
«Verdichtung muss Pro-Kopf-Verbrauch senken»
Als Stadtbaumeisterin bestimmte Regula Lüscher 14 Jahre lang mit, wie Berlin gebaut und verdichtet wird. Im Interview spricht die Haupt-rednerin des diesjährigen Forums über Chancen und Heraus-forderungen des Verdichtens in der Schweiz und sagt, warum Investoren in die Pflicht genommen werden sollten.
Interview: Patrizia Legnini | Bilder: Raquel Gomez Delgado, Anke Illing | 2025/05
Wohnen: Als Sie 2007 als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin zu arbei-ten begannen, galt die deutsche Hauptstadt als Kreativ- und Experimentierort für junge Leute. Sie war aber auch arg verschuldet und kokettierte mit dem Slogan «arm, aber sexy». Wie war es für Sie, unter diesen Umständen zu bauen?
Regula Lüscher: Es war schwierig, Berlin ist kompliziert. Und die Stadt musste damals massiv sparen. Schon in der ersten Woche sagte der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit zu mir, dass man kein Geld habe, um Berlin zu entwickeln. Ich musste viele Personaleinsparungen machen; die Verwaltung war überaltert, personelle Ressourcen fehlten. Zum Glück konnte ich bald eine grosse Brache beim Hauptbahnhof entwickeln, gemeinsam mit der deutschen Bahn, die das Gross-projekt finanzierte. Bezahlbaren Wohnraum oder Grünflächen konnte ich damals aber nicht einfordern; die Haltung der Stadt war liberal, man tat alles, um die wenigen Investoren nicht zu vergraulen.
Wie gingen Sie mit so wenigen Ressourcen an die Arbeit?
Ich machte Stadtentwicklung im kleinen Rahmen, förderte experimentelle Formate und setzte auf Zwischennutzungen. Ich arbeitete mit jungen Architekturbüros zusammen und lancierte eine Auszeichnung für kleine Projekte, zum Beispiel eine mobile Stadt-küche auf einem Velo. Mit Wohnungsbaugesellschaften startete ich einen Wettbewerb für experimentellen Wohnungsbau, gründete ein Baukollegium und plante eine Bauausstellung. Dabei ging es darum, Nachkriegsquartiere zu verdichten und Konzepte für gemischte Nutzungen zu entwickeln. Ziel war, eine Vorstellung von qualitativer Stadtentwicklung zu bekommen für den Fall, dass es plötzlich schnell gehen müsste.

Regula Lüscher ist Architektin und Stadtplanerin. Als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin traf die Schweizerin zwischen 2007 und 2021 stadtbildprägende Entscheidungen in der deutschen Hauptstadt. Seit 2022 betreibt sie ein international tätiges Büro und begleitet Planungsaufgaben, Baukulturpreise und Grossprojekte. Zusammen mit ihrem Mann wohnt sie in einer Mietwohnung in Winterthur.
Tatsächlich liess der Boom nicht lange auf sich warten: Die Stadt erlebte einen ökonomischen Aufschwung, die Bevölkerung wuchs. Allerdings verschärften sich auch die sozio-ökonomischen Ungleichheiten. Die Mieten stiegen stark, heute fehlt es an bezahlbarem Wohnraum. Warum?
Das hat auch damit zu tun, dass die hoch verschuldete Stadt nach der Wende massenweise städtische Grundstücke und Liegenschaften verscherbelte, um die Landeskasse zu füllen – ein riesiger Fehler. Als ich 2007 in Berlin ankam, waren die Grundstücke immer noch sehr günstig und wurden zu Spottpreisen von Investoren gekauft. Viele Bebauungspläne, die wir damals machten, wurden nie umgesetzt: Anstatt die Gebiete zu entwickeln, verkauften die Investoren sie immer weiter. Die hohe Gewinnmarge machte Berlin für Bodenspekulation äusserst interessant.
Wie reagierte die Stadt darauf?
Die Privatisierungspolitik prägt die Stadtentwicklung bis heute. Aber 2012 gab es einen Paradigmenwechsel: Man realisierte, dass es Regulierungen in der Boden- und Mietenpolitik braucht, und gab Grundstücke nur noch im Baurecht ab. 2014 wurde ein Gesetz eingeführt, das Investoren verpflichtete, dreissig Prozent der neuen Wohnungen an Haushalte mit geringem Einkommen zu vergeben. Ausserdem forderte Berlin von den sechs landeseigenen, also städtischen Wohnungsbaugesellschaften, im grossen Stil Wohnungsbau ein. Ich sass im Aufsichtsrat dieser Wohnungsbaugesellschaften und begleitete die politische Umsetzung.
