Rubrik: Recht

Der Entlastungsbeschluss

Der Entlastungsbeschluss ist eine schweizerische Spezialität und gehört bei einer Generalversammlung zu den Pflichttraktanden. Doch schützt er die Vorstände in jedem Fall vor Verantwortlichkeitsklagen?

Mit dem positiven Beschluss einer Entlastung verzichten die Genossenschaft sowie die zustimmenden Mitglieder grundsätzlich auf Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber dem Vorstand oder einzelnen Vorstandsmitgliedern, selbst wenn Pflichtverletzungen begangen wurden. Wiederum schafft die sogenannte Décharge gegenüber dem Vorstand Vertrauen, weil er sich in seiner Tätigkeit bestätigt fühlen darf.

Auch Geschäftsführung haftbar
Im Zusammenhang mit der Erteilung der Entlastung stellt sich aber immer wieder die Frage, in welchen Fällen doch eine Verantwortlichkeitsklage möglich ist. Gemäss Art. 916 OR haften alle Personen, die sich mit der Verwaltung, Geschäftsführung, Revisionsstelle oder Liquidation der Genossenschaft befassen, für den Schaden, den sie ihr durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen.
Zur Verantwortung gezogen werden aber nicht nur Organe im formellen Sinne – also solche, die im Handelsregister eingetragen sind –, sondern auch weitere Personen, die tatsächliche Organfunk­tion1 ausüben und in massgebender Weise an der Willensbildung teilnehmen. Deshalb sollte auch der Geschäftsführung die Décharge erteilt werden.

Voraussetzungen für eine Haftung
Damit der Vorstand beziehungsweise ein Vorstandsmitglied haftet, sind folgende Voraussetzungen kumulativ notwendig:

  1. Das Vorstandsmitglied hat mit seinem Handeln beziehungsweise durch Unterlassen eine ihm aus dem Gesetz oder Statuten obliegende Pflicht verletzt.
  2. Der Genossenschaft muss infolge einer Handlung oder Unterlassung durch ein Vorstandsmitglied ein Schaden entstanden sein – hinsichtlich der Klageberechtigung von Mitgliedern und Gläubigern wird zwischen dem unmittelbaren und mittelbaren3 Schaden unterschieden. Vorliegend interessiert im Hinblick auf die Wirkung der Décharge nur der unmittelbare Schaden der Genossenschaft.
  3. Zwischen der Handlung beziehungsweise Unterlassungen und dem eingetretenen Schaden besteht ein Kausalzusammenhang.
  4. Das Vorstandsmitglied muss absichtlich oder fahrlässig (Verschulden) gehandelt haben.

Die Genossenschaft muss in einem Prozess beweisen, dass der Vorstand oder ein einzelnes Vorstandsmitglied eine Pflichtverletzung begangen und dadurch einen Schaden verursacht hat. Das Vorstandsmitglied kann sich daraufhin entlasten, indem es beweist, dass es keinerlei Verschulden trifft.

Nur für erkennbare Tatsachen
Wie verhält es sich nun aber, wenn die Generalversammlung zum Zeitpunkt des Entlastungsbeschlusses noch keine Kenntnis vom Fehlverhalten hat, weil ihr die entsprechenden Tatsachen noch unbekannt sind? In sachlicher Hinsicht bezieht sich ein allgemein gefasster Entlastungsbeschluss grundsätzlich auf den gesamten Geschäftsgang.4 Jedoch konkretisiert das Gesetz, dass der Entlastungsbeschluss der Generalversammlung nur für bekanntgegebene Tatsachen wirkt5, also Tatsachen aufgrund von Unterlagen, Berichten oder mündlichen Informationen. Darunter fallen auch Tatsachen, die aufgrund der vorhandenen Unterlagen erkennbar gewesen wären.

