Gelassen trotz anstehendem Ersatzneubau

«Ich bin offen für das, was kommt»

Seit 29 Jahren lebt Erika Utzinger mit ihrer Familie in einer Gartenstadtsiedlung in Zürich Leimbach. In vier oder fünf Jahren wird diese abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Gewissheit, bei der Genossenschaft wohnen bleiben zu können, gibt ihr Zuversicht.

Text: Liza Papazoglou | Bild: Renate Wernli | August 2023

Die Sonnenhalde I ist eine Gartenstadtsiedlung wie aus dem Bilderbuch: Die bescheidenen Zeilenhäuschen sind gesäumt von Vorgärten und Wiesen, hier blüht ein Holunderbusch, dort streckt ein Baum seine Äste über den Gartenzaun. In einem Unterstand stehen Fahrräder, ein Cheminée ziert einen Sitzplatz. Erika Utzinger empfängt ihren Besuch an diesem sonnigen Frühsommertag vor dem Dreieinhalbzimmerhaus, in dem sie mit ihrer Familie seit 29 Jahren lebt. Weinblätter über­schatten die Pergola und sorgen für Kühle. Daneben zeugt ein erhöhtes Beet voller Blumen vom grünen Daumen der Bewohnerin. «Wir haben immer sehr gerne hier gelebt», sagt sie. Ein kleines Paradies. Noch.
Denn in vier bis fünf Jahren soll die Siedlung der Baugenossenschaft Freiblick in Zürich Leimbach abgebrochen werden. Schlecht ist die Bausubstanz der 1931 erstellten Häuser, ringhörig und klein sind die Räume, das Minibadezimmer und die schmale Treppe ent­sprechen nicht mehr heutigen Ansprüchen an Komfort und Barrierefreiheit, findet die Genossenschaft. Sie hatte geprüft, ob eine Sanierung und Aufstockung in Frage kommen, sich aber schliesslich für den Ersatz entschieden und dafür 2008 an der Generalversammlung grünes Licht von den Mitgliedern erhalten. Mittlerweile laufen unter Einbezug der Genossenschafter:innen die Planungen, 2027 könnten die Bagger auffahren. 120 Haushalte sind betroffen. Auch der von Utzinger.

Wurzeln im Quartier
Die Dentalassistentin ist dennoch gelassen. «Ich lasse das auf mich zukommen. Wir haben eine gute Zeit hier gehabt und viele schöne Erinnerungen. Das nimmt einem niemand mehr weg. Nun bin ich offen für das, was kommt.» Natürlich werde das eine grosse Umstellung. «Vermissen werde ich vor allem den Garten. Angst habe ich aber nicht, weil ich weiss, dass wir wieder eine Wohnung in der Genossenschaft erhalten. Stressen wür­de es mich nur, wenn ich in eine Ersatzwohnung und dann nochmals umziehen müsste.» Im Quartier bleiben möchte Utzinger auf jeden Fall – wegen dem vielen Grün und der Nähe zu See und Uetliberg, aber auch, weil ihr Bruder und ihre Tochter nicht weit von ihr wohnen. Sie betreut einen Tag pro Woche ihre Enkelin und bald deren neues Geschwister.
Über die Jahre ist hier ein Beziehungsnetz gewachsen, das sie pflegt. Wegen dem Ersatzprojekt werden Wohneinheiten der Sonnenhalde I nur noch befristet vermietet. Allzu viel habe sich bis jetzt dadurch nicht verändert: «In unserer Häuserzeile sind viele noch da. Aus anderen sind schon einige Leute in Ge­nossenschaftssiedlungen im Quartier umgezogen. Oder weggezogen. Men­schen, die mir wichtig sind, treffe ich aber weiterhin», sagt die aktive Frau, die in ihrer Freizeit Yoga macht oder Ski fährt, vor allem aber ihren grossen Freundeskreis pflegt.

