«Kollaboratives Denken fördert Innovation»
Wie entwickeln Genossenschaften Siedlungen zukunftsfähig weiter? Ein Ideenwettbewerb hat Antworten auf diese Frage gesucht. Organisiert hat ihn der Regionalverband Nordwestschweiz, der 2026 sein 100-Jahr-Jubiläum feiert. Über das spezielle Verfahren und die inspirierenden Resultate diskutieren Verfahrensbegleiter Lukas Gruntz und Soziologin Barbara Emmenegger.
Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Ana Marija Pinto, Lukas Gruntz, zVg | 2025/06
Wohnen: Mit einem offenen Ideenwettbewerb hat der Regionalverband Nordwestschweiz sein Jubiläumsjahr eingeläutet. Was war das Ziel?
Lukas Gruntz: Die Jubiläumsausstellung bietet einen Blick auf die reiche Geschichte der Genossenschaften und auf spannende aktuelle Projekte. Wir wollten aber auch eine Perspektive in die Zukunft eröffnen. In Basel gibt es viele kleinere Genossenschaften, deren Bestand vornehmlich aus den 1940er- und 1950er-Jahren stammt. Sie haben sich seit der Erstellung nicht mehr weiterentwickelt. Da liegt grosses Potenzial brach. Das möchten wir nutzen und die Genossenschaften dazu inspirieren, sich auf den Weg zu machen. Deshalb haben wir das offene Format gewählt. Es lädt dazu ein, Ideen in einem offenen Denkraum kollektiv und im Dialog zu entwickeln.
Wie lief der Wettbewerb ab?
Gruntz: Zuerst haben wir 2024 mit einem Aufruf nach Genossenschaften gesucht, die ihre Siedlungen weiterentwickeln möchten. Wir haben schliesslich drei unterschiedlich grosse gefunden, die die Basler Themen gut repräsentieren (siehe Box Seiten 14/15). Dann haben wir im Frühling 2025 mit einem anonymen «Open Call» Planungsteams dazu eingeladen, Vorschläge zur Weiterentwicklung der Siedlungen einzureichen. Gesucht waren keine fertigen Projektentwürfe, sondern Entwicklungsideen, die auch sozialräumliche Aspekte umfassen und möglichst exemplarisch sind.
Die Ausschreibung der Präqualifikation war niederschwellig angesetzt. Interessierte konnten sich mit Ideenskizzen auf einem A3-Plakat bewerben. Wie war die Resonanz?
Gruntz: Es gab 71 Eingaben. Das ist viel, auch angesichts der knappen Zeit und der Tatsache, dass es in der ersten Runde keine Entschädigung gab. Insgesamt war das eine gelungene Sache.
Barbara Emmenegger: Dem kann ich nur zustimmen. In der ersten Runde ging es darum, die Lust am Mitdenken aufzuzeigen. Dass so viele Büros teilgenommen haben – darunter neben vielen jungen auch einige renommierte –, fand ich grandios.
Wie beurteilen Sie die Vielfalt und Qualität der eingereichten Ideen?
Emmenegger: Die Vielfalt war gross, die Qualität unterschiedlich. Es gab aber erstaunlich viele Teams, die sich bereits sehr differenziert und vertieft Gedanken zu wichtigen sozialräumlichen Fragen gemacht hatten: Wie leben wir eigentlich? Wie bilden sich Nachbarschaften und Gemeinschaften? Was braucht es dafür? Wie gehen wir mit Ressourcen um, was heisst Teilen? Das hat mich sehr gefreut. Ebenso wie die teils wunderschönen Eingaben mit ganz tollen Visualisierungen. Da war viel Anregendes dabei.
Gruntz: Das Beurteilungsgremium war ziemlich gefordert, den so unterschiedlichen Beiträgen gerecht zu werden. Eigentlich haben wir ja Thesen und Ideen gesucht, keine Projektentwürfe. Einige haben dennoch genau das gemacht. Daneben gab es aber auch analytische, spielerische und prozessorientierte Ansätze. Das Gremium hat schliesslich unterschiedliche Herangehensweisen zur Weiterbearbeitung ausgewählt.
Lukas Gruntz ist Architekt beim Atelier Atlas Architektur, engagiert sich im Kollektiv Architektur Basel, das das gleichnamige Architekturportal betreibt, und sitzt im Vorstand der Basler Genossenschaft Gewona Nord-West. Er war einer der Verfahrensbegleiter des Ideenwettbewerbs.
Barbara Emmenegger ist selbständige Stadt- und Raumsoziologin. Sie war Fachrichterin im Ideenwettbewerb. Emmenegger ist spezialisiert auf partizipative Prozesse und Sozialraumplanung, war als Dozentin an der Hochschule Luzern tätig und berät unter anderem gemeinnützige Bauträger.
Wohnschutz war eine Vorgabe der Ausschreibung: Mieter:innen sollen in ihren Wohnungen bleiben können, die Bausubstanz soll erhalten und aufgewertet werden. Wie gut haben die Vorschläge das umgesetzt?
