
«Siedlungswarte sind unser verlängerter Arm»
Wohnbaugenossenschaften, die über die ganze Schweiz verstreut Siedlungen besitzen, lassen sich an einer Hand abzählen. Eine davon ist die 80-jährige Graphis. Geschäftsführer Michael Blunschi erklärt, wie sein kleines Team das grosse Gebiet bewirtschaftet und wie die Genossenschaft weiter wachsen will.
Interview: Liza Papazoglou | Bilder: zVg, Roland Bernath, Julian Graf | 2025/03
Wohnen: Es gibt kaum Wohnbaugenossenschaften, die in zwei Sprachregionen und in diversen Kantonen tätig sind. Die Graphis ist eine davon (siehe Box). Wie kam es zu dieser geografischen Breite?
Michael Blunschi: Sie verdankt sich den Gründern, die aus allen Ecken des Landes kamen und im Zweiten Weltkrieg zusammen Militärdienst leisteten. Dabei diskutierten sie oft soziale Probleme und Möglichkeiten, etwas gegen die grassierende Wohnungsnot zu tun. 1945 gründeten sie dann die Graphis. Dabei nutzten sie ihre jeweiligen Netzwerke vor Ort; einige waren dem grafischen Gewerbe verbunden und beschafften so Finanzmittel, andere brachten Land ein, und es gab auch Architekten, die selbst bauten. Wenn sich irgendwo eine Chance für Bauprojekte ergab, schlug man zu. So entstanden in wenigen Jahren 130 Häuser mit über tausend Wohnungen – allein 400 davon in Genf, weitere in Arbon, Chur, Zofingen, Allschwil, Bern, Aarau und verschiedenen Zürcher Gemeinden. Viele Gebäude wurden nach dem gleichen Schema realisiert, um die Planungskosten tief zu halten.
Heute besitzt die Graphis mehr als 1400 Wohnungen in neun Kantonen. Mit neun Mitarbeitenden ist Ihre Geschäftsstelle in Bern schlank aufgestellt. Wie führt das kleine Team schweizweit die Geschäfte?
Auf der Geschäftsstelle laufen alle Fäden zusammen, hier sind die zentralen Funktionen angesiedelt und arbeiten unsere fünf Verwalterinnen. Sie haben intensiven Kontakt zu den Mieter:innen und sind im Mittelland auch regelmässig vor Ort. Ich selbst besuche ebenfalls oft Standorte, wo Sanierungen oder Bauprojekte laufen. Zudem führen wir jährlich vor Ort Siedlungsversammlungen durch, die jeweils von der Geschäftsstelle geleitet werden. Dennoch ist es eine Herausforderung, Präsenz vor Ort zu haben und zu wissen, was in den Siedlungen läuft. Wir haben deshalb Regionen definiert, für die jeweils Siedlungswarte und Maler zuständig sind. Sie sind, zusammen mit den nebenamtlichen Hauswarten, quasi unser verlängerter Arm.
Was ist ihre Funktion?
Sie übernehmen vielfältige Aufgaben. So kümmern sie sich nicht nur um die Umgebungspflege und Reparaturen oder Malerarbeiten, sondern führen teilweise auch Wohnungsabnahmen und -übergaben durch. Das sind ausgezeichnete Leute, die von uns geschult wurden und das teilweise seit vielen Jahren machen. Sie kennen die Siedlungen sowie die Bewohnenden sehr gut und sind für viele Anliegen die erste Anlaufstelle.
Seit 1954 führt die Graphis keine Mitgliederversammlungen mehr durch, sondern setzt auf Delegiertenversammlungen (DV). Welche Erfahrungen macht sie damit?
Die Delegiertenversammlung ist oberstes Organ der Genossenschaft und findet einmal pro Jahr statt. Jede Siedlung wählt dabei im Vorfeld an den Siedlungsversammlungen ihre Vertreter:innen. Je nach ihrer Grösse kann sie eine bis fünf Personen delegieren. An den Siedlungsversammlungen werden auch wichtige Themen vorbesprochen und die Mitglieder können ihre Anliegen einbringen. Wir machen sehr gute Erfahrungen mit diesem System.
Wie unterstützt die Graphis das Gemeinschaftliche in ihren Siedlungen?
