Mit Herzblut engagiert für Integration

«Ich musste etwas tun!»

«Was mache ich hier, ohne Deutsch?», fragte sich Alba Chantico Ledesma, als sie vor neun Jahren in die Schweiz kam. Die Mexikanerin wurde aktiv und gründete den Verein Expo Transkultur. Er will Migrantinnen und Einheimische mit Kulturanlässen auf Augenhöhe bringen.

Text: Paula Lanfranconi | Bilder: Vera Markus | Dezember 2018

Hohlstrasse 400, Zürich, ein langgezogenes Industriegebäude. Früher waren hier die SBB-Reparaturwerkstätten. An diesem Novembersamstag hängen bunte Wollfäden im nüchternen Treppenhaus. Sie locken hinauf in den dritten Stock, zum Kulturworkshop «Analog Experiences», den der Verein Expo Transkultur zusammen mit dem Baubüro in situ und jungen Kunstschaffenden anbietet: Die Teilnehmenden sollen «mit nicht digitalen Technologien experimentieren und mit anderen Menschen interagieren».
Es sind schon etliche Leute da. Sie stammen aus Süd- und Mittelamerika, Spanien, Italien, Polen, Afghanistan, Ungarn, der Schweiz. Es gibt Getränke und Häppchen, liebe­voll zubereitet von zwei Migrantinnen aus Peru. Auf den Loungesofas sitzen Frauen, sie plaudern und stricken Plätzchen für eine Urban-Knitting-Installation. Eine Gruppe bastelt aus Recyclingmaterial kleine Kaleidoskope, eine andere versucht sich mit Gips. Der Fotoworkshop «Ve­rän­derungen in der Stadt», organisiert von Architecture for Refugees, zieht vorwiegend Männer an. Die Stimmung ist entspannt, es wird viel gelacht. Und Vereins­gründerin Alba Chantico Ledesma steht mittendrin. «Versuchs auch mal!», ermutigt sie einen jungen Mann und drückt ihm einen Wollknäuel in die Hand.

Philosophie statt Küche
Rückblende. September 2009: Alba Chantico Ledesma, 40, zieht mit ihrem Ehemann und den beiden kleinen Söhnen aus Mexico City nach Zürich. Ohne Deutsch, ohne Arbeit, ohne Haushaltskenntnisse. Weinend ruft sie ihre Mama an: «Wie koche ich eine Suppe?» Sie sei «die Verrückte» gewesen in ihrer Familie, erzählt sie nun in ihrer Wohnung in Zürich Affoltern. Sie habe Philosophie studiert, weil sie wissen wollte, warum die Welt so unglaublich ungerecht sei. «In Mexiko gibt es keine Sicherheit und keine Gerechtigkeit. Ich wusste, ich muss etwas tun!»
Sie wird Lehrerin. Dann lernt sie ihren Mann kennen, einen Österreicher, der an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert hatte und in Mexiko über Umweltverschmutzung forscht. Nach drei Jahren wird sie schwanger, doch ihr Mann möchte die Kinder nicht in Mexiko aufwachsen lassen – zu schwierig. So ziehen sie nach Zürich. Die junge Mutter eckt bald an. Wenn sie mit ihren Kindern redet, fragen ältere Frauen schockiert: Was ist denn los? Sie fragt sich: Was mache ich falsch? Was mache ich hier überhaupt? Sie beginnt, Deutschunterricht zu nehmen, sich mit dem hiesigen Alltag auseinanderzusetzen und realisiert: Für Schweizer sind wir offenbar zu laut!

«Interact» bringt mit «Stadtstricken», Kaleidoskopbauen und Fotografieren verschiedenste Menschen zusammen.

