Als junge Pionierin auf der Kathedrale von Lausanne

Der schönste Arbeitsplatz der Stadt

Die 27-jährige Cassandre Berdoz ist die erste Turmwächterin der Stadt Lausanne. Sie träumte schon als Jugendliche davon, nachts die Uhrzeiten vom Balkon der Kathedrale über die Dächer der Stadt zu rufen.

Text: Philippe Reichen | Foto: Jean-Pierre Fonjallaz | Dezember 2021

Plötzlich ist sie weg. Verschwunden in der Dunkelheit, im riesigen Bauch der Lausanner Kathedrale. Ihre Stimme hallt aus dem Nirgendwo. Als endlich das Licht angeht, ist Cassandre Berdoz bereits weiter gehuscht. Im Kirchenturm scheint sie die 153 Treppenstufen zum Balkon regelrecht hinaufzuschweben. Unter dem Dach der Kathedrale ist die Aussicht auf die Stadt Lausanne prächtig: mit dem Universitätsspital und dem Olympiastadion auf der einen und dem Genfersee und dem französischen Seeufer auf der anderen Seite. Berdoz stimmt in die Schwärmerei mit ein und redet den Ort noch attraktiver. Hier sei es selbst bei Sturmwetter schön, versichert sie. Und erst recht prächtig sei es, wenn es schneie. Auf den Tanz der Schneeflocken freue sie sich riesig – auf den Winter, die Stille, den Schnee, sagt die 27-Jährige, die tagsüber in einer Kommunikationsagentur arbeitet. Wenn Berdoz auf dem Wahrzeichen der Stadt Lausanne herumschlendert, wirkt es so, als wäre sie seit vielen Jahren Turmwächterin. Und irgendwie stimmt das ja auch. Denn Jahre bevor die Stadtregierung sie zur Turmwächterin ausrief, war sie es im Geist bereits.

Mit Hut und Laterne
«Ich war 13 Jahre alt, als ich den ‹Guet de Lausanne›, den Turmwächter, entdeckte und hörte, wie er zwischen 22 Uhr und 2 Uhr morgens zu jeder vollen Stunde die Uhrzeit vom Turm rief», sagt sie. Und sie lernte, dass der Guet im Mittelalter nach Feuersbrünsten und anderen Unglücken Ausschau halten musste. Heute ist das nicht mehr nötig. Die Neugierde stach sie. Bald stand Berdoz selbst auf dem Turm und sah, wie der Guet mit schwarzem Hut auf dem Kopf und einer Laterne in der Hand auf dem quadratischen Balkon die Runde machte. Und sie lernte auch die heimelige Loge unter dem Kathe-​dralendach kennen, wo der Guet, neben gigantischen Kirchenglocken und umgeben von jahrhundertealten Holzbalken und Bildern des Komponisten Ludwig van Beethoven, seine Nächte verbringt.
Heute bewohnt auch Berdoz die Loge und liest zum Zeitvertreib Buch um Buch. Sie erinnert sich: «Als 16-jährige Gymnasiastin war ich wild entschlossen, die erste Guette de Lausanne zu werden. Auch wenn ich wusste, dass es seit der Ernennung des ersten Turmwächters im Jahr 1405 nie eine Turmwärterin gegeben hatte.» Der Zufall wollte es, dass sie die Tochter des Guets und durch sie auch jenen Mann kennenlernte, der das Amt als hauptamtlicher Turmwächter noch heute innehat. Berdoz bat ihn, bei den Stadtoberen für sie zu weibeln. Um ihrem Interesse noch mehr Gewicht zu verleihen, stellte sie schliesslich ein Bewerbungsdossier zusammen und deponierte dieses bei der Stadt. Doch danach geschah erst mal nichts. Es half auch nichts, dass sie die Stadtverwaltung dann und wann darauf aufmerksam machte, dass da noch ihr Dossier liege und den Leuten versicherte, ihr Enthusiasmus, Guette zu werden, habe nicht ab­genommen, man solle sie darum bitte nicht vergessen. Man bedeutete ihr, sie müsse sich gedulden.


«Als 16-jährige Gymnasiastin war ich wild entschlossen, die erste Guette zu werden.»


Durchs Büro gerufen
Als in diesem Jahr endlich ein Platz als stellvertretender Turmwächter frei wurde, packte Cassandre Berdoz ihre Chance. Einmal mehr stürmte sie auf die Stadtverwaltung und betonte, sie wolle sich bewerben. Das dürfe sie gerne, aber mit einer neuen Bewerbung, beschied man ihr. Also bewarb sich Berdoz ein weiteres Mal und wurde zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Ob sie denn auch eine genügend kräftige Stimme habe, um vom Turm herab die Uhrzeiten über die Dächer Lausannes zu schreien, fragte sie die Generalsekretärin des verantwortlichen Stadtrats. Berdoz, die am Konservatorium jahrelang Gesangsstunden genommen hatte, liess sich nicht zweimal bitten. Sie setzte umgehend zum Turmwächterruf an. «C’est la guette! Il a sonné l’heure! Il a sonné l’heure!», schrie sie durchs Zimmer.

Ein Auftritt für die Frauen
Was die Sekretärin da hörte, imponierte ihr offenbar. Berdoz bekam den Job als Turmwächterin im Nebenamt. An drei Nächten pro Monat sollte sie über die Stadt wachen. Das war Mitte Juni. Doch da durfte sie auf Geheiss der Stadtregierung noch keinem Menschen davon erzählen. Mit ihr als erster Guette de Lausanne wollte man einen Coup landen. Mitte August hatte Berdoz endlich ihren ersten Auftritt. Den Turm bestieg sie ganz alleine, im Gegensatz zu heute, wo sie (auch) auf Wunsch der Stadt regelmässig Gäste empfängt. Ihre Familie und Freunde standen auf dem grossen Vorplatz und hörten sie punkt zehn Uhr schreien: «C’est la guette! Il a sonné dix! Il a sonné dix!» Die Medienmitteilung über das Ereignis wurde sogar von asiatischen Medien aufgegriffen.
Ihren Platz als Turmwächterin hat sich Berdoz mit Hartnäckigkeit erkämpft. Darauf ist sie stolz, denn für die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann kämpft sie seit Jahren. Jeder Auftritt auf dem Turm sei ein Auftritt für die Frauen, sagt sie. Und mit jedem Auftritt wächst bei ihr die Gewissheit, dass es im Team mit einem Haupt- und sechs «Assistenzguets» bald weitere Frauen geben wird. Heute ist Cassandre Berdoz aus Lausanne eine Pionierin. Und sie hat das Potenzial, ein veritables Wahrzeichen der Stadt zu werden.