Dafür gibt es Siedlungskomitees, die sich aus Mieter:innen zusammensetzen. Wir unterstützen diese administrativ und finanziell bei Anlässen, Aktivitäten und Anschaffungen für die Gemeinschaft. Die Siedlungskomitees müssen sich aber selbst organisieren und aufstellen. Es gibt bei uns sehr aktive Siedlungen und solche, wo nicht so viel läuft. Das ist zum Beispiel oft der Fall, sobald die Kinder ausgezogen sind. Wir achten deshalb bei unseren Neubauten darauf, dass sie unterschiedliche Wohnungsgrössen aufweisen und dadurch eine bessere Durchmischung möglich wird.
Im Unterschied zu vielen Genossenschaften hat die Graphis eine Geschäftsprüfungskommission (GPK). Wofür ist sie da?
Ihre Aufgabe ist es, zu überprüfen, ob alles gemäss Statuten und Reglementen läuft. Unsere dreiköpfige GPK setzt sich derzeit aus fachlich kompetenten Vertreterinnen der Mieterschaft und einem Externen zusammen. Sie kann Einsicht in sämtliche Akten verlangen, nimmt bei allen Sitzungen des Verwaltungsrats (VR) teil und überprüft im Rahmen jährlicher Revisionen, ob die Geschäftsstelle VR- und DV-Beschlüsse korrekt umsetzt und Bestimmungen einhält.
«Unseren Nachbarn kommunizieren wir, dass wir an Käufen interessiert sind»
Ihre Genossenschaft ist am Anfang rasch gewachsen, danach folgte eine lange ruhige Phase. Seit 2008 ist die Graphis nun wieder in Bewegung, saniert, ersetzt systematisch Siedlungen und will weiterwachsen. Welche Strategie verfolgt sie dabei?
Wir haben keine quantitativen Ziele. Vielmehr möchten wir moderat und qualitativ wachsen, wenn es die personellen und finanziellen Ressourcen zulassen: Erstens durch innere Verdichtung, zweitens durch Zukäufe und drittens künftig auch durch die Übernahme von Genossenschaften, die selbst nicht mehr in der Lage sind, sich zu halten und zu entwickeln. Schwerpunkte dabei sind unsere Standortregion Bern sowie die «Mittelland-Banane». Wir sind aber offen und prüfen alle Anfragen, die zu uns gelangen.
Der Schweizer Immobilienmarkt ist heterogen. Wie behalten Sie die Übersicht und kommen zu Häusern und Land?
Wir haben die Markt- und Mietrechtslage in den Regionen, in denen wir tätig sind, sorgfältig analysiert und in der Folge Kerngebiete definiert, auf die wir uns in erster Linie konzentrieren. Insbesondere beobachten wir unsere bisherigen Siedlungsstandorte. Wir richten unser Augenmerk aber auch auf Stadt- und Agglomerationsgebiete um Bern, Thun, Basel, Luzern und Schaffhausen. Wenn sich anderswo Opportunitäten ergeben, prüfen wir diese natürlich ebenfalls. Interessant ist, dass wir die meisten Käufe der letzten fünf Jahre im Raum Zürich abschliessen konnten.
Wie das?
Wir setzen stark auf unsere Beziehungsnetze vor Ort und pflegen unsere unmittelbare Nachbarschaft bewusst. Wir informieren sie immer über anstehende Projekte und laden sie zu Veranstaltungen ein. So sind gute, teils langjährige Beziehungen entstanden, man kennt sich und hat gegenseitiges Vertrauen. So kommunizieren wir auch, dass wir im Falle eines Verkaufs interessiert sind. Auf diesem Weg sind wir etwa in Glattbrugg gleich zu zwei Liegenschaften gekommen, die uns benachbarte Besitzer direkt anboten, weil sie ihre Häuser in gute Hände geben wollten. Hilfreich ist überdies, dass wir bei Angeboten schnell reagieren können, weil wir schlanke Entscheidungswege haben und dank unserer langfristigen Planung wissen, über welche freien Mittel wir verfügen.
Die Graphis hat mehrere innovative Projekte realisiert. In Aarau (AG) etwa hat sie für einen Ersatzbau den Holzbaupreis 2018 erhalten, in Allschwil (BL) 2021 ein Haus mit der aktuell grössten Solarfassade im Schweizer Wohnungsbau erstellt. Wie gelingen solche Würfe?