Die Nachverdichtung gilt als wichtiger Baustein auf dem Weg zu mehr Wohnraum. Wie geht Berlin da vor?
Die Stadt setzte auf drei Strategien: Bauen auf der grünen Wiese, Entwicklung von Transformationsarealen und Brachen sowie Verdichten im Bestand, die schwierigste Variante. Die Stadt ist seither voller und dichter geworden, Baulücken im Zentrum wurden durch Investorenprojekte gefüllt. Grundsätzlich passiert die Stadtentwicklung heute gemeinsam mit privaten Entwicklern und den landeseigenen, also städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Das Problem ist, dass letztere ebenfalls grosse finanzielle Probleme hatten und kaum an Grundstücke herankamen. Das ist noch heute so. Neben den hohen Grundstückpreisen machte uns aber auch der Widerstand aus der Bevölkerung zu schaffen.
Weshalb?
Wenn mehr Leute in eine Stadt kommen, müssen mehr Räume geteilt werden. Viele Bewohner:innen fürchten etwa um ihre Aussicht. Dabei ist Berlin gar nicht so dicht gebaut; durch die Kriegszerstörung waren an zentralen Lagen riesige Zeilenbauten mit vielen Grünräumen und wenig Durchmischung entstanden – reine Schlafstädte. Diese Gebiete nachzuverdichten, ist schwierig, da sich viele Be-wohner:innen erfolgreich gegen Bauprojekte wehren.
«Private Entwickler sollten einen Teil des Mehrwerts abgeben»
Trotzdem sind Sie überzeugt, dass Mitwirkung bei Verdichtungsprozessen sinnvoll ist. Warum?
Der offene Dialog unter Beteiligung verschiedener Akteur:innen war mir immer sehr wichtig. In Nachbarschaften ist wertvolles Wissen vorhanden; durch Beteiligungsprozesse können Stadtplanerinnen und Investoren erfahren, was ein Quartier wirklich braucht, und einen Mehrwert schaffen. Dabei geht es nicht darum, Akzeptanz zu erzeugen, sondern um das Lernen voneinander. Ich selbst war in Berlin jeden dritten Abend an einer Bürgerveranstaltung. Dass unterschiedliche Akteure wie Genossenschaften, Baugruppen, Investoren und private Bauhherrschaften gemeinsam Gebiete entwickeln, ist dort ganz normal. Am Alexanderplatz führte ich zum Beispiel ein Projekt durch, bei dem dank einer Bürgerinitiative ein DDR-Bestandsgebäude erhalten werden konnte. Gemeinsam mit der Initiative, einer Wohnungsbaugesellschaft sowie der Finanz- und der Bezirksverwaltung ist ein Quartier entstanden, das neben bezahlbarem Wohnraum, dem Steueramt und dem Rathaus auch kulturelle und soziale Einrichtungen beherbergt.
Wenn Sie Berlin in städtebaulicher Hinsicht mit Zürich vergleichen: Was könnte Zürich von Berlin lernen und umgekehrt?
Berlin kann von Zürich die hohe Baukultur lernen, das Bauen mit besseren Materialien, vielfältigeres Bauen in Bezug auf Grundrisse und auf die architektonische und städtebauliche Gestaltung. Umgekehrt kann Zürich von Berlin mehr Improvisation und gemischte Akteurskonstellationen lernen.
Ist Verdichten ein rein städtisches Phänomen?
Nein. Aber Verdichtung sollte dort stattfinden, wo bereits eine Infrastruktur vorhanden ist: öffentlicher Verkehr, Schulen und Kultur, weil man damit die Wege verkürzt. In der Schweiz haben die Agglomerationsgemeinden gute Voraussetzungen dafür; das Verdichtungspotenzial ist hoch, auch Umzonungen sind möglich. Heute werden diese Gemeinden durch die kantonalen Entwicklungspläne raumplanerisch zur Verdichtung verpflichtet. In Zukunft werden auch in den Dörfern mehr verdichtete Wohnsiedlungen mit gewerblichen oder anderen Nutzungen entstehen.
Worum geht es beim Verdichten eigentlich genau?
