
Der Finanzexperte Andreas Dietrich über die Digitalisierung von Hypotheken
«Klassische Hypothekarbanken setzen auch weiter auf Kundennähe»
Mit der Digitalisierung eröffnen sich bei Hypotheken neue Möglichkeiten: erleichterter Zugang, mehr Markttransparenz und Wettbewerb sowie ein Onlineangebot rund um die Uhr. Professor Andreas Dietrich von der Hochschule Luzern schätzt die aktuellen Trends, die Rolle von Vermittlern und die Zukunft von Bankfilialen ein.
Interview: Jürg Zulliger | Bilder: iStock/anyaberkut, zVg | Februar 2021
Wohnen: Im Onlinebereich inklusive E-Financing ist eine unglaubliche Dynamik spürbar. Werden auch Hypotheken immer häufiger digital abgeschlossen?
Andreas Dietrich: Gemessen am Gesamtbestand von Hypotheken in der Schweiz bewegt sich der Marktanteil der Onlinehypotheken immer noch auf bescheidenem Niveau. Nach unseren Zahlen betrug er 2019 rund 3,1 Prozent. Das entspricht einem Volumen von fünf Milliarden Franken. Legt man den Begriff Onlinehypothek strenger aus, liegt der Marktanteil sogar noch tiefer. Wir stellen auch fest, dass der Digitalisierungsgrad in der Praxis noch immer sehr unterschiedlich ist. Äusserlich haben Kunden das Gefühl, alles laufe online. Die ganze Abwicklung im Backoffice mit Dokumenten und Unterlagen erfolgt zumindest zum Teil aber immer noch «analog».
Bei der ersten Finanzierung eines Projekts wollen offenbar viele Bauträger eine Beratung. Ist der Anteil der Onlineabschlüsse bei Verlängerungen von Hypotheken höher?
Man kann klar zwischen Erstfinanzierungen und der Verlängerung von Hypotheken unterscheiden. Das Potenzial reiner Onlinefinanzierungen für Erstabschlüsse erachte ich als gering – für kompliziertere Fälle von Neuhypotheken eignet sich der Onlinevertrieb weniger. Bei Verlängerungen sieht das hingegen anders aus. Wir haben dazu eine Umfrage durchgeführt. Sie hat gezeigt, dass sich rund 24 Prozent der Kundinnen und Kunden vorstellen können, die Verlängerung einer Hypothek online abzuwickeln. Daher steht wohl bei vielen Banken derzeit auch der einfachere Fall einer Onlineverlängerung im Vordergrund.
Wird sich dies auch in einem steigenden Volumen niederschlagen?
Ja. Meine Prognose lautet: In fünf bis zehn Jahren werden etwa zehn Prozent aller Hypothekenverlängerungen online abgeschlossen. Bei diesen standardisierten Abläufen kann der Onlinekanal seine Vorzüge ausspielen – zum Beispiel, dass die Stammdaten zur Liegenschaft und zum Vertragspartner bereits erfasst sind. Gerade im aktuellen Umfeld geht es fast nur noch darum, welche Laufzeit eine Kundin wünscht und welchen Zinssatz sie dafür erhält.
Welche Arten von Kundinnen und Kunden machen bis jetzt am meisten von Onlinehypotheken Gebrauch?
Bei der erwähnten Grössenordnung von fünf Milliarden Franken pro Jahr handelt es sich zu einem überwiegenden Teil um Privatpersonen. Sie finanzieren typischerweise Privathäuser und Eigentumswohnungen. Kompliziertere Finanzierungen für Bauprojekte und Investitionen passen weniger in einen standardisierten Onlineablauf. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Einführung einer Onlinehypothek für eine Bank mit erheblichen Kosten verbunden ist. Das rechnet sich nur mit einer gewissen Skalierung beziehungsweise einem grösseren Volumen. Für vereinzelte Geschäfte, die erst noch höchst unterschiedlich sind, lohnt sich der Onlinekanal nicht.
