Mitwirkung stärkt die Genossenschaft

Altes Thema, neue Formen

Neben günstigen Mieten gehört die Möglichkeit, sein Lebensumfeld mitgestalten zu können, zur DNA von Baugenossenschaften. Aktuelle Beispiele zeigen, dass eine erfolgreiche Mitwirkung sowohl von der Leitung gefördert wie von der Basis getragen werden muss und klare Spielregeln erfordert.

Von Pieter Poldervaart | Februar 2020 | Bilder: Eva Linder, Tres Camenzind

Eine halbe Million Franken für einen guten Zweck ausgeben dürfen – wer möchte das nicht? Im Oktober 2019 hatten die Bewohnerinnen und Bewohner der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) die Gele­genheit dazu. An einer erstmals durchgeführten Vergabekonferenz diskutierten rund 100 Interessierte über 17 Projektanträge. Bei 15 davon ging der Daumen nach oben, sie kamen in den Genuss von total 500 990 Franken. Das Geld stammt aus dem ABZ-Solidaritätsfonds, in den pro Haushalt und Monat ein Fünfliber fliesst. Wurde der Topf in früheren Jahren noch für Genossenschaftsmitglieder verwendet, die in finanzielle Schieflage geraten waren, springt seit 1981 eine eigens gegründete Stiftung für diesen Zweck ein.
Seither geht das Geld aus dem Fonds an Projekte im In- und im Ausland. Nun haben zum ersten Mal die ABZ-Bewohnenden über die Vergabe entscheiden können. «Das hat sich sehr bewährt», stellt der ABZ-Medienverantwortliche Ariel Leuenberger fest. Dies wohl auch, weil die Geschäftsstelle sowie eine Begleitgruppe ein Jahr lang intensiv am Prozess gefeilt hatten.

Sitzbänkli und Biodiversität
Immer mehr Baugenossenschaften weiten seit einigen Jahren ihre Mitwirkungsmöglichkeiten aus – oft auf Anregung oder Druck der Basis. Dass es dabei gleich um eine halbe Million Franken geht, bleibt allerdings die Ausnahme. Bescheidener ist das Angebot, das etwa die Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ) ihren Mitgliedern macht: Sie können seit einem Jahr Anliegen und Ideen auf einem zweiseitigen Formular der Geschäftsstelle einreichen. Voraussetzung für eine finanzielle Unterstützung ist, dass es sich um ein gemeinschaftliches Projekt handelt, sich mindestens drei Personen damit identifizieren und alle Betroffenen einverstanden sind. «Für einen solchen Interessenausgleich braucht es häufig Gespräche. Das war etwa so bei der Anschaffung einer Feuerschale als Treffpunkt in einer Siedlung», sagt Geschäftsführer Michael Gross. Unter den acht Vorschlägen von 2019 finden sich die Errichtung von Sitzgelegenheiten im Freien, das Anlegen eines Gartenbeets und mehr Engagement für die Biodiversität.
Während bei der BGZ der Anstoss für Mitwirkungsmöglichkeiten erst kürzlich im Vorstand verabschiedet und zusätzlich von der «Arbeitsgruppe Nachbarschaft» unterstützt wurde, liegt der Fall beim jüngsten Projekt der Heimstätten-Genossenschaft Winterthur (HGW) anders. Sie plant in Frauenfeld eine pionierhafte Genera­tionensiedlung und bezog mit einer Zukunftskonferenz von Beginn weg die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer, aber auch die lokale Bevölkerung ein. «Damit wir die Anliegen der Anwohnerschaft auch während des laufenden Prozesses nicht aus den Augen verlieren, sind sie im Begleitgremium vertreten», erklärt Martin Schmidli, Geschäftsführer der HGW.

