«Housing First»: Wohnen als Grundrecht

Neuer Mut in der eigenen Wohnung

Ein Raum mit Bett, Tisch und Schrank, ein eigenes Bad: In Basel gibt man Obdachlosen bedingungslos eine Wohnung ab. «Housing First» stellt bisherige Konzepte in der Obdachlosenhilfe auf den Kopf – und gibt Betroffenen die Chance, im Leben wieder Fuss zu fassen.

Text und Fotos: Klaus Petrus | September 2022

«Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Hier habe ich meine Ruhe, hier kann ich tun und lassen, was ich will.» Marcel Tanner (Name geändert), Mitte 50, sitzt am Tisch seiner Einzimmerwohnung und schenkt sich Mineralwasser ein. Seit exakt einem Jahr und vier Monaten lebt er hier, mitten in der Stadt Basel, nahe dem Rhein, er hat einen eigenen Schlüssel, eigene Möbel, einen eigenen Mietvertrag. Was nicht selbstverständlich sei für einen wie ihn, sagt Tanner, der, als ihm vieles zu viel wurde, auf der Strasse landete: ohne Arbeit und ohne Geld, dafür mit dunklen Gedanken zuhauf. Tagsüber war Tanner an Orten, an denen er einkehren durfte, ohne konsumieren zu müssen, die Nächte verbrachte er erst in der Notschlafstelle, dann im Männerwohnhaus der Heilsarmee Basel. Dort hörte er von einem Projekt, das Wohnungen an Obdachlose vergibt, unkompliziert und quasi bedingungslos. Sein Betreuer aus dem Männerwohnhaus schlug ihn für das Projekt vor, bald darauf hielt Tanner den Wohnungsschlüssel in seiner Hand.
«Housing First» heisst das Projekt, und die Idee dahinter ist bestechend einfach: Wohnen ist ein Menschenrecht, das man sich nicht erst verdienen muss durch Leistung, Integration, Teilnahme an Sozialberatungen oder Therapiemassnahmen. Vielmehr sollen geordnete Wohnverhältnisse die Basis sein, um andere Schwierigkeiten anzugehen, die womöglich zur Obdachlosigkeit geführt haben: Schulden etwa, der Konkurs der eigenen Firma, der Tod des Partners, Krankheit oder Drogen. Die Idee stammt aus den USA, inzwischen haben sie auch europäische Länder übernommen (siehe Box). In Basel wurde Housing First 2020 lanciert, nachdem das Stimmvolk des Kantons Basel-Stadt 2018 die Initiative «Recht auf Wohnen» angenommen und die Sozialhilfe von Basel-Stadt eine Ausschreibung für Housing First gemacht hatte. Den Zuschlag erhielt die Heilsarmee, die dieses Pilotprojekt bis vorerst Ende 2023 umsetzt. Vermietet werden die Wohnungen von der Stadt und Privaten, die Mietkosten bezahlt die Sozialhilfe oder sie werden durch Ergänzungsleistungen gedeckt.

Wegen Depressionen in die Klinik
«Housing First ist einzigartig, weil niederschwellig», sagt Mauro Trombini, Mitarbeiter von Housing First bei der Heilsarmee. «Anders als bei herkömmlichen sozialen Wohnprojekten beruhen Betreuung und Beratung auf Freiwilligkeit; man kann sie in Anspruch nehmen oder ablehnen. Auch Abstinenz ist bei Housing First keine Bedingung.» Gleichwohl gibt es Auflagen. Am Projekt teilnehmen darf nur, wer mindestens 18 Jahre alt ist, seinen Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt hat, seit einigen Jahren obdachlos ist oder zumindest wohnungslos, wer durch andere bestehende Angebote wie betreutes Wohnen nicht erreicht wird sowie süchtig oder psychisch krank ist.
Alles Bedingungen, die auf Tanner zutreffen. Wobei Drogen, wie er sagt, nie ein Thema waren. Auch der Alkohol sei ihm bisher nicht zum Problem geworden. Wohl aber die Depressionen. Zweimal war Tanner bereits in einer Klinik, nachdem er sich über Tage und Wochen zurückgezogen und all seine Kontakte abgebrochen hatte. «Das ist mein Ding, das ist leider typisch für mich: Gibts Probleme, verkrieche ich mich.» Einmal sei die Polizei an seiner Wohnungstür gestanden, die Nachbarn hätten sich Sorgen gemacht, nachdem sie tagelang nichts von ihm gesehen und gehört hatten. «Die meinten wohl, ich sei tot.»

