SIA-Präsident Peter Dransfeld über zukunftsfähiges Bauen

«Insgesamt haben wir zu wenig gemacht»

Angesichts der Klimakrise braucht es grundlegende Änderungen beim Planen und Bauen. Ist die Dringlichkeit des Themas in der Branche angekommen? Was unternimmt der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA), um das Ziel Netto-Null zu erreichen? Und was müssen Bauträger tun? SIA-Präsident Peter Dransfeld über Herausforderungen und Chancen.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Martin Zeller, zVg | 2022/04

Wohnen: Sie sind Bergwanderer. Da haben Sie vielleicht schon den einen oder anderen schmelzenden Gletscher gesehen. Wie sehr macht Ihnen persönlich die Klimakrise zu schaffen?

Peter Dransfeld: Im Sommer 2019 war ich bei einer Wanderung zur «Beerdigung» des Pizol-Gletschers dabei, von dem praktisch nichts mehr übrig ist. Der Gletscherschwund ist drastisch und ein trauriges Indiz für den Klimawandel. Selbst bin ich als Jugendlicher mit der ökologischen Bewegung der 1980er-Jahre sensibilisiert worden. Seither ist es für mich eine Selbst­verständlichkeit, dass wir uns umweltver­träglicher verhalten müssen. Das war für mich aber nie eine Belastung, sondern ein Ansporn, gute Lösungen zu finden. Ich bin froh, dass ich in meinem Berufsleben als Architekt einen Beitrag dazu leisten konnte. Unsere Branche wird dies aber noch weitaus deutlicher tun müssen.

Das legen auch die aktuellen Berichte des Weltklimarats (IPCC) nahe. Demnach könnte die kritische Grenze von 1,5 Grad Erd­erwärmung bereits in den 2030er-Jahren erreicht sein – mit all ihren dramatischen ­Auswirkungen. Zu den grossen Verursachern von Treibhausgasemissionen zählt der ­Gebäudebereich, er produziert weltweit 40 Prozent des CO2-Ausstosses. Das weiss man nicht erst seit gestern. Trotzdem ist ­bisher wenig geschehen. Wo sehen Sie die Gründe?

Die Bauwirtschaft war nicht untätig, seit der Ölkrise 1973 hat sich viel getan. Wir haben zum Beispiel Häuser viel energieeffizienter gemacht, es gibt heute Null- und Plusenergiebauten. Man hat den Heizölverbrauch reduziert und gelernt, die Sonnenenergie zu nutzen. Es gab immer ehrgeizige Ziele, zum Beispiel bei den Dämmvorschriften. Es gibt kompetente Handwerker, die Lösungen mit Solarenergie, dichten Gebäudehüllen, Holztragwerken usw. umsetzen können. Aber ja: Insgesamt haben wir zu wenig gemacht. Nötig sind beim Bauen Verbesserungen nicht um zwanzig oder dreissig Prozent, sondern um ein Vielfaches. Ein Teil der Architektenschaft hat tatsächlich geschlafen. Leute, die sich für nachhaltiges Bauen einsetzten, hat man in der Branche lange ignoriert oder als Exoten angeschaut. Noch zur Jahrtausendwende wurden sie in der Architekturwelt nicht wirklich akzeptiert. In den letzten Jahren hat aber ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Das Thema ist angekommen.

Wo steht die Baubranche Ihrer Meinung nach heute?

Beim Wissen um die bauliche Umsetzung sind wir eigentlich schon relativ weit. Was aber noch fehlt, ist der Markt dafür. Zwischen dem politischen Bewusstsein, was nötig ist, und einer Baupraxis, die das breit umsetzt, fehlt eine Verbindung. Es bräuchte deutlich bessere Rahmenbedingungen, Förder- und Marktmechanismen. Das Problem ist: Ein Haus zu bauen, das den Anforderungen genügt, die der Klimaschutz an uns stellt, kostet im Moment meist noch ein paar Prozente mehr, auch wenn sich diese Investition mittel- oder langfristig auszahlt. Ohne Vorschriften oder geeignete Marktmechanismen wird das nicht umgesetzt.

