschaftswohnungen ent­standen, weitere 1200 sind in Planung oder im Bau. Es hat sich also viel bewegt.

Eva Herzog (58) ist seit Juni Präsidentin des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Die Basler SP-Politikerin wurde im Oktober 2019 in den Ständerat gewählt, zuvor war sie 15 Jahre lang als Regierungsrätin des Kantons Basel-Stadt Vorsteherin des Finanzdepartements. Die Historikerin, die lange Jahre in der Entwicklungsarbeit engagiert und dann mehrere Jahre in Forschungsprojekten und im Kulturbereich tätig war, startete ihre politische Karriere im Jahr 2000 als Mitglied des Verfassungsrates von Basel-Stadt, dann des Grossen Rats (Kantonsparlament). Sie lebt in einer Partnerschaft und ist Mutter zweier erwachsener Söhne in Ausbildung.

Das ist auch in vielen anderen Städten und Gemeinden festzustellen. Wo sehen Sie die grössten Hebel auf kommunaler Ebene?

Die exklusive Landabgabe an Baugenossenschaften ist sicher das effektivste Mittel. Wenn der gemeinnützige Wohnungsbau wachsen soll, reicht die Er­neuerung im Bestand allein nicht, sondern Genossenschaften müssen neue Areale erhalten, etwa Brachen oder frühere Industrieareale. Dort können sie Neues realisieren, das zeitgemässen Bedürfnissen entspricht.

Und wo sehen Sie auf nationaler Ebene Handlungsbedarf?

Der Fonds de Roulement ist ein sehr wichtiges Instrument, das es auf jeden Fall zu sichern gilt. Im Auge behalten muss man zudem die Bundes- und bundesnahen Betriebe, die Land abgeben. Zum Beispiel die SBB, deren Immobi­lienpolitik ich für problematisch halte. Wobei man es nicht einfach diesen Betrieben ankreiden kann, wenn sie ein schwieriger Verhandlungspartner sind, schliesslich hat man ihnen explizit den Auftrag gegeben, über Immobilien Gewinne zu erwirtschaften. Das ist ein Thema, das man politisch angehen müsste – mit dem Ziel, dass bei ausgewiesenem Bedarf Areale bundesnaher Betriebe zu einem Preis abgegeben werden, der günstiges Wohnen erlaubt.

Welche Themen möchten Sie als nächstes angehen?

Die Branche muss wachsen. Das wird den Verband sicherlich beschäftigen. Ausserdem sollte das Abstimmungsresultat der Volksabstimmung vom Februar analysiert werden. Warum hat das Stimmvolk die Initiative des Mieterverbands für mehr bezahlbare Wohnungen abgelehnt? Wo wurden Fehler gemacht, und was müsste man intensiver verfolgen? Eine wichtige Rolle können die Genossenschaften beim Mehrgenerationenwohnen spielen. Es gehört zum Wesen der Genossenschaften, dass ihre Mitglieder bestimmen, wie sie wohnen wollen, sie können neue Wohnformen ausprobieren. Und der Bedarf ist da: Ihre eigenen Mitglieder werden älter, die Kinder ziehen aus, ältere Menschen möchten in kleinere Wohnungen ziehen und Platz machen für Familien, aber ihren Wohnort nicht verlassen. Wohnungsrochaden innerhalb der eigenen Genossenschaft sind der beste Weg. Oder was Wohnen und Arbeiten angeht: Hier könnten die Erfahrungen der letzten Wochen zu Verschiebungen führen, zu neuen Kombinationen, zu vermehrter Arbeit zuhause – dazu muss die Umgebung stimmen. Hier können Genossenschaften zum Labor werden für gesamtgesellschaftliche Lösungen.

Für ein Fortkommen der Branche braucht es auf politischer Ebene eine breite, parteiübergreifende Zusammenarbeit. Wie schaffen Sie die nötigen Allianzen?

Diesbezüglich konnte ich als Exekutivmitglied viele Erfahrungen sammeln. Für alle grossen Projekte wie die Revision des Pensionskassen- oder des Steuergesetzes musste ich partei­übergreifende Kompromisse schmieden. Das mache ich extrem gerne. Ich bin nicht ideologisch, habe keine Berührungsängste und grundsätzlich Respekt vor der Haltung anderer Menschen, auch wenn sie meiner eigenen nicht entspricht. Auch wenn es natürlich Grenzen gibt.