Marcel Tanner (Name geändert), 55, in seiner Einzimmerwohnung inmitten der Stadt Basel. Allzu oft im Leben hat er sich abgekapselt, wenn es ihm zu viel wurde.

Plötzlich war das Geld weg
Prekär gelebt hatte der gelernte Maurer schon Jahre davor. Die «Bude», für die er lange arbeitete, ging Konkurs, dann hatte er Jobs hier und dort. Bis Tanner und seine damalige Freundin mit dem Erbe des Vaters 2003 eine Firma gründeten, mit der sie allerlei Waren übers Internet verkauften. Doch sie rentierte nicht. «Plötzlich war das Geld weg, und bald darauf auch die Frau.» Also meldete sich Tanner auf dem Sozialamt an. Sein ohnehin schon kleiner Freundeskreis wurde noch enger, er zog sich, einmal mehr, zurück. 2016 hatte Tanner einen Herzinfarkt und musste nach dem Spital für einige Zeit in die Reha. Die Krankenkasse zahlte ihm rückwirkend das Krankentaggeld, was er dem So-zialamt hätte melden müssen, aber versäumte. «Das war keine Absicht, mir war einfach alles zu viel. Ich ging nicht mehr an die Termine, nahm weder das Telefon ab noch öffnete ich die Briefe des Sozialamts.» So wurden ihm die Sozialbeiträge gestrichen.
Als das Geld der Krankenkasse aufgebraucht war, stand Tanner, damals fast 50, vor dem Nichts. Die Notschlafstelle wurde sein neues Zuhause, Kontakt zu anderen Obdachlosen suchte er aber nicht. «Ich bleibe lieber für mich. Immer unter Leuten zu sein, ist nichts für mich.» Auch als er eine Zeitlang im Männerwohnhaus der Heilsarmee ein- und ausging, war dies das grösste Problem für ihn. «Man teilt das Zimmer mit jemandem, den man nicht kennt, man hat kaum Privatsphäre, kann sich nicht zurückziehen. Zum Glück ist das hier anders.» Hier, das ist die Einzimmerwohnung, in der Tanner jetzt im Rahmen von Housing First lebt: etwa 25 Quadratmeter, ein kleines WC, ein Raum mit Bett, Tisch, Schrank, Regal und Fernseher, an den Wänden ein paar Poster hinter Glas, eine offene Küche, die Fensterfront zeigt zum Innenhof. Ein Teil der Möbel stammt noch aus seiner früheren Wohnung, den Rest hat er sich mit dem Geld der Sozialhilfe, wo er inzwischen wieder angemeldet ist, hinzugekauft.
2018 waren in Basel rund hundert Menschen obdachlos. Weitere zweihundert hatten keine eigene Wohnung, sie waren in Notwohnungen der Sozialhilfe untergebracht oder schliefen bei Freunden oder Bekannten. Schweizweit sind 2200 Menschen obdach- oder wohnungslos, weitere 8000 «von Wohnungsverlust bedroht», wie die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW schätzt. Im Projekt Housing First der Heilsarmee sind derzeit 23 Personen im Alter von 24 bis 72 Jahren angemeldet, zwölf davon Frauen. Zwar waren elf Personen davor mindestens zehn Jahre obdachlos, doch lebten nur wenige unter ihnen permanent draussen.

