Siedlungsapps für die Mieterkommunikation sind auf dem Vormarsch

Nachbarschaft in der Hosentasche

Mit Siedlungsapps können Genossenschaften in direkten und unkomplizierten Kontakt mit ihren Mieterinnen und Mietern treten. Vernetzung, Organisation und Administration werden so tendenziell einfacher. Doch die zunehmende Digitalisierung der Immobilien­verwaltung sorgt auch für mehr Aufwand.

Von Michael Staub | Bilder: Michele Limina | Februar 2019

Die jungen Eltern aus dem vierten Stock verschenken eine Krabbeldecke, der Nachbar nebenan sucht ein günstiges Mietauto für den Umzug und das Ehepaar im Parterre leiht Interessierten seine Elektrowerkzeuge aus. Solche Informationen werden traditionellerweise in vielen Genossenschaftssiedlungen mittels Anschlagbrettern, Kleininseraten in der Hauszeitschrift oder dem berühmten «Flurfunk», also dem Gespräch im Treppenhaus, geteilt. Seit wenigen Jahren gibt es nun einen weiteren Kanal, der für die gegenseitige Information zusehends nütz­licher wird, die Siedlungsapps.
Umfang, Anspruch und Funktionen dieser Apps sind sehr verschieden. Die meisten bieten eine Chat- oder Forumsfunktion, eine Pinnwand, einfache Reservationsmöglichkeiten für Gruppen- oder andere Räume. Häufig gibt es zudem eine einfache Kontaktmöglichkeit zur Verwaltung, etwa für Anfragen, Anliegen oder Reklamationen. Die Funktionalität, aber auch das Preisschild solcher Apps sind ausgesprochen unterschiedlich. Von einfachen Standardlösungen, wie sie auch von privaten Immobilienbewirtschaftern eingesetzt werden, bis zu Eigenentwicklungen, die quasi auf den Pixel genau den Bedürfnissen einer Genossenschaft entsprechen, sind fast alle Varianten vertreten. So vielfältig und bunt wie die Welt der Wohnbaugenossenschaften ist also auch die Landschaft der Siedlungsapps. Einige interessante Vergleiche ermöglicht die Tabelle auf ­Seite 21. Nicht alle angefragten Genossenschaften moch­ten sich jedoch zu ihrer App äussern. Dazu gehört auch die beachtliche Nutzergemeinschaft von «TheSmarterPlace».

Vielfältige Anwendungen
Die Digitalisierung von Genossenschaftsversammlungen scheint bis jetzt noch kein Thema zu sein. Das niederschwellige Melden von Problemen kann jedoch ein guter Treiber für die Appnutzung sein. Diese Erfahrung hat die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) gemacht, deren bestehende «Wink»-Plattform seit diesem Jahr auch über eine App zugänglich ist: «Zwei Drittel der neuen Wink-User haben unmittelbar nach der Registrierung eine Reparaturmeldung erfasst», berichtet Ariel Leuenberger, Leiter Kommunikation ABZ. In den drei Monaten seit der Lancierung erfolgten über 1200 Reparaturmeldungen mittels Wink.
Stark auf Vernetzung orientiert ist die «Luogo»-App, die von der Genossenschaft Kraft­werk1 in Auftrag gegeben und tatkräftig mitentwickelt wurde. «Unsere App basiert auf Gruppen, die von den Mietenden auch selber eröffnet werden können», sagt Andreas Engweiler, Geschäftsführer von Kraftwerk1. Dies ermögliche den gegenseitigen Austausch, das Planen von Anlässen oder die Verteilung von Ressourcen: «Das Angebot wird rege genutzt, täglich werden Informationen und Anliegen innerhalb der Siedlungen ausgetauscht. Auch für uns als Verwaltung ist der Kanal ein offizielles Informationsmedium.»