Partizipation als Teil der Strategie
Als Paradebeispiel für Mitwirkung gilt die 2007 gegründete Baugenossenschaft «mehr als wohnen» (MAW). «Das ist schon in unserer Strategie festgehalten», sagt Anna Haller, die für die erste Siedlung Hunziker-Areal in einem 80-Prozent-Pensum für die Mitwirkung verantwortlich ist. Beim Neubauprojekt mit 13 Wohnhäusern war der Einbezug von Laien schon bei der Planung ein wichtiges Thema. An mehrstündigen Veranstaltungen, den sogenannten Echoräumen, wurden im Planungsstadium potenzielle Mieterinnen und andere Interessierte eingeladen, ihre Ideen einzubringen.
Das Format hat sich bewährt und wird aktuell auch beim neuen MAW-Projekt Hobelwerk in Oberwinterthur angewendet. So er­öffnete 2019 eine mehrstündige Information zu bisherigen Erfahrungen aus dem Hunziker-Areal den Veranstaltungsreigen. Als Nächstes folgte eine Diskussion zur Frage, welche Bedürfnisse das Quartier habe. An späteren Terminen ging es um kostengünstiges Bauen, die Berücksichtigung des Klimawandels bei der Planung und die Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Wohnens. «Ob in Zürich oder Oberwinterthur, immer waren alle eingeladen, also auch Nachbarn aus dem Quartier oder fachlich Interessierte», erklärt Anna Haller. Natürlich gehe es auch darum, neue Genossenschafterinnen und Genossenschafter zu finden. Doch ebenso wichtig seien das öffentliche Urteil und allfällige Inputs, um Fehler zu vermeiden und das Optimum herauszuholen. Beim Hunziker-Areal habe diese offene Mitwirkung zudem geholfen, das Projekt bei der Wirtschaft bekannt zu machen – «entsprechend gut lief die Vermietung der Gewerbeflächen». Neben den Echoräumen kam mit den Themengruppen ein zweites Ins­trument zur Anwendung. In diesen Gruppen bereiteten künftige Mieterinnen und Mieter Themen wie Freiwilligenarbeit oder eine Quartierwährung vor, wobei jeweils auch eine Person aus dem Vorstand oder der Baukommission Einsitz hatte.

ABZ-Mitglieder wollten mehr Mitsprache. Kürzlich konnten sie an einer Konferenz erstmals über die Vergabe von namhaften Beiträgen aus dem ABZ-Solidaritätsfonds an Projekte entscheiden.

Jede und jeder Fünfte ist engagiert
Seit dem Bezug wurde die Quartiergruppe als Mitwirkungsinstrument etabliert: Minimal fünf Personen können sich zu einer solchen Interessengruppe zusammenschliessen, Innen- oder Aussenräume beanspruchen oder auch Gelder beantragen. «Neben Kulturellem beackern diese Quartiergruppen Themen wie Foodsharing, unterhalten ein Lebensmitteldepot mit unverpacktem Essen oder haben eine Vertragslandwirtschaft auf die Beine gestellt», so Anna Haller. Auch weniger Lustvolles wie die Optimierung der Abfallbewirtschaftung oder das Entrümpeln der Velokeller wird von Quartiergruppen angegangen. Übernommen hatte sich allerdings eine Gruppe, die ganz auf freiwilliger Basis einen Jugendraum betreiben wollte – «hier braucht es wohl Profis», stellt die Mitwirkungsverantwortliche fest.
Neben diesen basisgetriebenen Formaten organisiert Anna Haller selbst Arbeitsgruppen, die sich etwa um die Aussenräume kümmern und diese weiterentwickeln. Eine andere Gruppe diskutiert, wie die noch unbebaute 14. Parzelle auf dem Areal genutzt werden soll. Ob von unten entstandene Quartiergruppen – in denen sich etwa ein Fünftel der 1265 MAW-Bewohnerinnen und -Bewohner engagieren –, von oben gesteuerte Arbeitsgruppe oder Krisen-Workshop: «Mitwirkung hat in der MAW einen festen Platz und mit mir auch eine Anlaufstelle», sagt Anna Haller. Damit die Grenze der Mitwirkung allen klar ist, sei es wichtig, dass schon im Vorfeld eindeutig definiert werde, wie die Prozesse ablaufen und worüber genau entschieden werden kann. Dass Mitwirkung im Trend liegt, ist unbestritten: In einer Umfrage von MAW entfiel die mit Abstand grösste Zahl der Antworten auf die Frage, warum man sich für das Wohnen im Hunziker-Areal interessiert, auf das Argument «Gemeinschaft und Partizipation».