Wo liegen für Sie die besonderen Vorzüge des genossenschaftlichen Wohnungsbaus?

Ich habe zwar selber nie in einer Genossenschaft gelebt, dafür aber zwei Jahre zu siebt in einer Wohngemeinschaft. Dort haben wir immer gesagt, wir leben dann mal in einer Alters-WG. Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen; aber gerade Genossenschaften bieten ja sehr attraktive Alternativen, zum Beispiel mit Clusterwohnungen, wo man seinen privaten Rückzugsraum hat, aber trotzdem mit anderen zusammenwohnt und nicht alleine ist. Überhaupt bieten sie sehr innovative Wohnmodelle und Lösungen für verschiedene Wohn­be­dürf­nisse; das halte ich für eine der ganz grossen Stärken. Ich wohne selber in einer Strasse mit vielen Reihenhäuschen. Das wirkt etwas «bünzlig», ist aber super mit Kindern. Man lebt über die Strasse und die Gartenzäune hinweg oder legt gleich die Gärten zusammen. Man hat Kontakt, sobald man aus der Haustüre tritt. Und genau diese Qualität bieten auch genossenschaftliche Modelle. Das wird immer wichtiger werden.

Gibt es auch etwas in der Branche, das Sie eher kritisch sehen?

Es gibt viele sehr unterschiedliche Genossenschaften. Auch viele kleine, bei denen vielleicht nicht viel läuft, deren Hauptzweck es ist, günstig zu wohnen, die keinerlei Rückstellungen für notwendige Sanierungen tätigen, von anderen Veränderungen ganz zu schweigen. Hier haben wir in Basel ein Beratungsangebot installiert und eben beim partnerschaftlichen «Bau­rechts­vertrag Plus» auch die Pflicht zur Äufnung eines Erneuerungsfonds. Das ist für eine nachhaltige Entwicklung extrem wichtig.

Der Vorstand von Wohnbaugenossenschaften Schweiz verfügt erstmals über eine Frauenmehrheit. Im Bild die neu Gewählten (v. l. n. r.): Manuela Weichelt (Nationalrätin Kanton Zug), Eva Herzog (Ständerätin Kanton Basel-Stadt), Muriel Thalmann (Grossrätin Kanton Waadt), Nathanea Elte (Präsidentin Allgemeine Baugenossenschaft Zürich).

Baugenossenschaften sind in den letzten Jahren vermehrt ins öffentliche Bewusstsein gerückt – positiv wie negativ. Auf kommunaler Ebene wurden viele Fortschritte erzielt, gleichzeitig musste um die Aufstockung des Fonds de Roulement hart gerungen werden und ist die Initiative des Mieterinnen- und Mieterverbands an der Urne gescheitert. Braucht es eine Imagestärkung der Branche?

Hm, ich weiss nicht recht. In Basel ist es inzwischen so, dass sich auch private Investoren mit Projekten bewerben, um preisgünstigen Wohnraum zu erstellen, weil sie sehen, wie erfolgreich die Genossenschaften diesbezüglich sind und dass in diesem Segment eben Bedürfnisse bestehen. Vor einigen Jahren haben viele Leute Genossenschaftswohnungen mit Sozialwohnungen verwechselt, aber das hat sich schon verändert, die Sicht ist differenzierter. Genossenschaften bieten Wohnraum für alle – dazu zählen Leute mit kleinem Portemonnaie, aber auch der breite Mittelstand. Ausser natürlich bei subventionierten Wohnungen, wo zu Recht strenge Einkommens- und Vermögenslimiten gelten. Das Image ist für mich schwierig zu beurteilen, den Blick von aussen habe ich nicht mehr, mein Bild ist positiv. Die Bewegung ist durchaus heterogen, aber das macht ja gerade den Reiz aus. Und viele engagieren sich mit viel Herzblut, davor habe ich grossen Respekt.

Worauf freuen Sie sich als frischgebackene Verbandspräsidentin am meisten?

