Gute Nachbarschaft

Ein tragendes Netz

Eine funktionierende Nachbarschaft ist ein Segen – aber keine Selbstverständlichkeit. Für Wohnbaugenossenschaften, die wesentlich auf gegenseitiger Unterstützung und Solidarität basieren, ist gute Nachbarschaft besonders wichtig. Sie tun deshalb einiges, um sie zu fördern.

Von Liza Papazoglou | Bild: Ralph Hut | April 2016

«Hier läuft ja viel mehr, als wir je geahnt hätten!» So wie Andreas Schmuki, Leiter Bewirtschaftung der Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich (PWG), geht es vielen Genossenschaftsvertretern: Über die alltägliche, freiwillig geleistete Nachbarschaftshilfe in ihren Siedlungen erfahren sie oft nur zufällig oder indirekt. Andreas Schmuki etwa wurde an einem Treffen, das wegen eines anstehenden Umbaus stattfand, ganz nebenbei erzählt, wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Mehrfamilienhauses selbstverständlich und ohne viel Aufhebens um eine ältere Frau kümmern, ihr beispielsweise Kleinigkeiten besorgen oder beim Wäscheaufhängen helfen. So sollte nachbarschaftliches Zusammenleben um Idealfall funktionieren. Und findet auch jeden Tag so oder ähnlich in ganz vielen Siedlungen landauf, landab statt, spontan und unspektakulär. Glücklich, wer Menschen in seinem Umfeld hat, die einem unkompliziert ein Backblech oder einen Bohrer ausleihen. Mit denen man im Treppenhaus philosophieren und ohne Gezänk den Waschplan organisieren kann, die auch mal auf einen Kaffee hereinschauen, beim Veloflicken helfen oder zum Kinderhüten einspringen. Und denen man ohne Vorbehalte den Wohnungsschlüssel überlässt, wenn man in die Ferien fährt. Oft sind solche Kontakte einfach angenehm und das Extraquäntchen Lebensqualität, das zum Wohlfühlen im eigenen Wohnumfeld beiträgt. In vielen Fällen sind sie aber auch von existenziellem Wert. Etwa für die zunehmende Zahl älterer Leute, die dank Nachbarschaftshilfe in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben können.

Vieles, aber nicht alles läuft von allein

Die Grenzen zwischen nachbarschaftlichem Zusammenleben, informeller Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit sind fliessend; in Erhebungen wird daher nur ein Teil der effektiv geleisteten Nachbarschaftshilfe erfasst. Gemäss Bundesamt für Statistik engagierten sich 2013 etwa ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung oder 1,3 Millionen Menschen in irgendeiner Form in der informellen Freiwilligenarbeit. Dabei übernehmen etwa jede achte Frau und rund sieben Prozent der Männer für Bekannte oder Nachbarn Betreuungsaufgaben und Dienste wie Haus- und Gartenarbeiten oder Transporte. Trotz solch freiwilliger Engagements: Selbstverständlich ist gute Nachbarschaft längst nicht überall. Und sie entsteht auch nicht immer einfach von allein. Das weiss auch Andreas Schmuki. Er hat schon erlebt, dass sich die verschiedenen Parteien eines Hauses nicht einmal kannten und bei einem von der Stiftung PWG organisierten Infor-mationsanlass zu dessen Sanierung zum ers-ten Mal sahen. Da höre man dann Sätze wie «Ah, du bist der, der zuoberst wohnt!», er-zählt er. In den 134 über die ganze Stadt verteilten PWG-Wohnhäusern bestehen sehr unterschiedliche «Nachbarschaftskulturen», hat er festgestellt. Die PWG hat deshalb letztes Jahr anlässlich ihres 25-Jahr-Jubiläums einen Wettbewerb durchgeführt. Unter dem Motto «Gemeinsam daheim» konnten Gruppen von zwei oder mehr Mietern Projektideen einreichen, die das Zusammenleben dauerhaft fördern oder die gemeinsame Nutzung der Aussenräume verbessern. Die Idee dahinter: Attraktive Orte, wo man sich gerne aufhält und automatisch trifft, tragen wesentlich dazu bei, dass sich Bewohner kennenlernen und austauschen. Was wiederum eine gute Nachbarschaft und einen starken sozialen Zusammenhalt begünstigt. Zusätzlich wurde im Wettbewerb verlangt, dass die Hausbewohner gemeinsam etwas zur Umsetzung der Projektidee beitragen. Das kam offenbar gut an: 21 Vorschläge wurden eingereicht. Fast alle sollen nun auch realisiert werden. So werden diverse Innenhöfe, Gärten und Dachterrassen aufgewertet, und einige Anregungen werden gleich in der ganzen Stiftung PWG umgesetzt, etwa eine bessere Begrüssungskultur für Neumieter und die finanzielle Unterstützung gemeinsamer Aktivitäten von Apéros bis zu Ausflügen.