Zeitlich befristet statt Dauerämtli
Wohnbaugenossenschaften spüren, dass das Thema Mitwirkung wichtiger wird, erklärt Nina Pfenninger. Im Vorstand des Regionalverbands Wohnbaugenossenschaften Zürich (WBG Zürich) ist sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen daran, Grundlagen für Mitwirkungsinstrumente zu entwickeln: «Das persönliche Wohnumfeld ist natürlich besonders gut geeignet, um mitzuwirken», sagt sie. Verändert habe sich gegenüber früher die Form des Engagements. War vor zwanzig oder dreissig Jahren der Einsitz in Gremien die übliche Form, bevorzugen heute viele ein zeitlich befristetes Mitmachen, das sich nicht an formale Grenzen halten muss.
Damit sich jemand für eine Arbeitsgruppe entscheidet, braucht es dennoch eine gewisse zeitliche Verfügbarkeit. Hinzu kommt die Fähigkeit, sich in solche Prozesse einzufügen. Wie viele Instrumente die Genossenschaft anbiete und was man den Bewohnenden überlassen möchte, sei abhängig von der Geschichte und der Ausrichtung einer Genossenschaft. «Einigen Wohnbaugenossenschaften ist im Lauf der Zeit der Umgang mit Mitwirkung ein wenig abhan­dengekommen. In solchen Fällen kann eine dafür verantwortliche Person viel bringen», stellt Nina Pfenninger fest.

Partizipation verändert sich stetig
Ohnehin bleibt diesbezüglich alles im Fluss, auch was die Themen angeht. Die Digitalisierung etwa kann zwar mit eigenen Apps zur einfacheren Vernetzung der Bewohnenden genutzt werden. Gleichzeitig sind Verhaltens­regeln nötig, damit der korrekte Umgang im digitalen Raum gewahrt bleibt. Schliesslich verlangen die soziale Durchmischung und der demografische Wandel, dass einmal eingeführte Mitwirkungsinstrumente regelmässig überprüft und gege­benenfalls angepasst werden.
Wer angesichts möglicher Herausforderungen die Mitwirkung vernachlässige, vergebe sich eine Chance, ist Nina Pfenninger überzeugt. «Als Genossenschaft profitiert man in vielfältiger Weise, wenn sich die Bewohnenden stärker einschalten. Generell steigt damit die Wohnqualität, ausserdem lernt man die Mieterinnen und Mieter und damit ihre Bedürfnisse besser kennen.» Zudem erhöhe Partizipation nachbarschaftliche Kontakte, was wiederum das Sicherheitsgefühl stärke. Und schliesslich fühle man sich in der Genossenschaft stärker verankert, was auch die Fluktuation reduziere.

BG zum Stab: Umfrage bringt Leben in Genossenschaft

Einkäufe für Nachbarn tätigen, Geräte tauschen oder einen Bastelnachmittag organisieren: Bisher liefen solche Aktivitäten in der Baselbieter Baugenossenschaft zum Stab, der vier
Siedlungen in Muttenz und Birsfelden gehören, eher spontan ab. Anfang 2018 verschickte die Geschäftsstelle an die 289 Haushalte eine Umfrage, um zu erfahren, wo allenfalls Interesse zur Partizipation besteht. «Der Rücklauf von 30 Prozent hat uns positiv überrascht», sagt Vorstandsmitglied Yvonne Steiner Ly. 70 der 85 Antwortenden konnten sich ein Engagement vorstellen, viele davon beim bisher etwas

vernachlässigten Winterdienst, bei der Reinigung und bei Gartenarbeiten. Diese Ideen haben sie auch in die Tat um­gesetzt: Durch neu organisierte Gruppen wird der Leiter Gebäudeunterhalt entlastet, zudem muss in Birsfelden die externe Gartenbaufirma seltener aufgeboten werden. Das eingesparte Geld fliesst zum Teil in jene sozialen Aktivitäten, die aufgrund der Umfrage neu in Muttenz und in Birsfelden stattfinden: Spielnachmittage, Kaffeetreffs und sportliche Aktivitäten. Schliesslich entstand in den beiden Muttenzer Siedlungen ein Netz der Nachbarschaftshilfe.