Projekt Sterntaler: Geschichten für Betreuungsbedürftige

Ein märchenhafter Nachmittag

Susanna Ackermann-Wittek weiss, wie sie die betagten Zuhörerinnen und Zuhörer aus Zürich direkt in die Bündner Bergwelt befördert. Nur gedanklich, versteht sich. Die 64-Jährige ist Märchenerzählerin und ermöglicht durch ihre Geschichten neue Wege für Begegnungen.

Von Helen Weiss | Bilder: Vera Markus | Dezember 2017

«Ich nehme das Picknick mit Käse und Brot. Hast du Platz für den Feldstecher?», will Susanna Ackermann-Wittek wissen. Markus Betschart bejaht, packt zusätzlich eine Orange in seinen Rucksack und verstaut die Trinkflasche in einer Aussentasche. «Hast du ein Nastuch?», fragt sie. Markus Betschart faltet seines auf und lässt es aus dem Hosensack hängen. «Früher hat man damit signalisiert, dass man eine Frau sucht», erzählt er, worauf sie ihm lachend rät, sein Taschentuch dann vielleicht doch besser ganz in den Hosensack zu stecken. Dann werden die Rucksäcke geschultert, altertümliche Filzhüte aufgesetzt und Wanderstöcke zur Hand genommen. Los geht’s an diesem sonnig-bunten Herbsttag, einmal querbeet über die Wiese vor der Stiftung Alterswohnen in Albisrieden Sawia und hinein in den Pavillon, wo das Publikum bereits auf die beiden wartet.
Die Wanderung für die beiden Märchenerzähler ist nur kurz; die Reise aber, auf die sie die Betagten aus verschiedenen Sawia-Pflegewohngruppen anschliessend mitnehmen, entpuppt sich als lang und weit in die Vergangenheit zurückführend. In eine Zeit, als die älteren Zuhörerinnen und Zuhörer noch selbst wandern gingen und unter mächtigen Gipfeln einen Landjäger verspeisten. Später erinnert sich eine Bewohnerin: «Es war genauso wie damals, als ich mit meinem Mann in den Bergen unterwegs war. Wir haben uns beim Picknick auch immer gegenseitig Geschichten erzählt.»

Phantasievolles Setting
Rund 35 Bewohnerinnen und Bewohner der Sawia beobachten gespannt, wie das Erzählerduo in Wanderkluft das Halbrund im Pavillon betritt. An der Wand ist mit Tüchern eine Bergkulisse nachempfunden, am Boden finden sich zwischen Heidekraut und Rindenstücken auch Tannzapfen und ein Bergkristall. Das Setting sei fast ebenso wichtig wie die Wahl der Geschichten selbst, erklärt Susanna Ackermann-Wittek im Vorfeld, während sie die Requisiten sorgfältig arrangiert. Indem die beiden Erzähler als Wanderer aufträten, werde ein Rahmen für die erzählten Geschichten kreiert. «Das Eintauchen in eine andere Welt fällt dadurch leichter, das Erlebnis ist intensiver», weiss die Märchenerzählerin. Sie wählt immer ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung zieht. «Das können Jahreszeiten sein oder eine Auswahl an Märchen, die sich alle um Blumen drehen», erklärt sie.
Dieser Märchennachmittag im Oktober, der im Rahmen des 25-Jahre-Jubiläums der Stiftung Sawia stattfindet, ist Schweizer Volksmärchen gewidmet. Kaum haben sich die beiden Wanderer fürs «Picknick» hingesetzt, geht es los mit den Geschichten. Dabei wird nicht vorgelesen, sondern frei und lebendig erzählt. Die Volksmärchen handeln von listigen Frauen, geheimnisvollen Bergmanndli, armen Bauern, seltsamen Ziegen oder einem Haufen Gold; sind mal lustig, mal mystisch, mal schaurig. Rechtschaffene Sennen überwältigen misslaunige Berggeister und unbescholtene Mädchen triumphieren über grimmige Zwerge. Zum guten Märchen gehört auch das Böse – genauso wie das glückliche Ende, sobald das Gute über das Böse siegt.