Vielfältige Vorzüge
Seit wenigen Monaten macht auch die ASIG Wohngenossenschaft gute Erfahrungen mit ­einer Siedlungsapp. Eine bestehende Lösung, die seit 2014 auf dem Markt ist, wurde von der Entwicklerfirma gemäss den Wünschen der Genos­senschaft angepasst. Nun können sich Hauswarte und Mieterinnen auch über die Appricot genannte App austauschen, wenn Termine oder Re­pa­raturen anstehen. Ebenso nutzt die ASIG-Verwaltung den Kanal, um ihre Mietparteien zu informieren. «Die App haben wir im Oktober 2018 anlässlich des Bezugs unseres Ersatzneubaus Oase Am Glattbogen eingeführt», berichtet Geschäftsführer Reto Betschart. Nun sammeln Verwaltung, Hauswartung und Mietende erste Erfahrungen. Im Frühling 2019 soll die App dann allen 2800 ASIG-Haushalten zur Verfügung gestellt werden.
Welche Vorzüge bringt die Nutzung einer Genossenschafts- oder Siedlungsapp? Die Antworten der befragten Genossenschaften umfassen zahlreiche Punkte. Reto Betschart von der ASIG erwähnt «die zeitgemässe, struktu­rierte und tageszeitunabhängige Kommunikationsmöglichkeit für Mieter, Hauswarte und Verwaltung.» Nachteile sieht er keine: «Unsere App ersetzt keine bestehenden Kommunika­tionskanäle, sondern ist als Ergänzung und Mehrwert zu betrachten.» Auch Andreas Engweiler von Kraftwerk1 hebt die einfache, direkte Kommunikation innerhalb der Siedlung hervor. Angebote, Gesuche oder Veranstaltungen könnten so einfach bekannt gemacht werden, und zwar von der Mieterschaft wie auch von der Verwaltung.

Ergänzung statt Ersatz
Auch Kraftwerk1 nutzt die App als Ergänzung zum normalen Papieraushang. «So stellen wir sicher, dass möglichst viele Mietende erreicht werden», sagt Andreas Engweiler. Bei der ABZ sind neben der individuellen Vernetzung der Mieterinnen und Mieter zwei Punkte zentral: «Reparaturen können viel einfacher gemeldet werden. Und im Hintergrund verläuft alles bis hin zur Ablage und Dokumentation digital. Das spart Zeit, Aufwand und Papier», meint Ariel Leuenberger. Um das Potenzial der Digitalisierung zu nutzen, ist jedoch für die ABZ ein merkbarer Aufwand nötig. «Die App ist stetig im Wandel. Mieterinnen oder Mitarbeiter bringen Wünsche und Ideen für die Weiterentwicklung ein, die wir prüfen. Und es gibt Bugs, die geflickt werden müssen. Man muss immer dranbleiben», sagt Ariel Leuenberger.
Genau dieses Dranbleiben braucht es auch ohne inhaltliche oder funktionale Veränderungen. Denn die Betriebssysteme von Smartphones werden relativ häufig aktualisiert oder mit Sicherheitsupdates ergänzt. Das verlangt zahlreiche kleinere oder grössere Anpassungen, damit bestehende Apps weiterhin reibungslos laufen. Bei den Nachbesserungen gilt es, die Abwärtskompatibilität zu bewahren: Auch wer ein älteres Smartphone oder Tablet nutzt, soll nicht von der Nutzung der App ausgeschlossen werden. Und diesen Spagat zwischen Alt und Neu gilt es in der Regel erst noch auf zwei Betriebssystemen gleichzeitig zu machen, nämlich iOS (Geräte von Apple) und Android (Ge­räte von Samsung, Huawei, Sony, HTC und weiteren Herstellern). Abhilfe können sogenannte Web-Apps schaffen. Diese sind keine Apps im strengen Sinn, sondern bieten «nur» den Zugriff auf ein Webportal, in dem sämtliche Funktionen zentral verwaltet werden.

Einige Genossenschaften wie die ASIG nutzen Apps, die auf bestehenden Lösungen basieren. Andere haben eigene Anwendungen entwickelt.