Wir sollten einen sparsameren Umgang mit dem Boden finden und das Bewusstsein dafür entwickeln, dass er nicht vermehrbar ist. Heute beansprucht jede Person in der Schweiz 46 Quadratmeter Wohnfläche; viel mehr als früher. Würden wir noch wie in den 1970er-Jahren wohnen, müssten wir heute nicht so stark verdichten.
In der hiesigen Raumplanung gilt Verdichtung spätestens seit 2014,als das Raumplanungsgesetz revidiert wurde, als bestimmendes Paradigma. Was war das Ziel dieser Revision?
Sie zielte auf eine Siedlungsentwicklung nach innen; das Bauen an den Ortsrändern wurde eingeschränkt und eine kompaktere Siedlungsentwicklung innerhalb der bestehenden Bauzonen gefördert.
Und wie hat sich das revidierte Gesetz in der Praxis ausgewirkt?
Es hat zu einem massiven Druck auf die Zentren geführt. Weil die Schweiz es sich leisten kann, wurden viele Wohnsiedlungen einfach abgerissen. Als ich von Berlin nach Zürich zurückkehrte, hat mich das schockiert; gewisse Quartiere erkannte ich kaum wieder. Leider werden kompakte Wohnungen bei der Nachverdichtung oft durch Neubauten ersetzt, in denen gleich viele Personen auf mehr Fläche leben. Echte Verdichtung muss den Pro-Kopf-Verbrauch senken; Abriss sollte nur erlaubt sein, wenn danach mindestens doppelt so viele Menschen Platz finden. Entscheidend ist die Bewohnerdichte, nicht die bauliche Dichte. Positiv ist, dass auf Transformationsgebieten neuer Wohnraum entstanden ist und dass es hochwertige Arealentwicklungen gegeben hat.
Werden wir in 25 Jahren fast alle in einem Hochhaus wohnen?
Wahrscheinlich wird in den Zentren mehr in die Höhe gebaut, aber nicht unbedingt in Form klassischer Hochhäuser, die teuer und nicht für alle Wohnformen geeignet sind. Höheres Bauen schafft aber die Möglichkeit, auf dem Boden Flächen zu entsiegeln, Bäume zu setzen und Strassen wieder in Lebensräume zu verwandeln. Dazu gehört, oberirdische Park-
plätze massiv zu reduzieren und in umnutzbaren Hochbauten unterzubringen. Mit neuen Mobilitätskonzepten und der Abkehr vom Auto wurden auch in Berlin ganz neue Türen aufgestossen. Die Rückgewinnung der Strasse als Lebensraum ist eine städtebauliche Revolution.
Worauf kommt es bei guter Verdichtung sonst noch an?
Ein Quartier ist lebenswert, wenn ich mich darin sicher fühle, wenn es soziale Kontrolle ermöglicht und öffentliche Räume und Begegnungszonen bietet, die sich die Leute selbst aneignen können: sei das beim Spielen, beim Sport, beim Stadtgärtnern oder beim Kaffeetrinken. Wichtig ist auch die Nähe zu Schulen, Einkaufsläden und anderen Infrastrukturbauten und eine gute Erreichbarkeit mit dem Velo oder dem öffentlichen Verkehr.
«Es braucht Gesetze, um Mietzinserhöhungen zu deckeln»
Welche Bedingungen begünstigen die Verdichtung in der Schweiz, und welche erschweren sie eher?
Die kleinräumigeren Strukturen erleichtern vieles. Neben dem Raumplanungsgesetz sind auch unsere finanziellen Möglichkeiten eine riesige Chance. Mehr Ressourcen in der Verwaltung sind viel Wert, und die Politik ist eher bereit, von privaten Entwicklern Qualität einzufordern. Mit öffentlichen Geldern lassen sich bessere Schulen, Aussenräume und Infrastrukturen realisieren. Positiv ist auch der gut ausgebaute ÖV. Paradoxerweise fördern die hohen Bodenpreise die Verdichtung; der wirtschaftliche Anreiz ist höher, in die Höhe zu bauen. Und so unsozial es auch ist: Die hohen Mieten tragen dazu bei, den hohen Quadratmeterverbrauch pro Kopf zu senken.
Welche Chancen bieten Verdichtungsprozesse, wo gibt es positive Entwicklungen?