Befristet vermietet
Die Nachbarschaft funktioniere gut. «Es ist familiär, man kennt sich. Unsere Kinder hatten es immer super», so Utzinger. Ihre Tochter und ihr Sohn sind hier aufgewachsen. Streif­ten um die Häuser, gingen bei den Nachbar:innen ein und aus – wie alle Kinder der Siedlung. «Vor allem, wenn es irgendwo Omeletten zum Zmittag gab», erin­nert sie sich schmunzelnd. Viele interessante Begegnungen hat sie gehabt. Man traf sich auf dem Spielplatz, am Abend stiessen oft die Part­ne­r:innen dazu und man feuerte den Grill ein. Freund­schaf­ten sind so entstanden. Nun ist es ruhiger geworden, die meisten Kinder sind ausgeflogen, Familien ziehen kaum in die befristet vermieteten Häuser.
Vor acht Jahren wurde Utzinger von der Genossenschaft angefragt, ob sie Vertrauensperson werden möchte. Da ihre Kinder schon grösser waren, sagte sie zu. In dieser Funktion begrüsst sie neue Mieter:innen und erklärt ihnen, wie die Genossenschaft funktioniert. Probleme mit den Nachbar:innen auf Zeit habe es bisher kaum gegeben. Vermietet werden die befristeten Wohnungen vor allem über das Jugendwohnnetz Juwo und die Stiftung Domicil, die Wohnungen an Menschen vermittelt, die es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer haben. Die meisten Zugezogenen seien nett. «Einige besuchen auch Genossenschaftsanlässe wie den Tag der Nachbarn. Wir haben schon richtige Multi-Kulti-Feste erlebt», erzählt Utzinger. Diskussionsstoff bieten würden die üblichen Waschküchenthemen, gravierende Konflikte seien ihr aber keine zu Ohren gekommen.

Privileg oder Menschenrecht?
Wann genau der Auszug ansteht, wie die neuen Häuser daherkommen, ob weiterhin so viel Grün und Lebensqualität vorhanden sind: Das alles ist noch ungewiss. In einer Testplanung hat die Genossenschaft Freiblick aber festgehalten, dass sich auch die Neubauten am Gartenstadtcharakter orientieren und wieder Zeilenbauten entstehen sollen. Vor allem aber will sie den Ersatz sozialverträglich und etappiert gestalten. Dieses Anliegen brachten die Mitglieder an Workshops zum Ausdruck, und die Genossenschaft nimmt sie ernst. Wer ausziehen muss, erhält Ersatzangebote und bei Bedarf Umzugsunterstützung und hat Priorität bei der Vergabe der neuen Wohnungen. Ein riesiger Unterschied zum freien Wohnungsmarkt, wo viele Mieter:innen aus ihrem Zuhause geworfen werden und aktuell kaum eine Chance haben, wieder eine bezahlbare Wohnung im vertrauten Umfeld zu finden.
Utzinger weiss um diesen Vorteil. Er gibt ihr, die als Genossenschaftskind aufgewachsen ist und die damit verbundene hohe ­Lebensqualität und Sicherheit schätzt, aber auch zu denken: «Das ist wie ein riesiges Privileg. Aber eigentlich sollte es doch selbstverständlich sein, dass alle so wohnen können!» Vorderhand geniesst sie ihr Häuschen und vor allem den Garten, solange sie kann. Eilig mit dem Umzug ist es ihr nicht, lässt sie durchblicken, und wegen ihr müsste die Siedlung auch nicht abgerissen werden. Sie und ihr Mann haben ihr Haus immer in Schuss gehalten – «ich wohne gerne schön!». Auch mit den 65 Quadratmetern Wohnfläche ist die Familie zurechtgekommen: Am Anfang teilten die Kinder ein Zimmer, später schliefen die Eltern im Klappbett im Wohnzimmer, das mit einer Schiebetüre vom Esszimmer abtrennbar ist. Und der Keller wurde so ausgebaut, dass man mit Besuch dort essen kann. «Das hat alles immer einwandfrei funktioniert», sagt Utzinger. Doch nun schaut sie pragmatisch nach vorne. «Unser Haus loszulassen, ist schon ein grosser Schritt. Aber ich bin auch gespannt auf die neue Siedlung und bin sicher, dass unser soziales Netz hier hält und trägt.»

Wie dramatisch die Ersatzneubautätigkeit für viele Menschen ist, die nicht in einer Genossenschaft leben, zeigt das Buch «Entmietet und verdrängt. Wie Mieter*innen ihren Wohnungsverlust erleben» von Miriam Meuth und Christian Reutlinger. Die Studie dokumentiert und analysiert drei ­reale Beispiele. Transcript Verlag, 2023.