Emmenegger: Fast alle sehr gut.
Gruntz: Bei den jungen Teams ist das Bauen im Bestand definitiv angekommen. Zu erwähnen ist auch, dass die Gebäude der drei betroffenen Siedlungen eine maximal solide Bausubstanz aufweisen. Diese Häuser können ganz viel, sie sind einfach sowie dauerhaft gebaut und eignen sich sehr gut zum Weiterbauen. Sie abzureissen, wäre unsinnig.
Aus den Bewerbungen der Präqualifikation wurden pro Siedlung zwei Teams ausgewählt, die ihre Vorschläge vertiefen konnten. Weshalb?
Gruntz: Wir wollten, dass die Teilnehmer:innen ihre Vorschläge in die Diskussion einbringen und im Dialog weiterentwickeln. Wir hätten uns sogar eine zweite Runde mit neun oder sogar zwölf Teams gewünscht. Dafür reichte aber leider das Budget nicht.
Die sechs Teams konkretisierten gemeinsam mit den beteiligten Genossenschaften ihre Thesen für die Siedlungen. Wie lief das ab?
Gruntz: Bei einem ersten Workshop im Mai ging es um das gegenseitige Kennenlernen. Alle Teams haben ihre Thesen präsentiert und Fragen beantwortet. Danach tauschten sich die Genossenschaften mit ihren beiden ideengebenden Teams aus und klärten nochmals eins zu eins, welche Ziele erreicht werden sollen. Was beschäftigt die Genossenschaft in ihrem Alltag, was können die Teams dazu beitragen? Und welche Ansätze sind exemplarisch und auch für andere Genossenschaften interessant? Darauf folgte eine Phase des bilateralen, auch informellen Austauschs, mit Begehungen, Zwischenbesprechungen und dem Weiterentwickeln der Ideen. Anfang September fand ein weiterer gemeinsamer Workshop statt, an dem alles zusammengeführt und mit dem Beurteilungsgremium diskutiert wurde.
Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Vorgehen gemacht?
Emmenegger: Ob die Teams, die für die gleiche Siedlung Ideen einbrachten, kooperieren wollten, konnten sie selbst entscheiden. Die beiden Teams, die sich mit der Siedlung der kleinsten Genossenschaft Am Horn befassten, entwickelten ihre Analyse und Präsentation nach dem ersten Workshop zusammen weiter. Das war eine gelungene Form von kollaborativem Denken – was förderlich ist für Innovationen. Gleichzeitig konnten die Teams auf Basis dieser Arbeit ihre eigenen Thesen weiterverfolgen. Die anderen vier Teams haben je ihre eigenen Ansätze weiterentwickelt. Beide Vorgehensweisen hatten Platz und brachten kreative und sozialräumlich wichtige Ideen ins Spiel.
Gruntz: Insgesamt war der Prozess äusserst produktiv. Als Architekt kenne ich das Problem bei konventionellen Wettbewerben: Jemand muss gewinnen. Da gibt es viel Konkurrenzdenken, man will nicht zusammenarbeiten. Es braucht neue Verfahren, die das aufbrechen. Denn letztlich geht es ja darum, die beste Lösung zu finden. Da ist das kollaborative Denken befruchtend. Ich fand es ausgesprochen positiv und bereichernd, dass Informelles und Diskussionen Platz hatten und dass es zwei vertiefte Studien gab, die sich gegenseitig inspirieren konnten.
Kommen wir zu den konkreten Projektvorschlägen. Gesucht waren Ideen für einen ganzen Strauss von Themen – von preisgünstigem Wohnen und sozialer Durchmischung über Zusammenleben und Ökologie bis zur Mitgestaltung durch die Bewohnenden. Welche Lösungsansätze liegen nun vor?
Gruntz: Zwei Vorschläge gehen besonders ergebnisoffen an die Fragen heran und zeigen Möglichkeitsräume auf. Beide enthalten Spielelemente. Ein Beitrag etwa lädt die Bewohner:innen mit «Was-wäre-wenn…»-Postkarten dazu ein, räumliche Gegebenheiten neu zu denken. Sie können Ideen einbringen, wie man zum Beispiel Waschküchen, Estrich- oder Kellerräume mehrfach, effizienter und gemeinschaftlicher nutzen kann, zusätzliche Funktionen in Fassaden integriert oder Wohnraum und Infrastrukturen teilt. Wer will, steuert auch selbst neue Frage-Postkarten bei. So entsteht mit der Zeit eine kollektive Ideensammlung, die gemeinsam diskutiert und zu breit getragenen Lösungen führen soll.
Emmenegger: Dann gibt es mit «Verdoppeln» auch eine Art Quartett-Spiel. Mit diesem lassen sich verschiedene Strategien zum Verdichten beleuchten. Dabei geht es um den Wohnungsbestand, im übertragenen Sinn aber auch um Themen wie mehr Vernetzung in die Nachbarschaft oder bessere Infrastrukturen. Zieht man im Spiel eine entsprechende Karte, muss man als erstes immer das Positive dieser Verdichtungsoption beschreiben. Der Effekt ist bemerkenswert.