Im Internet findet sich dennoch eine kaum zu überblickende Fülle an Plattformen, die in irgendeiner Form Onlinefinanzierungen anbieten. Ist auch ein Kanal dabei, der speziell für Baugenossenschaften in Frage käme?
Die 2017 von der Bank UBS lancierte Plattform Atrium richtet sich vornehmlich an Firmenkunden und damit auch an Genossenschaften. Geldgeber sind unter anderem die UBS und institutionelle Investoren. Der Zweck ist allerdings relativ eng gefasst: Es muss sich um fertiggestellte Mehrfamilienhäuser handeln, bei einer Belehnung von maximal 75 Prozent, einer Kredithöhe von mindestens einer Million Franken und einer Laufzeit von mindestens zwei Jahren. Solche Onlineplattformen haben den Vorteil, dass ein Bauträger einen Kreditantrag einreichen und anschliessend im Rahmen einer Ausschreibung das passende Angebot auswählen kann. Je nachdem bieten dann fünf, sieben oder zehn Anbieter mit.
Trägt das Internet dazu bei, dass Kundinnen und Kunden über ein besseres Vorwissen verfügen über Zinsen und Konditionen?
Rund zwei Drittel der Kunden recherchieren zwar vor einem Hypothekarabschluss im Internet. Die sogenannte Financial Literacy, das heisst das Fachwissen zu Finanz- und Investmentthemen, ist in der Schweiz aber trotzdem nicht gestiegen. Ich gehe davon aus, dass sich dies auch in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren nicht ändern wird. Der Bedarf an Beratung und fachlicher Unterstützung wird weiter hoch bleiben.

Andreas Dietrich (44) ist Ökonom und Professor an der Hochschule Luzern. Er leitet das Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ und forscht und publiziert unter anderem zu Banking, Digitalisierung, Retail Banking und Crowdfunding.
Die Finanzmarktaufsicht Finma und die Nationalbank haben die Anforderungen bei der Prüfung und der Kreditvergabe sukzessive erhöht. Gelten für den Online- und den Offlinekanal die gleichen Spielregeln?
Ja, absolut. Die Auflagen und die Regulierung sind exakt dieselben. Die meisten Banken sind versucht, vor allem risikoarme Kredite auf den standardisierten Onlinekanal zu bringen. Bei fast allen Onlineplattformen durchläuft ein Kreditgesuch zuerst einen Risikotest. Erst wenn die Kreditanfrage gewissen grundlegenden Anforderungen genügt, kommt sie überhaupt für den Onlinekanal infrage. Manche Anbieter im Onlinebereich gehen sogar so weit, dass sie de facto nur Finanzierungen für eine erste Hypothek anbieten.
Die Digitalisierung und das Internet tragen zu mehr Transparenz bei. Und Darlehensgeber ausserhalb der Bankbranche haben leichteren Zugang. Führt dieser Wettbewerb zu attraktiveren Zinskonditionen?
Die Margen der Banken sind bereits seit Jahren unter Druck. Manche Akteure im Hypothekargeschäft versuchen, dies durch eine Erhöhung des Kreditvolumens auszugleichen. Tatsächlich verzeichnet ja der Gesamtbestand der Hypotheken in der Schweiz ein kontinuierliches Wachstum. Ein verschärfter Wettbewerb und sinkende Margen sind aber nicht nur der Digitalisierung zuzuschreiben. Sie haben vor allem damit zu tun, dass Versicherungen und Pensionskassen infolge des unattraktiven Obligationenmarkts dem Hypothekarmarkt wieder eine höhere Bedeutung zumessen. Ein weiterer Faktor sind Hypothekenbroker, die zunehmend wichtiger werden. Ein immer höherer Anteil der Hypothekargeschäfte kommt nicht direkt zwischen Bank und Kundin zustande, sondern läuft über Vermittlungsplattformen.
Innerhalb kurzer Zeit sind in der Schweiz zahlreiche solche Vermittlungsplattformen lanciert worden – etwa Moneypark, HypoPlus, valuu, Financescout, key4 und viele mehr. Wie erklären Sie sich diese Dynamik?