Potenziale nutzen
Sie sieht auch, wie andere gut ausgebildete Migrantinnen ihr Potenzial nicht ausleben können und depressiv werden. So erfindet sie «Persefone», einen Lesekreis für spanisch­sprachige Frauen. Zu den Mitgliedern gehört die Künstlerin Paloma Ayala. 2013 gründen die beiden Frauen den interkulturellen Verein Expo Transkultur: «Kunst- und Kulturprojekte sind der beste Weg, Migrantinnen und Einheimische auf Augenhöhe zusammenzubringen.» Ganz ohne Deutsch funktioniert Integration dennoch nicht. So bietet der Verein im Affoltemer Quartiertreff Zehntenhaus jeden Montag das «Sprachkaffee Deutsch» an.
Heute hat Expo Transkultur rund dreissig Mitglieder. Sie kommen aus Polen, Deutschland, Algerien, Süd- und Mittelamerika, etwa zehn Prozent sind Einheimische. «Wir sind sehr unterschiedlich, und manchmal ist es ein Albtraum, bis wir uns auf etwas einigen können.» Trotzdem schafft es der Verein, jedes Jahr mehrere Kulturfestivals und Work­shops in Zürcher Gemeinschaftszentren auf die Beine zu stellen.

Auch Demokratie muss man lernen
Besonders stolz ist Alba Chantico auf die eingangs beschriebene Veranstaltung «Interact!». Solche Events möchte der Verein künftig auch Baugenossenschaften in Affoltern anbieten, denn Siedlungen seien wie kleine Städte: «Die Menschen sind beschäftigt und reden kaum miteinander. Unser Ziel ist es, eine freundliche Gemeinschaft aufzubauen.» Zusammen mit den Sied­lungs­kom­mis­sionen will man herausfinden, welche Anlässe passen würden. Für die Genossenschaften wären die Angebote kostenfrei, da sie von der städtischen Integrationsförderung unterstützt werden. Das Schwierigste sei, die Menschen zu erreichen, sagt Alba Chantico. «Es kommen fast nur Leute, die wir persönlich angesprochen haben. Es braucht viel Zeit.»
Auch sonst treiben Alba Chantico Integrationsprojekte um. So leitet sie das Sprach­café Spanisch im GZ Affoltern und einen Schreibworkshop. «Wir schreiben Kurzgeschichten. Das ist Himmel!» Früher engagierte sie sich auch beim Präventionsprojekt Femmes-Tische, und seit vier Jahren sitzt sie im Ausländerinnen- und Ausländerbeirat der Stadt. «Die Schweiz ist ein unglaubliches Land mit klaren Regeln. Ich liebe das.» Damit die Zugewanderten aber ihre Rechte wahrnehmen könnten, bräuchten sie eine Einführung in die politische Partizipation in der Schweiz. Auch dafür will sie sich engagieren.

Mit Ausdauer und Herz
Woher nimmt sie so viel Herzblut? Ihr Hauptcharakterzug sei «Persistenz», Ausdauer. Sie habe einen Pädagoginnengeist, möchte den Leuten die Augen öffnen. Ihre Söhne sind inzwischen neun und zehn Jahre alt, sensibel und intelligent: «Wenn ich jemanden nicht genau verstanden habe, zupfen sie mich diskret am Ärmel und erklären mir auf Spanisch die Situation.» Ohne die Unterstützung ihres Mannes hätte sie nie so viel erreicht, betont sie. Das Kochen macht ihr inzwischen Spass. Ihre Älplermakronen, meint sie lachend, gehörten zu den besten in ganz Zürich.
Eigentlich mache sie ja nichts Grosses. Wenn sie durchs Quartier spaziere und sehe, wie die Leute lächeln und aufeinander zugehen, habe sie ihr Ziel erreicht. «Wir alle brauchen Empathie, Geduld, Liebe!» Man spürt: Diese Frau hat ein grosses Herz.

Zur Person: Alba Chantico Ledesma (49) studierte in Mexiko Philosophie und war Lehrerin, bevor sie 2009 in die Schweiz zog. Hier lebt sie mit ihrer Familie und setzt sich für Integration ein.

www.expotranskultur.org