Vertrauen ist wichtig
Solange diese «Rough Sleepers», wie sie genannt werden, nicht erreicht werden – in Basel sind es insgesamt etwa fünfzig –, dürfte der Anspruch der Heilsarmee, die Obdachlosigkeit mit Housing First zu beenden, wohl überrissen sein. Für Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern muss das Vertrauen der Betroffenen gewonnen werden: «Um Menschen in prekären Lebenssituationen zu erreichen, muss Housing First über niederschwellige Institutionen oder Anlaufstellen laufen, die bereits bekannt sind und die bestenfalls langjährige Beziehungsarbeit geleistet haben, wie die Aufsuchende Soziale Arbeit.» Gammenthaler nennt den «Schwarzen Peter», der seit langem in Basel Gassenarbeit leistet (siehe Box). Das sieht auch Trombini von der Heilsarmee so, zumal gerade für «Rough Sleepers» Autonomie sehr wichtig sei. Oft gebe es auch Missverständnisse, was Housing First bedeutet. Wer darin nur eine weitere Spielart des betreuten Wohnens sieht, würde das Angebot eher ablehnen, so Trombini. «Deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig.»
Für andere Obdachlose ist Housing First, jedenfalls in der bisherigen Form, überhaupt keine Option. Von ihnen ist in der Öffentlichkeit nur wenig die Rede, obwohl sie gemäss der erwähnten FHNW-Studie 61 Prozent aller Obdachlosen in der Schweiz ausmachen: die Sans-Papiers. Wer keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzt, kann von Gesetzes wegen auch keine Sozialhilfe beziehen und keinen eigenen Mietvertrag abschliessen, was für Housing First aber unerlässlich ist.

In seiner kleinen Wohnung fühlt sich ­Tanner wohl. Seine eigenen vier Wände bedeuten für ihn Stabilität, sie geben ihm Struktur und Sicherheit.

Wenig Wohnraum für soziale Projekte
Das Beispiel der Sans-Papiers zeigt, wie sehr Housing First von strukturellen Bedingungen abhängt. Dazu gehört der Wohnungsmarkt gerade in Grossstädten. Auch hierzulande fehlt es an preisgünstigem Wohnraum. Kommt hinzu, dass viele Städte und Kantone kaum noch über eigenen Wohnraum verfügen, den man gezielt für soziale Projekte wie Housing First nutzen könnte.
Für Trombini von der Heilsarmee wäre es ebenfalls wünschenswert, wenn für Housing First mehr günstiger Wohnraum geschaffen würde. Bisher gibt es Plätze nur dann, wenn irgendwo eine Wohnung frei wird. Entsprechend sind Projekte wie diese auch vom Engagement Privater abhängig. «Wir brauchen mehr Vermieter und Vermieterinnen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen», sagt René Thoma. Er ist Geschäftsleiter der Wohnbau-Genossenschaft Nordwest sowie Präsident der Wohngenossenschaft «Im Vogelsang» in Basel, die Wohnungen vermietet an Menschen, die am Housing First-Projekt teilnehmen. Neben Engagement brauche es auch Toleranz. Nicht immer gestalte sich das Mietverhältnis mit Menschen, die längere Zeit keine eigene Wohnung hatten, einfach, so Thoma. Er berichtet von einem Fall, bei dem er wegen Konflikten mit einer Betroffenen das Mietverhältnis auflösen wollte. Allerdings hätten sich schliesslich die anderen Mieter und Mieterinnen im Haus für den Verbleib dieser Frau eingesetzt.

Kaum Kontakt zu Nachbarn
Gerade bei einem «dezentralen Wohnprojekt» wie dem Basler Housing First kann dies eine besondere Herausforderung darstellen. Anders als etwa in Finnland sind in Basel die Wohnungen über die ganze Stadt verteilt, und nicht immer ist die Anwesenheit ehemaliger Obdachloser bei Nachbarn erwünscht. Auch dürfte im Fall von Konflikten die Wohnbegleitung im dezentralen Modell aufwändiger sein, als wenn sich das Housing-First-Projekt nur an einem Ort befindet. Für Trombini fällt die bisherige Bilanz aber positiv aus. «Wir wollen den Menschen eine möglichst normale Wohnsituation bieten, inmitten von anderen. Probleme mit Nachbarn gab es zwar immer wieder mal, nach drei Monaten aber gelingt in der Regel das Zusammenleben.»
Auch Tanner fühlt sich wohl in seiner Umgebung. Die Wohnung biete ihm Stabilität, grosse Sprünge werde er keine mehr machen. Einzig Ferien vermisst er. «Noch einmal nach Thailand zu gehen, das wärs.» Er hat das Land früher schon bereist, es ist ihm zu einem Sehnsuchtsort geworden. Ansonsten geniesst er die Ruhe in seinen eigenen vier Wänden. Einmal in diesen bald eineinhalb Jahren habe er seine Dartfreunde zum Znacht zu sich eingeladen, sie hätten ein paar Bier getrunken und Musik gehört. Daran gestört habe sich von den Nachbarn niemand. Er hat ohnehin kaum Kontakt mit ihnen. Tanner fällt nicht auf, und das ist ihm recht so.

