Ernst Vogel ist Schafhirte – und Realist

«Nicht nur romantisch»

Ein Leben im Rhythmus der Natur, der Umgang mit Tieren und das Werken an der frischen Luft machen für Bauer und Wanderhirte Ernst Vogel den Reiz seines Berufs aus. Tönt idyllisch, ist es aber nicht immer.

Von Helen Weiss | Bild: Renate Wernli | August 2018

Die Schafe sind reisefertig: Frisch gebadet, entwurmt und mit gekürzten Klauen präsentieren sie sich von ihrer besten Seite. Kerngesund, wie vom Tierarzt bestätigt, sind sie für den Alpaufzug bereit. In ein paar Tagen gehts los: 1100 Schafe wandern von der Weide im luzernischen Schwarzenberg hinauf auf die Unteralp oberhalb von Andermatt. Dort verbringen sie sozusagen ihre Sommerferien: An der frischen Luft weiden sie bis Ende September Alpkräuter, wandern dabei frei über die Wiesen und geniessen ein unbeschwertes Leben.
Noch vertreiben sie sich jedoch ihre Zeit auf der Weide vor Ernst Vogels Bauernhof in der Gengg im Luzerner Amt oberhalb von Malters. Hier, eingebettet zwischen den steilen Hängen des Pilatus und den sanften Hügeln des Entlebuchs, sagen sich Fuchs und Hase – und eben auch Schafe – noch gute Nacht. Die Wolle auf dem Rücken einiger Schafe ist mit einem blauen oder roten Streifen besprayt: So können die Landwirte ihre Tiere auseinanderhalten. «Ich besitze den Grossteil der Herde», erklärt Ernst Vogel, während er seinem Australian Shepard Bolto die Ohren krault. Er züchtet die australischen Hütehunde wie auch Border Collies – Rassen, denen das Hüten und Treiben von Schafen im Blut liegt.

Widerstandsfähige Rassen
Die schwarzweisse Border-Collie-Hündin Luna zeigt kurz darauf ihr Können: Geschickt treibt sie eine Gruppe Mutterschafe mit Lämmern in eine Ecke des Geheges. Ernst Vogel muss die Klauen eines der Tiere nochmals kontrollieren: Mit einem Beinfanghaken packt er zielgenau den Hinterlauf am Sprunggelenk und hindert das Schaf damit an der Flucht. Zwei, drei Handgriffe, und das sechzig Kilogramm schwere Tier liegt, halb sitzend, auf dem Rücken, eingeklemmt zwischen den Beinen Ernst Vogels. Das Mutterschaf hält ganz still, während der Schafhalter die Klauen vom Dreck säubert und sich vergewissert, dass mit den «Zehen» alles in Ordnung ist.
Ernst Vogel ist Bauer mit Herzblut: «Ich mag meine Arbeit, bin gerne draussen, und der Kontakt mit den Tieren ist mir wichtig.» Den Hof hat er von seinen Eltern übernommen. «Früher hatte ich Kühe, aber der Milchpreis ist so rasant gesunken, dass ich mich auf Schweine und Schafe verlegt habe», erzählt der gelernte Landwirt. 300 Schweine hat er zurzeit. Es sind die letzten, denn Ende Jahr wird Ernst Vogel die Schweinemast aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben und sich ganz auf Schafe konzentrieren. 800 Engadiner- und Schwarzbraune Bergschafe nennt er sein Eigen. Beide Schweizer Rassen sind widerstandsfähig, gesund und an die harten Anforderung der Berge bestens angepasst.

Zahlreiche Gefahren
Trotzdem sieht der Schafhalter der künftigen Alpsaison mit Sorge entgegen. Der Wolf, der sich auch im Gebiet von Andermatt umhertreibt, stellt eine Bedrohung für seine Herde dar. Ein Hirte betreut die Schafe auf der Alp zwar während des ganzen Sommers, doch um sich gegen einen Wolfsangriff besser zu wappnen, hat sich Markus Vogel vor vier Jahren auch drei Herdenschutzhunde angeschafft. Das hat in den vergangenen Jahren zu Problemen geführt, denn die Unteralp wird von Wanderern und Bikern gern besucht. «Tourismus und Herdenschutzhunde vertragen sich leider schlecht», meint er. Es gab Beschwerden von Alpbesuchern, die sich von den Hunden bedroht fühlten. Eine andere Lösung muss deshalb her. «Ich kann meine Schafe schliesslich nicht ohne Schutz dem Wolf überlassen», sagt der 51-Jährige.
Ernst Vogel selbst zieht nicht hoch auf die Alp, er bleibt mit seiner Frau und den beiden Töchtern während des Sommers im Tal. Trotzdem kennt er als Landwirt die Gefahren der Natur. Es ist nicht nur der Wolf, der den Schafen beim Übersömmern zusetzt: Trotz Behirtung und Alpkontrollen fallen jährlich zwei bis vier Prozent der Tiere Krankheiten, Steinschlag und Abstürzen zum Opfer. Das sind für den Schafhalter nicht nur wirtschaftliche Verluste – er hängt an seinen Tieren.

Viel Aufklärungsarbeit
Umso mehr trifft es ihn, wenn ihn Tierschützer oder Passantinnen beschimpfen oder ihm vorhalten, er behandle seine Tiere nicht fachgerecht. Etwa, wenn ein Schaf in seiner Herde lahmt. «Es gibt Leute, die wissen immer alles besser und denken, ein Schaf leide, wenn es hinkt», meint er. Dabei habe das Tier oft nur eine wunde Klaue, die innert vier bis fünf Tagen wieder verheilt sei. Vor allem im Winter, wenn Vogel mit 1200 Schafen als Wanderhirte in der Innerschweiz unterwegs ist, muss er deshalb viel Aufklärungsarbeit leisten. «Ich habe sehr schöne Begegnungen, merke aber auch oft, dass viele Menschen den Bezug zur Natur und zu den Tieren verloren haben.» Deshalb bietet er für Interessierte die Möglichkeit, einen Tag mit ihm unterwegs zu sein und Einblick in die täglichen Arbeiten eines Wanderschäfers zu erhalten.
«Dabei merken viele, dass die Arbeit als Schafhirte weitaus weniger romantisch ist, als sie vielleicht anmuten mag.» Auf der Wanderschaft zwischen Mitte November und Mitte März bleibt dem Hirten für ein Schäferstündchen nämlich nur selten Zeit: Bei Wind und jedem Wetter ist er den Winter über sieben Tage in der Woche mit seiner Herde in der freien Natur. Er versorgt und füttert die Schafe, zieht Jungtiere auf und pflegt kranke Tiere. Er schätzt den Umgang mit den Tieren – auf eine pragmatische Art. «Der Stellenwert der Tiere hat sich mit den Jahren enorm verändert», weiss Ernst Vogel. «Viele Leute finden, dass man keine Tiere töten darf.» Für ihn als Landwirt ist diese Einstellung schwer nachvollziehbar: «Leben und Sterben gehören in der Landwirtschaft selbstverständlich dazu.»

www.wanderschafe.ch