Dieses Geschäftsmodell verspricht hierzulande eben noch ein grosses Wachstumspotenzial. Das zeigt ein Blick nach Deutschland: Dort kommt schon jede zweite Hypothek über die Plattform eines Vermittlers zustande.
Was sind die Vorteile bei einem Broker?
Ein Kunde erhält durch nur eine einzige Kontaktstelle Offerten von bis zu dreissig Anbietern. Die meisten Leute denken beim Stichwort Hypothek nicht gerade an die Migros-Pensionskasse oder andere institutionelle Anleger wie Versicherungen und Sammelstiftungen. Plattformen und Broker gewährleisten solchen Anbietern ausserhalb des Bankbereichs den Zugang zu Kundinnen und Kunden. Das schlägt sich in Zahlen nieder – Schweizer Pensionskassen legen mehr Geld in Hypotheken an als früher.
Sogar die US-Investmentbank Goldman Sachs will jetzt dank Onlinevertrieb ins Schweizer Hypothekargeschäft einsteigen. Was sind die Risiken aus Kundensicht?
Die Seriosität an sich ist gegeben. Aus Kundensicht ist aber die Flexibilität je nach Vermittlungsplattform nicht immer gleich gross wie bei gewissen Banken.
Auffallend ist, dass bei etlichen Start-ups und neuen Onlineplattformen rund um Finanzierungen grosse Versicherungen und Banken eingestiegen sind. Bleiben die Vergleichsplattformen überhaupt unabhängig?
Ich glaube, es wäre der Tod einer solchen Hypothekenplattform, wenn sie nicht eine gewisse Unabhängigkeit bewahren würde. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass die Vermittler nicht alle Hypothekarangebote der ganzen Schweiz abdecken.
Wird die Digitalisierung auch die Beratung und die Prozesse im Finanzierungsgeschäft verändern? Werden zum Beispiel Interaktionen häufiger über Videokonferenzen oder durch Chatbots, also automatisierte Kommunikation mit dem Computer,
abgewickelt?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Beratungen zu Hypotheken dereinst von automatisierten Chatbots übernommen werden. Es wird ziemlich sicher dabei bleiben, dass beratungsintensive Dossiers auch in Zukunft durch einen persönlichen Kontakt zwischen Kunden und Beraterin abgewickelt werden. Schon heute ist es aber oft gängige Praxis, dass in der Beratung digitale Hilfsmittel eingesetzt werden – etwa Simulationen von Finanzierungen, Zinsen und Kosten, Visualisierungen oder digitale Tools zur Schätzung und Bewertung von Lagefaktoren, Renovationskosten usw.
Die Coronapandemie hatte auch für den Bankbereich Folgen und beschleunigte die Digitalisierung. Wird dies die Bankenwelt auch in Zukunft prägen?
Im Jahr 2020 wechselten noch mehr Leute zum E-Banking, und das Mobile-Payment scheint sich rasch zu etablieren. Die «Touchpoints» in grundlegenden Fragen wie Vorsorge, Anlagen und eben auch Finanzierungen werden sich aber nach meiner Meinung nicht grundlegend verändern, dafür wird es also weiterhin persönliche Beratungsgespräche geben. Denkbar ist, dass auch Beratungen über Video an Bedeutung gewinnen, etwa wenn eine Anschlussfinanzierung für eine Hypothek ansteht.
Hypotheken gelten als klassische Domäne der regional verankerten Finanzinstitute wie Sparkassen, Kantonal- oder Raiffeisenbanken. Werden diese heute wichtigen Akteure im Zug der Digitalisierung Personal und Filialen abbauen? Verschwinden die Bankfilialen irgendwann?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Diese Anbieter werden weiterhin stark auf das eigene Filialnetz bauen. Denn mit Kompetenz in Finanzierungsfragen und vor allem mit der Kundennähe, mit der sie werben, heben sie sich von der Konkurrenz ab.