Es braucht Offenheit. Zudem führen wir Wettbewerbsverfahren durch, auch wenn wir nicht müssten, und fordern dabei nachhaltige Lösungen ein. Interessant sind oft nicht nur die konkreten Projektvorschläge, sondern auch die Rückmeldungen. In Allschwil zum Beispiel war die Solarfassade eine Idee des Architekten. Diese nahmen wir auf und liessen ihn einen Vorschlag erarbeiten. Holz ist ebenfalls immer ein Thema. Wir verfolgen entsprechende Projekte intensiv, um innovative Lösungen für unsere künftigen Projekte nutzen zu können.
Neuland betritt die Graphis aktuell mit dem Brisgi-Areal in Baden (AG): Hier entwickelt sie zum ersten Mal nicht alleine, sondern zusammen mit zwei gemeinnützigen Partnerinnen ein Projekt. Entstehen sollen bis 2028 insgesamt 220 Wohnungen. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Wir wurden vor einigen Jahren angefragt, uns zu beteiligen, hatten das nach ersten Abklärungen aber eigentlich verworfen. Vor allem, weil es sich um ein Projekt im Baurecht handelt – alle unsere übrigen Liegenschaften stehen auf eigenem Land. Somit waren andere Bauträger am Zug. Als dann aber zwei Jahre später einer von ihnen ausstieg, prüften wir die Lage nochmals. Weil die Projektentwicklung fortgeschritten war und uns sehr gute Baurechtskonditionen angeboten wurden, sind wir eingestiegen. Diese Möglichkeit nicht zu nutzen, wäre schade gewesen, auch wenn wir üblicherweise Projekte eigenständig und unabhängig durchziehen.
Welche Erfahrungen machen Sie mit der gemeinsamen Entwicklung?
Einerseits ist das ein tolles Projekt, und wir freuen uns, auf unserem Cluster 75 neue Wohnungen erstellen zu können. Anderseits verteuert die gemeinsame Entwicklung den Bau, sie dauert länger und ist komplizierter. Trotz guter Stimmung und Einvernehmen im Projektteam gestalten sich die Abstimmung zwischen den Partnern und vor allem das Einholen von Einwilligungen in den unterschiedlichen Gremien aufwändig. Die Bauabteilung der Graphis besteht aktuell aus einer einzigen Person, die sich durch externe Partner verstärkt; eigentlich haben wir zu wenige Ressourcen, um so grosse Projekte zu stemmen. Wir werden uns aber demnächst im Baubereich verstärken, um den künftigen Anforderungen gerechter zu werden.
Welche Pläne hat die Graphis für die Zukunft?
Moderat weiter zu wachsen, ohne den Bestand zu vernachlässigen. Dafür sind wir dank unserer langfristigen Planung und gesunden Finanzen gut gerüstet. In den letzten zehn Jahren haben wir fünf Ersatzbauten erstellt, in den nächsten zehn Jahren sind bereits sieben weitere geplant, und weitere werden folgen. Daneben stehen diverse kleinere und auch umfassende Sanierungen an. Parallel dazu sind wir daran, uns zu professionalisieren. Ein neues IT-System haben wir vor Kurzem eingeführt, derzeit arbeiten wir an der Verschlankung sowie Optimierung unserer Abläufe und gehen die Herausforderungen der Digitalisierung an.
18 Standorte in neun Kantonen
Die Graphis Bau- und Wohngenossenschaft wurde 1945 gegründet. Ihr Bestand verteilt sich über die ganze Schweiz – vom Genfer- bis zum Bodensee und von Chur (GR) über Zollikofen (BE) bis Allschwil (BL). Die 134 Liegenschaften mit 1431 Wohnungen befinden sich an 18 Standorten in neun Kantonen. In den letzten zehn Jahren hat die Graphis fünf Ersatzprojekte und teils umfassende Sanierungen realisiert, weitere Bauprojekte sind geplant. Aktuell entwickelt sie – zusammen mit der Logis Suisse AG und der Wohnbaustiftung Baden – das Brisgi-Areal in Baden (AG). Vorgesehen sind dort insgesamt 220 Wohnungen.
Bildaufnahme: Das Brisgi-Areal in Baden gehörte früher dem Elektronikkonzern Brown, Boveri & Cie. (BBC). In den 1960er-Jahren liess dieser für seine Arbeiter:innen ein Hochhaus und zwei Mehrfamilienhäuser erstellen (Bildmitte). Dazwischen entsteht die neue Überbauung.