Finnland als Vorbild für «Housing First»

1992 gründete der Psychologe Sam Tsemberis in den USA die Organisation «Pathway to Housing First» und legte damit den Grundstein für die Idee, dass Wohnen ein Menschenrecht ist, das von allen bedingungslos in Anspruch genommen werden darf. Inzwischen wird Housing First weltweit praktiziert. Als erstes europäisches Land hatte 2008 Finnland Housing First zum Leitprinzip im Umgang mit Obdachlosigkeit erklärt, und als bisher einziges konnte es die Zahl der Betroffenen kontinuierlich senken. Inzwischen haben sich auch andere europäische Länder dem Housing-

First-Ansatz verpflichtet, entsprechende Projekte werden etwa in Wien, Berlin oder Basel umgesetzt. Inwieweit das finnische Modell übernommen werden kann, wird kontrovers diskutiert. Ein massgeblicher Punkt dürfte die Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum sein. In Finnland wird über Auflagen und Anreize sichergestellt, dass bei privaten oder kommunalen Bauprojekten ein bestimmter Prozentsatz günstiger Wohnungen entsteht; zudem hat der Staat leerstehende Wohnungen für soziale Projekte aufgekauft.

«Viele kämpfen mit psychischen Problemen»

Michel Steiner unterstützt als Gassenarbeiter und Co-Geschäftsleiter bei der Anlaufstelle Schwarzer Peter in Basel Menschen am Rande der Gesellschaft.

Interview: Daniel Krucker

Wohnenextra: Gibt es in Basel viele obdachlose Menschen, die für die Behörden gar nicht existieren?
Michel Steiner: Nein, das sind nur sehr wenige. Um staatliche Leistungen in Anspruch nehmen zu können, braucht es eine Adresse, man muss postalisch erreichbar sein. Ohne einen solchen «Wohnsitz» existiert man nämlich gar nicht offiziell. Aktuell haben etwa dreihundert Menschen bei uns ein Postfach. Eine Leistung, die von Gesetzes wegen jede Gemeinde anbieten müsste.

Übernachten die Obdachlosen draussen in Parks oder Wäldern, oder leben sie mal hier und mal dort?
Viele hangeln sich von Unterkunft zu Unterkunft oder suchen Notunterkünfte auf, wenn sich nichts organisieren lässt. Gemeinsam ist allen, dass sie keine eigene Wohnung mehr haben. Viele kämpfen mit psychischen Problemen und Suchterkrankungen. Oder es will mit der Jobsuche nicht klappen. Nur wenige Personen gehören zu den sogenannten «Rough Sleepers», die das ganze Jahr über draussen sind.

Wie hat sich die Obdachlosigkeit in Basel in den letzten Jahren entwickelt?
Als ich vor 14 Jahren hier zu arbeiten begonnen habe, führten wir etwa dreissig Postfächer. Wir müssen also eine sehr negative Entwicklung feststellen. Mein Eindruck ist, dass es heute nicht mehr viel braucht, bis jemand den Boden unter den Füssen und die Wohnung verliert. Je älter man ist, wenn man in eine Krise schlittert, desto schwieriger wird es, wieder herauszufinden. Eine Mehrheit lebt nach rund einem Jahr aber wieder in einer stabilen Situation.

Wie reagieren ehemalige Obdachlose, wenn sie sich wieder in einer gesicherten Wohnsituation befinden?
Je nachdem, wie lange jemand draus-sen gelebt hat, kann das am Anfang auch Stress bedeuten. Nicht selten dringen Dinge an die Oberfläche, die über lange Zeit unterdrückt wurden. Vielfach äussert sich das in symptomatischen Erkrankungen. Aber grundsätzlich ist da schon das grosse Aufschnaufen, endlich wieder einen Raum für sich zu haben, was für uns Menschen einfach essenziell ist.