Inwiefern?
Emmenegger: Man konnotiert Veränderungen nicht gleich negativ, sondern öffnet sich für neue Perspektiven. Ich habe das Spiel auch ausprobiert. Als ich eine Karte mit dem Bild eines überdachten Aussenraums zog, wurde nicht über sein Aussehen, sondern über seine Funktion diskutiert. Es entspann sich ein Dialog, welche Gruppen solche geschützten Räume brauchen und wie man entsprechende Nischen umsetzen könnte. Diskutiert wurde also ausgehend vom Bedürfnis der Menschen. Die Architektur ist so nachgelagertes Mittel zum Zweck. So sollte es immer sein.
Was schlagen die architektonisch gedachten Lösungen vor?
Gruntz: Auch dort gibt es sehr gute, differenzierte und flexible Ansätze. Sie arbeiten zwar teils mit ganz herkömmlichen Strukturen wie dem Anbau von Zusatzschichten oder Annexen, verstehen diese aber eher als modulare und multiplizierbare Prinzipien. Somit bleibt offen, wie diese Elemente am Schluss ausgestaltet sind.
Emmenegger: Sehr gelungen finde ich auch den Lösungsansatz «Modulo» für die Siedlung der Genossenschaft Klybeck. Neben dieser wird ein grosses Areal transformiert. Das wird zu Baulärm, Emissionen und sozialen Veränderungen führen und löst Angst aus. Der Vorschlag nimmt diese Situation auf und nutzt die künftige Baustellenwand produktiv und multifunktional um; unter anderem integriert er dort Schutzräume, Lifte und Freiräume für die Bewohnden. Solche Synergien zu schaffen, finde ich zukunftsfähig. Der Vorschlag bietet zudem Ansätze, wie konventionelle Kammergrundrisse durch minimale Eingriffe flexibilisiert werden können. Damit begegnet er auch gesellschaftlichen Herausforderungen wie den schnell ändernden Lebensformen.
Wie kamen die Vorschläge bei den Genossenschaften an?
Gruntz: Grundsätzlich sehr gut. Es gab Reaktionen von zurückhaltender Anerkennung bis zu totaler Begeisterung. Nur schon der Elan und das Engagement waren sehr eindrücklich, gerade für Leute, die nicht jeden Tag mit solchen Verfahren zu tun haben. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie es konkret weitergeht. Vor allem der Präsident der kleinsten Genossenschaft Am Horn war Feuer und Flamme. Er fand zum Beispiel den Vorschlag für seine Siedlung, die Waschküche durch eine ganz einfache und kleine Intervention an den Garten anzuschliessen und so viel offener nutzbar zu machen, perfekt. Er möchte das am liebsten sofort umsetzen.
Die Wettbewerbsbeiträge sollen Impulse für die ganze Branche geben. Wo kann man sie anschauen und sich darüber austauschen?
Gruntz: Sie sechs vertieften Studien werden in Ausstellungen gezeigt, vorgesehen sind auch Diskussionsabende. Zudem soll es einen Bericht geben, der alle 71 Eingaben vorstellt. Wir hoffen, dass sich viele Genossenschaften von den Ideen inspirieren lassen. Und dass sich viele weitere Türen öffnen, etwa von Architekturzentren und -foren in anderen Städten.
Was nehmen Sie persönlich vom Ideenwettbewerb mit?
Emmenegger: Man darf nicht aufhören, darüber weiterzudenken, welche Alternativen es zu Abriss und Neubau gibt. Diese Zitrone ist längst nicht ausgepresst, da geht noch viel mehr – angefangen beim gemeinsamen Generieren von Ideen mit den Bewohnenden über kluge bauliche Weiterentwicklungen und den Wohnflächenverbrauch bis hin zum effektiven Zusammenleben. Wichtig scheint mir, Siedlungsentwicklungen ganzheitlich, interdisziplinär und partizipativ zu gestalten, von der Idee bis zum Betrieb.
Gruntz: Echtes kollektives Denken ausser Konkurrenz bietet einen grossen kulturellen Mehrwert. Es braucht den Raum für Inspiration, Diskurs und neue Ideen. Planungsbüros sollten eigene Perspektiven in einen lustvollen und konstruktiven Austausch mit allen Beteiligten bringen können, ohne immer gleich dem Druck zu unterliegen, ein bestimmtes Raumprogramm erfüllen oder Mengentabellen ausfüllen zu müssen. Diese Art des Austauschs, auch der Recherche, ist ausgesprochen produktiv. Gerade bei Genossenschaften braucht es mehr solche Verfahren, die nicht auf eine spezifische Lösung abzielen, sondern prozess- und ergebnisoffen sind, Bedürfnisse abholen und zu Diskussionen einladen. Der organisatorische Aufwand ist überschaubar, der Nutzen gross.
Ausstellung Projektstudien: «Wohnen fürs Wohnen», S AM Schweizer Basel, bis 19. April 2026