Funktionen genau planen
Dass Apps für die Siedlungsgemeinschaft nutzbringend sein können, findet auch Katja Rost, die Professorin für Soziologie an der Universität Zürich ist. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist digitale Soziologie; diese untersucht die Auswirkungen der Digitalisierung auf Gesellschaften. Vom soziologischen Standpunkt seien Siedlungsapps grundsätzlich zu begrüssen, weil sie soziale Kontakte förderten, meint Katja Rost. Viele Elemente der klassischen Nachbarschaftshilfe, etwa das Blumengiessen, Kinderhüten oder Briefkastenleeren, könnten so unkompliziert organisiert werden. Ebenso betont sie den Nutzen solcher Apps für Sharingkonzepte: «Eine Bohrmaschine leihe ich lieber in der Nachbarschaft aus, statt dafür lange irgendwo hinfahren zu müssen.»
Kritischer sieht die Soziologin gewisse Aspekte, die allen sozialen Medien gemein sind: «Das Bemängeln und Kritisieren ist digital viel leichter. Auch Konflikte zwischen einzelnen Usern entstehen online oft schneller und eskalieren rascher.» Grund dafür sei der Online-Enthemmungseffekt: «Nonverbale Signale wie Stimme, Gestik oder Mimik sind sehr wichtig für unsere Kommunikation. Wenn sie fehlen, neigen wir Menschen schneller zu Kategorisierungen und Stereotypen.» Deshalb rät Katja Rost, wichtige Themen nicht online, sondern in einer klassischen Genossenschaftsversammlung zu diskutieren: «Dies gilt gerade auch bei Abstimmungen, weil hier zum Beispiel die unterlegene Partei hinterher nochmals zu Wort kommen kann.»

Für Mieter kostenlos und sicher
Während viele populäre Apps, darunter WhatsApp oder Instagram, mit den Daten ihrer Nutzer Geschäfte betreiben, können sich die Mieterinnen und Mieter der befragten Genossenschaften in Sicherheit wiegen. Die Daten aller vorgestellten Siedlungsapps werden in der Schweiz gehostet und unterstehen damit den hiesigen Datenschutzbestimmungen. Zudem übernehmen alle angefragten Genossenschaften die entstehenden Kosten für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. «Für unsere Mieter entstehen keine Kosten, da wir mit der App ja auch effizienter werden», sagt Ariel Leuenberger von der ABZ. Bei der ASIG beziffert man die Erstinvestition für die eigene App auf einige Tausend Fran­ken, die jährlich wiederkehrenden Kosten auf weniger als fünf Franken pro Wohnung. Diese werden den Mietparteien jedoch nicht weiterverrechnet. Auch bei der Genossenschaft Kraftwerk1 gibt es keinen Zins- oder Nebenkostenaufschlag: «Aktuell fallen nur die Hosting- und Supportkosten an, die über den Verwaltungsaufwand unserer Genossenschaft verbucht werden», sagt Andreas Engweiler.
Und wie soll die digitale Vernetzung weitergehen? Bei Kraftwerk1 plant man derzeit keine grösseren Ausbauschritte für die App, weil diese den Wunsch nach einer zentralen und transparenten Kommunikationsplattform gut erfülle. Andere Genossenschaften hegen bereits Aus­baupläne. So plant etwa die ASIG eine elektronische Warteliste für Mitglieder, die innerhalb der Genossenschaft eine grössere oder klei­nere Wohnung suchen. Mit der geplanten Applösung können die Mitglieder ihre Wünsche jederzeit den veränderten Bedürfnissen anpassen, ohne zeitraubende Telefonate oder Schriftwechsel mit der Verwaltung. Selbstverständlich werden die Mitglieder weiterhin auch herkömmlich bedient. Eine Warteliste für externe Interessenten wird bewusst nicht integriert, da ein Appzugriff nur mit einem aktiven Mietverhältnis und persönlichem Login möglich ist. Eine grosse Erweiterung plant auch die ABZ. Deren App soll schrittweise zu einem elektronischen Schalter ausgebaut werden, damit die Mietparteien mög­lichst viele administrative Aufgaben erledigen können, ohne persönlich in der Geschäftsstelle erscheinen zu müssen.