Peter Dransfeld ist seit April 2021 ­Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverbands SIA und vertritt damit über 16 000 Fachleute aus Architektur, Ingenieurbau, Technik und Umwelt. Der Architekt ETH SIA hat seit 1994 ein ­eigenes Architekturbüro. Er hat sich intensiv mit Energiefragen auseinandergesetzt, verfügt über breite Erfahrung beim Um- und Neubau von Null- und Passivhäusern und war unter anderem Vorstandsmitglied bei Swissolar. Ausserdem sitzt er seit 2012 im Thurgauer Kantonsparlament.

Bräuchte es demnach strengere Vorgaben?

Grundsätzlich sind Anreize besser als Vorschriften. In gewissen Bereichen sind Vorgaben aber zielführend. Im Glarnerland oder in Zürich beispielsweise wird künftig der Einbau von Heizungen mit fossilen Energieträgern verboten sein. Gerade im öffentlichen Bereich sollte man aber viel weiter gehen. Wettbewerbe für öffentliche Gebäude zum Beispiel könnten eine Plusenergielösung verlangen. Mein Büro hat 2015 einen Wettbewerb für einen Schulhausbau gewonnen. Dass er als Nullenergiegebäude konzipiert war, wurde weder verlangt noch interessierte es die Jury. Den ersten Preis erhielten wir, weil wir die wirtschaftlichste Lösung hatten. Dieses Beispiel scheint mir stellvertretend für viele zu sein. Es reicht nicht, wenn Bundesrat und SIA klimafreundliches Bauen gut finden und es gute Handwerker gibt. Es braucht auch den Willen und Instrumente auf allen Ebenen – in Gemeinden, Kantonen, Verwaltungen, Förderinstitutionen –, um diese Anliegen in Projekten umzusetzen. Der SIA verfasst deshalb auch regelmässig Stellungnahmen bei Vernehmlassungen auf Bundesebene. So bringt er sein Expertenwissen beispielsweise bei raumplanerischen oder energiepolitischen Vorlagen ein.

Und wie steht es um die ­privaten Bauträger?

Die nehme ich positiver wahr. Sie sind offener und eher bereit, ein paar Franken mehr auszugeben. Für private Bauherren sind weniger die Richtlinien wichtig, sondern, dass etwas sinnvoll ist und funktioniert. Ich habe mehrfach erlebt, dass Auftraggeber, die von sich aus eigentlich kaum Interesse an Nachhaltigkeit hatten, sich relativ einfach von Solarlösungen und deren Zukunftsfähigkeit überzeugen lies­sen. Sie sahen, dass der Nutzen die bescheidenen Mehr­kosten rechtfertigt. Als Architekt kann man da viel bewirken.

Der SIA hat im Oktober 2020 ein Positionspapier herausgegeben, in dem er den Klimawandel «als eine der grössten globalen Herausforderungen unserer Zeit» anerkennt. Im Papier wird CO2-Neutralität gefordert und auf den SIA-Effizienzpfad Energie verwiesen; die dort vorgesehene drastische Senkung der Treibhausgasemissionen solle ab sofort bei allen Gebäuden umgesetzt werden. Was nützen solche allgemeinen Appelle?


Das Thema beschäftigt den SIA bereits seit Jahren. Der Branchenverein kann aber keine Gesetze oder Vorschriften erlassen, sondern letztlich nur Empfehlungen abgeben. Unsere Rolle ist informieren, motivieren und weiterbilden. Ein Vorläufer des Positionspapiers ist das «Energieleitbild Bau», den Effizienzpfad Energie gibt es seit 2011. Er funktioniert nicht wie ein Label, das gewisse Werte vorgibt, sondern zeigt den Weg auf, wie man verschiedene Ressourcen erfassen und dokumentieren kann. Er eignet sich hervorragend, um die Effizienz im Betrieb und die graue Energie, die in Rohstoffabbau, Herstellung, Transport und Entsorgung steckt, zu senken. Die Instrumente und Normen des SIA werden in einem kontinuierlichen Prozess angepasst und weiterentwickelt. Wir sind überzeugt, dass sie Wirkung entfalten. Das braucht aber Zeit. Und man darf nicht vergessen, dass die 16 000 SIA-Mitglieder das ganze Meinungsspektrum abdecken. Nicht alle sind bezüglich Kli­masensibilisierung gleich weit.