Auf das konkrete Wirken. Ich möchte etwas bewegen, meinen Beitrag leisten und sehen, wie Projekte wachsen und realisiert werden. Und auch auf die Zusammenarbeit mit den Vorstandsmitgliedern freue ich mich. Wir hatten gerade ein erstes Treffen – das ist wirklich ein toller Vorstand, mit einer geballten Ladung an Erfahrungen aus unterschiedlichen Zusam­men­­hän­gen und einem grossen Willen, den genossenschaftlichen Wohnungsbau vorwärtszubringen. Meine Rolle sehe ich darin, die Fäden in der Hand zu halten, zu moderieren und zu koordinieren und dafür zu schauen, dass man lösungsorientiert arbeitet und am Schluss einer Sitzung auch ein Resultat da ist. Das habe ich schon immer gerne gemacht. Sehr gespannt bin ich zudem darauf, die ganze Genossenschaftswelt noch näher kennenzulernen, Projekte und Leute aus der ganzen Schweiz. Das reizt mich sehr.

Wo möchten Sie als Präsidentin Schwer­punkte setzen?

Bevor ich das entscheide, will ich eine Bestandesaufnahme machen und mir einen Eindruck davon verschaffen, was die Mitglieder beschäftigt. Welche Leistungen bietet der Dachverband an, was wird in den Regionen gemacht, welche Wünsche haben die Regionen an die Zentrale? Ich möchte alle Regionen besuchen und mit den Verantwortlichen vor Ort reden. Auf jeden Fall werde ich mir die nötige Zeit nehmen, um die verschiedenen Positionen aufzunehmen und zu diskutieren.

Welche Werte möchten Sie im Verband ­pflegen?

Das Wichtigste für mich sind Offenheit und Vertrauen. Direkte Kommunikation ist mir sehr wichtig, ich spreche die Dinge an und gehe davon aus, dass andere dies auch tun. Das Schlimmste finde ich, wenn hintenherum geredet und intrigiert wird – ein Klima des Vertrauens und der konstruktiven Zusammenarbeit kann dem entgegenwirken. Das gilt für den Vorstand wie für die Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle. In einem Klima des Misstrauens kann ich nicht arbeiten.

Es hat über hundert Jahre gedauert, bis eine Frau Verbandspräsidentin wurde. Bei der Wahl wurden auch drei weitere Frauen in den Vorstand gewählt, der damit erstmals eine Frauenmehrheit aufweist. Sie haben sich als Historikerin ja intensiv mit Gleichstellungsfragen auseinandergesetzt. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?

Ich finde sie super! Hier hat die Findungskommission wirklich einen tollen Job gemacht. Dass Frauen bei diesem existentiellen Thema nicht längst überall aktiver sind bei den Genossenschaften, ist an sich unverständlich. Aber die Zeiten ändern sich doch! Verbandsarbeit ist generell ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld, wo Frauen Fähigkeiten erwerben können, die sie im beruflichen Umfeld voranbringen oder die den Einstieg in die Politik bedeuten können: Versammlungen leiten, die Verbandskasse führen, generell die eigenen Interessen einbringen. Ich bin zudem überzeugt, dass der hohe Frauenanteil beziehungsweise die ausgewogene Mischung im Vorstand auch nach aussen positive Signale ausstrahlt.

Wie würden Sie sich selber beschreiben?

Fast alle Leute, die mich kennen, sagen, bei mir wis­se man immer genau, woran man sei, ich sei ­authentisch und hätte mich auch in den Jahren als Regierungsrätin nicht verändert, sei am Boden geblieben. Ich bin offen, und ich erwarte Offenheit.

Und wie erholt sich die Privatperson Eva Herzog am liebsten von ihren anspruchs­vollen Tätigkeiten?

Mein Ausgleich als Regierungsrätin war in erster Linie meine Familie, hier konnte und musste ich meinen Alltag vergessen und mich dem widmen, was meine Kinder bewegte. Jetzt sind sie erwachsen – aber der Austausch mit ihnen bleibt ein zentraler Teil meines Lebens. Ja, und dann mit Velofahren – wieder mehr als früher. Aktuell pflege ich das mit einer Gruppe von Frauen, mit denen ich gemeinsam «gümmele». Diese Touren sind für mich ein idealer Ausgleich und sehr erholsam, auch wenn wir durchaus sportlich unterwegs sind. Ich finde es sehr toll, gemeinsam auszufahren und natürlich auch viel zu reden. Ausserdem liebe ich Literatur, gehe gerne ins Kino oder ins Theater, was ja nun endlich auch wieder möglich ist.