Ein wirkungsvolles Setting, lebendig erzählte Geschichten und der Einbezug des Publikums: Mit diesem Rezept schlagen Susanna Ackermann-Wittek und Markus Betschart (beide mit Hut) ihr Publikum immer wieder in den Bann.

Zeichen der Wertschätzung
Wer den Geschichten lauscht, fühlt sich plötzlich zurückversetzt in den Moment, wo die Mutter oder der Vater vor dem Einschlafen am Bett sass und eine Geschichte erzählte. Und obwohl man als Erwachsener weiss, dass das Märchen gut ausgeht, kann man sich dessen Zauber trotzdem nicht entziehen. Weshalb man nur allzu gerne neue Welten betritt, fernab von der Realität, voller fremdartiger Geschöpfe, voller Magie und Zauber. «Unseren Bewohnerinnen und Bewohnern ergeht es genauso. Dieses wohlige Gefühl von damals, als man als Kind Geschichten lauschte, kommt wieder auf», sagt Heidi Hansen, Bereichsleiterin Hauswirtschaft und Gastronomie in der Sawia. Deshalb seien die Märchennachmittage auch so beliebt. «Dieses Versinken in eine andere Welt, dieses Ruhefinden im Moment ist ein besonderes Erlebnis.»
Viele der älteren Zuhörerinnen und Zuhörer sind an Demenz erkrankt und vergessen die Märchen meist rasch wieder. Trotzdem ist laut Heidi Hansen alleine schon das Gefühl wichtig, dass sich jemand für sie Zeit nimmt und ihnen eine Geschichte vorträgt: «Das ist ein Zeichen der Wertschätzung und des Respekts.» Deshalb plant die Sawia fürs nächste Jahr wiederum einen solchen Anlass. «Wir haben Susanna Ackermann-Wittek bereits wieder gebucht.»

Auszeit vom Alltag
Bei ihren Besuchen in Altersheimen erzählt Susanna Ackermann-Wittek nicht nur Märchen, sondern es ist ihr stets auch ein Anliegen, ihr Publikum möglichst miteinzubeziehen. «In welchen Alpen seid ihr gewandert?», fragt sie zwischen zwei Märchen die Zuhörerinnen und Zuhörer. «Bernina», ruft eine ältere Dame und meint in melodischem Bündnerdialekt: «Die Berge im Bündnerland sind viel schöner als jene im Berner Oberland.» Solche Interaktionen mit dem Publikum sind für die professionelle Märchen­erzählerin kostbare Momente. «Es zeigt, dass ich mit meinen Märchen Erinnerungen wachrufe und einen Anknüpfungspunkt schaffen kann.» Das Erlebnis mit der stark dementen Frau habe sie tief berührt und in ihre eigene Kindheit zurückversetzt, in eine Zeit, als sie mit ihrem Vater durch die Bündner Berge wanderte.
Seit 2013 ist die 64-jährige Susanna Ackermann-Wittek Stiftungsrätin der Mutabor-Märchenstiftung und Projektleiterin von «Sterntaler». Das Projekt fördert das Erzählen für Menschen in Pflegesituationen. Für betreuungsbedürftige Betagte und Kinder sind Märchen Lichtblicke in ihrem oft schweren Alltag: Die Geschichten machen Mut und spenden Trost, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch über das Leid erzählen und Wege zeigen, um mit schwierigen Themen zu leben. «Das Schöne an Volksmärchen ist, dass alle sie gerne hören und sie jeden berühren», weiss die Märchenerzählerin. Um sich mit dem mutigen Ritter oder der beherzten Heldin zu identifizieren, spielt es keine Rolle, ob man neun oder neunundneunzig Jahre alt ist. Vor allem sind Märchen nicht gar so weit entfernt vom echten Leben, schliesslich drehen sich die meisten Geschichten um universelle Themen wie Konflikte in der Familie oder den Umgang mit Alter und Tod. Nur eben weit weg vom Alltag, wo manchmal alles etwas beschwerlicher ist. Und wo man eine kleine Auszeit geniesst, wie eine Bewohnerin nach der zweistündigen Veranstaltung erklärt: «Das Bergmanndli hat mich an der Hand genommen und in eine andere Welt entführt.»

www.sterntaler.ch