Wirkung der Décharge
In zeitlicher Hinsicht erfasst ein Déchargebeschluss die Geschäftstätigkeit des abgelaufenen Geschäftsjahres, für das Rechnung gelegt und um Décharge ersucht wurde.6 Das Bundesgericht stellt auf den Zeitpunkt der pflichtwidrigen Handlung ab und nicht darauf, wann sie sich auswirkt. Ein gültiger Entlastungsbeschluss hat sodann folgende Wirkungen:7

  • Verzicht der Genossenschaft auf die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen8
  • Verzicht der dem Déchargebeschluss zustimmenden Mitglieder auf die Geltendmachung auf Ersatz des mittelbaren9 Schadens
  • Verkürzte Anfechtungsfrist von sechs Monaten10 für Genossenschafter, die dem Déchargebeschluss nicht zugestimmt haben

Fazit
Grundsätzlich erfasst ein Entlastungsbeschluss nur solche Tatsachen, die der Generalversammlung bekanntgegeben wurden. Hat die Generalversammlung Kenntnis von Fehlverhalten, empfiehlt sich die Décharge in zeitlicher oder sachlicher Hinsicht mit Vorbehalten zu beschränken, damit sie einer allfälligen Schadenersatzklage nicht entgegensteht.

  1. Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel: Aktienrecht, §37 N 2.
  2. Pflichten eines Vorstandes: Leitung der Geschäfte der Genossenschaft, Vorbereitung der Generalversammlung, Ausführen der Beschlüsse der Generalversammlung, Überwachungs- und Informationspflicht, Führen der Protokolle, Buchhaltung, Führung der Geschäftsbücher. Beispiele von Pflichtverletzungen: wer trotz Unregelmässigkeiten in der Geschäftsführung einzelner Vorstandsmitglieder, die den übrigen bekannt sein müssen, keine Untersuchung und weitere Massnahmen veranlasst; wer eine ordnungsgemässe Buchführung unterlässt; wer sich trotz Unerfahrenheit nicht von einem Spezialisten beraten lässt oder wer für keine seröse Finanzplanung sorgt (Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Aktienrecht, §37, N22‒35).
  3. Man unterscheidet zwischen unmittelbarem und mittelbarem Schaden, wobei die Unterscheidung vor allem bei der Wirkung des Entlastungsbeschlusses eine Rolle spielt. Mit dem Entlastungsbeschluss verzichtet nämlich ein der Décharge zustimmendes Mitglied auf die Geltendmachung auf Ersatz des mittelbaren Schadens, also den Schaden, der bei der Genossenschaft eintritt. Hingegen verzichtet es nicht auf die Geltendmachung des unmittelbaren Schadens, also den Schaden, den es selber erleidet. Lässt z.B. der Vorstand eine höhere als die statutarisch zulässige Entschädigung auszahlen, erleidet dadurch vor allem die Genossenschaft einen Schaden. Der Schaden der Mitglieder ist «nur» ein mittelbaren Schaden. Hingegen erleidet ein Mitglied einen unmittelbaren, also direkten Schaden, wenn es der überschuldeten Genossenschaft ein Darlehen oder freiwilligen Anteil gewährt, was es bei rechtzeitiger Überschuldungsanzeige des Vorstandes nicht getan hätte (BSK OR II-Gericke/Waller, Art. 754 N14f).
  4. BGer4A_155/2014 vom 05.08.2014 E. 6.3; Andreas Hinsen: Die zeitliche und sachliche Wirkung des Déchargebeschlusses in GesKR 4/2014, S. 3.
  5. Art. 758 Abs. 1 OR
  6. BGer4A_155/2014 vom 05.08.2014 E. 6.3.
  7. Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel: Aktienrecht, §36 N 131ff.
  8. Art. 758 Abs. 1 OR.
  9. Vgl. Fussnote 4
  10. Art. 917 Abs. 2 i.V.m. Art. 758 Abs. 2 OR.

Nicole Schwarz,

Rechtsdienst

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