Wo muss man nun ganz konkret ansetzen? Was sind die wichtigsten Hebel zum klima­neutralen Bauen?


Das ist relativ einfach: Suffizienz und Effizienz. Suffizienz heisst, wir müssen lernen, mit weniger Quadrat- und Kubikmetern Raum gleich gut zu leben. Effizienz heisst, wir müssen diesen Raum mit weniger Tonnen Mate­rial hinbekommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Betondecke war 1960 14 Zentimeter dick, Ende der 1980er-Jahre 25, heute sind es 30 bis 40. Lange hat es kaum jemanden gekümmert, dass man die Tonnage aus Lärmschutzgründen verdoppelt hat. Vielleicht sollte man sich fragen, was wichtiger ist: durch schlankere Bauweisen etliche Tonnen Beton und CO2 zu sparen, oder die Bewohner vollständig von Geräuschen aus anderen Wohnungen zu bewahren. Ein weiterer Hebel ist die Reduktion des Ressourcenaufwands auf ein Minimum im Betrieb. Beim letzten Punkt sind wir bereits recht weit.


«Ein Teil der Architektenschaft hat tatsächlich geschlafen.»


Viele Genossenschaften gehen von sich aus sparsam um mit Raum, aus ökologischen Gründen und weil sie preisgünstige Wohnungen anbieten wollen. Blickt man sich sonst um, hat man aber nicht den Eindruck, beim Bauen setze man auf Reduktion – im Gegenteil.

Stimmt, bezüglich Suffizienz stehen wir noch ganz am Anfang. Aber die Sensibilisierung wächst. Der SIA hat schon 2013 eine Tagung zum Thema durchgeführt. Vor ein paar Jahren sagte die Politik noch, man müsse Energie und CO2 einsparen – aber auf nichts verzichten. Heute wird Suffizienz nicht mehr einfach mit Verzicht gleichgesetzt und negativ bewertet. Suffizienz kann auch Komfort, Qualität und hohe Funktionalität bedeuten. Unser Ziel muss sein, eine schöne Stube bei gleicher Lebensqualität mit zwanzig statt dreissig Quadratmetern zu realisieren. Da sind wir als Planerinnen und Planer mit einem ganzheitlichen Verständnis gefordert, das nicht nur auf Elemente wie Energie, Statik oder Ästhetik abzielt, sondern das Ganze umfasst.

Es fällt auf, dass sich seit ein, zwei Jahren der öffentliche Diskurs verändert. Nun kommen Aspekte aufs Tapet, die vorher nur Insider interessierten. Graue Energie etwa. Und die Tatsache, dass diese bei der ganzen Abbruchthematik lange kaum beachtet wurde. Man kann zum Beispiel ein Gebäude abreis­sen und durch einen Neubau ersetzen, der dann Bestnoten beim Nachhaltigkeitsstandard SNBS erhält.

Ja, da besteht tatsächlich eine Lücke, die erst jetzt breiter thematisiert wird. Ein Stück weit erklärt sich das wohl auch, weil es schwierig ist, graue Energie zu messen. Von einem Gebäude im Betrieb weiss man genau, wieviel es verbraucht. Will man aber eine Gesamtbilanz über die Lebensdauer eines Hauses erstellen, wird es komplex. Beispielsweise muss die Herkunft der Materialien berücksichtigt werden. Es macht einen riesigen Unterschied, ob verbautes Holz aus der Region oder aus dem fernen Ausland stammt und was nach dem Rückbau eines Bauwerks wiederverwendet werden kann.

Damit sind wir bei der Kreislaufwirtschaft. Wiederverwendbarkeit, Reparaturfähigkeit und Trennbarkeit von Baumaterialien postuliert auch das SIA-Positionspapier. Stossen Sie damit in der Branche auf offene Ohren?