«Für ältere Menschen kann Nachbarschaftshilfe existenziell sein.»


Verschiedene Fördermöglichkeiten

Aktionen wie der PWG-Wettbewerb gehören zu den Massnahmen, mit denen Wohnbau-genossenschaften dem Zusammenleben ih-rer Mitglieder Schub verleihen wollen. Zum «Inventar» fast jeder Genossenschaft gehören etwa gemeinschaftlich nutzbare Innen- und Aussenräume sowie Aktivitäten wie Siedlungsfeste, Samichlausanlässe oder Mittagstische. Sie sollen Geselligkeit bieten und Spass machen, vor allem aber Kontakte schaffen und ein tragendes nachbarschaftliches Netzwerk knüpfen helfen. Denn wer seine Mitbewohner kennt und mit ihnen gemeinsame Erlebnisse teilt, hilft sich eher gegenseitg aus und kann auch Kinflikte besser gemeinsam lösen. Dieses Miteinander braucht es für Solidarität und Verantwortung – beides wichtige Werte von Wohnbaugenossenschaften. Viele von ihnen haben deshalb in den letzten Jahren eigens Stellen geschaffen, die das soziale Leben unterstützen und koordinieren. Die ASIG Wohngenossenschaft bietet bereits seit 23 Jahren eine Sozialberatung an. Mirjam Pfister weuss aus ihrer Tätigkeit bei der ASIG, dass oft gerade Leute, die Unterstützung gut brauchen könnten, nicht von sich aus Hilfe anfordern. «Es kann sein, dass zum Beispiel jemand wegen Geldproblemen in eine Beratung kommt und es sich quasi nebenbei herausstellt, dass ein Kind Aufgabenhilfe benötigt. In solchen Fällen kann ich dann Freiwillige vermitteln.» Mirjam Pfister bringt Menschen zusammen, die von sich aus nicht zusammengefunden hätten. «Klar ist es ideal, wenn sich das von alleine ergibt, aber es sind nicht alle gleich gut vernetzt. Denken Sie etwa an ältere Leute ohne Verwandte oder Zugezogene, die sich integrieren möchten», sagt die Sozialarbeiterin.