Verdichtungsprozesse bieten die Chancen der Fünf-Minuten-Stadt, in der die wesentliche Versorgung in fünf Minuten zu Fuss erreicht werden kann. Das funk-tioniert nur, wenn man auf gemischte Nutzungen setzt, gerade im Erdgeschoss. Zudem sollten Aussenräume sorgfältig gestaltet und eine soziale Infrastruktur geschaffen werden, etwa Quartiertreffs. Gerade Wohnbaugenossenschaften bauen schon länger so, was sehr erfreulich ist. Auch in neueren Stadtentwicklungsgebieten sehe ich Bemühungen, Durchmischung zu schaffen. Aber längst nicht alle Wohnbauträger sind bereit, sich mit anderen Akteuren zusammenzutun.
Wo hapert es sonst noch?
Viel Nachholbedarf hat die Schweiz bei der Entsiegelung. Sie ist ein wahres Asphaltland! Langfristig wird die Entsiegelung unser Stadtbild verändern – vielleicht hin zur urbanen Wildnis. Ausserdem müssen Vorgaben, um Investoren an Infrastrukturkosten zu beteiligen, wie es im deutschen Städtebaurecht geregelt ist, konsequent gesetzlich verankert sein und umgesetzt werden. Steigt der Grundstückswert, müssen private Entwickler einen Teil des Mehrwerts für Kitas, Schulen, Strassen oder soziale Einrichtungen abgeben.
Die Annehmlichkeiten der verdichteten Stadt nützen denen nichts, die sich das Leben dort nicht (mehr) leisten können. Immer mehr Menschen mit tiefem Einkommen werden aus den Kernstädten verdrängt. Wie kann man das verhindern?
Wir müssen uns intensiver mit dem Bestand auseinandersetzen. In Berlin habe ich mich dafür stark gemacht, dass DDR-Bauten nicht abgerissen, sondern erhalten wurden, und dass grundsätzlich bestandsbezogener gebaut wurde. Darüber hinaus sollte einfacher und günstiger gebaut werden können, etwa mit geringeren Standards und speziellen Bauordnungen für Umbauprojekte. Auch Quersubventionierungen zwischen Alt- und Neubauten und ein gemischtes Wohnungsangebot wären sinnvoll. Wohnbauträger sollten stärker in Zyklen denken und unterschiedliche Bewohner:innen und Nutzer:innen ansprechen. Wichtig ist eine sorgfältige Auseinandersetzung mit Wohnungsschlüssel und Wohnungstypologie.
Welche Instrumente gibt es sonst noch für eine sozialere Verdichtung?
Um preisgünstige Mietwohnungen einfordern zu können, sind die Instrumente der Wohnraumförderung natürlich unverzichtbar. Die öffentliche Hand sollte mehr Grundstücke kaufen und im Baurecht an die Bewerberin mit dem besten Konzept abgeben. Ausserdem braucht es Gesetze, um Mietzinserhöhungen zu deckeln, sowie bautechnische und steuerliche Anreize zum Erhalt und Ausbau des Bestands.
Wie sollten Wohnbaugenossenschaften Verdichtungsprojekte aufgleisen, und was geht oft schief?
Man muss viel Energie in die Phase Null stecken. Wichtig ist eine sorgfältige Analyse am Anfang: Was hat man, was braucht man, mit welchen Akteur:innen erreicht man das Ziel? Es ist wichtig, sich früh mit den Behörden abzustimmen, einen transparenten Beteiligungsprozess aufzugleisen und beim Wettbewerbsverfahren nichts zu überstürzen. Wichtig sind auch offene Kommunikation und klare Entscheidungswege: Alle Beteiligten müssen wissen, wer was wann entscheidet und wo Mitwirkung möglich ist. Viele Beteiligungsprozesse scheitern, weil man den Leuten falsche Hoffnungen macht. Ich sage immer: Ohne Beteiligung geht es nicht. Wenn man beteiligt, kann es gelingen!
Wohnfläche sparen
Die Zeitschrift Hochparterre hat kürzlich einfache Berechnungen zur Verdichtung angestellt. Gemäss dem mittleren Wachstumsszenario des Bundesamts für Statistik wächst die hiesige Bevölkerung bis 2055 von 9,11 auf 10,47 Millionen Menschen an. Bei einem konstanten Wohnflächenbedarf von 46,5 Quadratmetern pro Person wären 63 Millionen Quadratmeter zusätzliche Wohnfläche nötig, um alle Menschen unterzubringen. Das entspricht 630 000 neuen Wohnungen à 100 Quadratmetern. Würde der Pro-Kopf-Bedarf auf 40 Quadratmeter pro Person sinken, könnten 59 Millionen Quadratmeter Fläche eingespart werden – genug, um den zusätzlichen Platzbedarf zu decken.