Die Kreislaufwirtschaft ist ein enorm wichtiger Hebel bei der grauen Energie. Beim SIA haben wir zum Beispiel im Herbst eine Tagung dazu durchgeführt, weitere Veranstaltungen sind in Vorbereitung. In der Praxis gibt es allerdings erst wenige Umsetzungsbeispiele, auch wenn es schon lange Bauteilbörsen gibt. Bislang ist beim Bauteilrecycling der logistische Aufwand viel höher und kostet oft mehr, als wenn man einfach Neues produziert. Am Schluss gibt oft der Preis den Ausschlag. Dabei müssten wir im Grunde genommen nur zurückkehren zu einer Art Vernunft, wie sie für unsere Grosseltern noch selbstverständlich war, die sogar Nägel aus Brettern gezogen haben, um sie wiederzuverwenden. In den letzten fünf Jahrzehnten war aber unsere Baupraxis in Bezug auf die Kreislauffähigkeit leider sehr unsensibel und ineffizient. Da müssen wir jetzt in ganz grossen Schritten vorwärts machen.

Klimaneutrales Bauen ist komplex. Wie kommt eine Baugenossenschaften am besten zum Ziel?

Indem sie sich an qualifizierte Planer wendet. Zudem muss sie klimagerechte Lösungen explizit bei Ausschreibungen einfordern und bei Jurierungen entsprechend gewichten.

Auch die Materialwahl ist wichtig. Gewisse Hersteller bieten zum Beispiel neuerdings Beton an, der klimaneutral sei und als CO2-Senke verwendet werden könne. Was halten Sie von solchen Aussagen?

Fachlich kann ich das nicht abschliessend beurteilen. Ich finde aber solche Entwicklungen ausgesprochen spannend. Viele Akteure der Bauwirtschaft mit hohem Klimaimpact wie Kieswerke, Tiefbauer oder eben Betonproduzenten sind sehr aktiv auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Das ist auch gut so. Denn ich glaube nicht, dass die Lösung der Zukunft einzig im Holz liegt, auch wenn es nachwächst und CO2 bindet. Das ist nur schon mengenmässig gar nicht möglich. Man muss also offen sein für Alternativen. Stahl zum Beispiel kann man sehr gut rezyklieren. Auch Lehmbau ist ein Thema.

Reicht das? Es mehren sich Stimmen, die einen echten Paradigmenwechsel verlangen. Der Verein Countdown 2030 etwa von jungen Architektinnen und Architekten fordert dezidiert, auf Abbruch zu verzichten. Noch radikaler ist die Klimajugend, die in ihrem Klimaaktionsplan ein Baumoratorium bis 2030 verlangt. Unterstützen Sie solche Forderungen?

Meines Erachtens ist es ein genereller Irrtum zu glauben, dass es einfache Rezepte gibt, um solche komplexen Probleme zu lösen. Das Rezept, statt neu zu bauen nur noch umzubauen, passt nicht immer. Letztlich müssen unsere Ressourcen geschont werden. Klar, das wird eher in der Kreislaufwirtschaft erreicht und eher im Um- als im Neubau. Aber es gibt Umbauten, die so aufwändig sind, dass sie mehr Energie brauchen als ein Neubau. Ein Neubaustopp löst das Problem nicht, so einfach funktioniert unsere Welt nicht. Aber natürlich müssen wir verstärkt nach guten Möglichkeiten suchen, mit bestehender Bausub­stanz zu arbeiten.

Kennen Sie Beispiele von zukunftsfähigen Projekten, die Ihnen besonders gut gefallen?

Unzählige! Da ist in den letzten Jahren wahnsinnig viel passiert. Man hat zum Beispiel gelernt, alte Fabriken umzunutzen, wie auf dem ehemaligen Sulzerareal in Winterthur, wo unter anderem eine Hochschule einzog, oder bei der Halle 118, deren Aufstockung mehrheitlich durch gebrauchtes Baumaterial erfolgte. Oft entstehen durch Umnutzungen bessere Resultate als mit einem Neubau.

Wird die Baubranche die grossen Heraus­forderungen der nächsten Jahre bewältigen?

Ich bin sehr optimistisch. Zukunftsfähige Lösungen sind eigentlich in weiten Teilen schon bekannt und werden angewendet, wenn auch erst in Pilotprojekten. Ich bin überzeugt, dass sie Fahrt aufnehmen werden. Optimistisch stimmt mich auch, dass die öffentliche Meinung jetzt mit Nachdruck einfordert, wirklich klimagerecht zu bauen. Das ist neu.