Von Fahrdienst bis Seniorenkaffee

Die ASIG-Freiwilligen übernehmen etwa Fahrdienste, begleiten beim Spitaleintritt, helfen bei administrativen Aufgaben oder besuchen alleinstehende Leute. Damit leisten sie nicht nur willkommene Unterstützung, sondern auch einen Beitrag gegen die Vereinsamung. Gerade für ältere Bewohnerinnen und Bewohner werde Nachbarschaftshilfe immer wichtiger, beobachtet Mirjam Pfister. Weil sie nicht immer spontan entsteht, finden sie es sinnvoll, dass Genossenschaften Angebote an der Schnittstelle zwischen Sozialarbeit und Genossenschaftskultur schaffen. Sie übernehmen eine wichtige Triagefunktion, wenn es an Kontakten, Austausch- und Informationsplattformen fehlt, und können Impulse geben. Die ASIG beispielsweise hat unlängst in einer grossen Siedlung in Zürich Seebach Kaffeenachmittage für Senioren lanciert. «Wir stossen diese zwar an, Ziel ist aber, dass die Bewohner sie selbst weiterbetreiben.» Ihrer Erfahrung nach braucht es solche Anstösse ab und zu, «quasi als Motor». Zahllose ähnliche Beispiele gibt es denn auch bei den meisten Wohnbaugenossenschaften, von Bastelräumen über Kursangebote bis zu Workshops, in denen Spielplätze gestaltet werden oder über die Weiterentwicklung einer Siedlung diskutiert wird. Natürlich können bisweilen trotzdem ernsthaftere Nachbarschaftskonflike entstehen Einige Wohnbaugenossenschaften bieten deshalb für ihre Mitglieder Klärungsgespräche an, um deeskalierend zu wirken. Doch Wohnbaugenossenschaften beeinflussen das nachbar schaftliche Zusammenleben nicht nur durch solche Unterstützungsangebote. Eine grosse Rolle spielen zwei weitere Aspekte. Zum einen ist das die baulichräumliche Ausstattung. So erleichtern beispielsweise Innenhöfe, «erzwungene» Wege oder attraktive Treffpunkte wie eine Dachbar Begegnungen. Zum anderen bestimmen auch die genossenschaftlichen Strukturen darüber mit, wie weit Bewohnerinnen und Bewohner sich nachbarschaftlich einbringen. Mehr Verantwortung und Entscheidungskompetenz innerhalb einer Siedlung etwa führen in der Regel auch zu mehr Engagement. Umfas-send empirisch untersucht wurde dies allerdings bis jetzt noch nicht. Seit eineinhalb Jahren läuft deshalb ein grosses Forschungsprojekt an der Hochschule Luzern, das herausfinden will, was Nachbarschaften auf Siedlungsebene sozial nachhaltig macht.


«Gute Nachbarschaft entsteht nicht immer von allein.»


Tapas statt Kuchen

Projektleiterin Barbara Emmenegger: «Das Thema ist hochaktuell. In den letzten Jahren gab es eine spürbare Wiederbelebung des Genossenschaftsgedankens und vermehrt jüngere Mitglieder, die sich engagieren. Für diese stimmen aber traditionelle Modelle oft nicht mehr.» So gibt es zwar in vielen Genossenschaften Angebote für Kinder und ältere Menschen, kaum aber etwas, das den Bedürfnissen junger oder berufstätiger Erwachsener entspricht. Oder, wie es eine der Untersuchungs thesen pointiert formuliert: «Von Kaffee und Kuchen zu Apérol Spritz und Tapas.» Was es braucht, damit Nachbarschaft langfristig funktioniert, nimmt nun die Studie genau unter die Lupe. Dabei sollen durchaus auch kritische Aspekte beleuchtet werden – etwa, unter welchen Bedingungen die oft gelobte soziale Durchmischung wirklich nachbarschaftsfördernd wirkt, wie Ersatzbauten so in bestehende Quartiere integriert werden können, dass keine Abgren-zung entsteht oder wo das optimale Mass zwischen «Animation», Gestaltungsspielräumen und Eigenmotivation liegt. Definitive Studienergebnisse liegen noch nicht vor. Die bisherigen Auswertungen deuten aber darauf hin, dass Menschen, die sich in ihrem unmittelbaren Umfeld enga-gieren, sich auch für die Gesamtgenossenschaft motivieren lassen. Für Wohnbaugenossenschaften ist dies wichtig, wenn der genossenschaftliche Gedanke weitergetragen und auch künftig günstiger und guter Wohnraum gesichert werden soll. Bewohnerinnen und Bewohner dürfen sich aber auch einfach darüber freuen, mehr als anderswo in den Genuss vielfältiger und tragfähiger nachbarschaftlicher Beziehungen zu kommen.