Übernachten im Baumhaus

Fast schon im Himmel

Vogelgezwitscher, Waldluft, Wind: Wer in einem der «Nester» von Les nids in Le Locle (NE) übernachtet, erliegt einem besonderen Zauber. 

Text und Fotos: Liza Papazoglou | August 2018

Grün – hellgrün, moosgrün, braungrün, weiss­­grün, tannengrün. Changierendes Grün in den Bäumen, sattes Dunkelgrün am Waldboden, durchsichtiges Grün in der Luft. Sonnenlichtflecke tanzen durch die Blätter von Ahorn und Eschen, auf den Fichtenstämmen und über den leicht schwingenden Holzsteg, der zum «Meisennest» hinaufführt – in eine eigene kleine Welt, deren Zauber uns von Anfang an umfängt. Nur wenige Meter vom Waldrand entfernt und über der Erde schwebend, ist der Alltag schon weit entrückt. Durchatmen – und tief einatmen: wunderbar, bei dieser Luft! Frisch, intensiv, voller Gerüche. Ein schöner Ort, um eine Nacht zu verbringen.
Das Meisennest ist eines von vier Baumhäusern, die auf den Hügeln über der Uhrenstadt Le Locle im Neuenburger Jura das ganze Jahr über Gäste empfangen. Das erste, das Eulennest, baute Jean-Paul Vuilleumier 2002, direkt nebem seinem Haus und seiner Schreinerwerkstatt am Waldrand, in einer grossen Eiche acht Meter über dem Boden. Damals unterstützte die Region wegen der Landesausstellung Expo.02 in Erwartung vieler Besucherinnen und Besucher die Schaffung neuer Unterkünfte; auf die Idee, dafür ein Baumhaus zu zimmern, brachte den Schreiner die Baumhütte seines Sohns. Für den Fachmann war die Konstruktion
einer bewohnbaren Version zwar Neuland und erforderte einige Recherchen, mit einem Team von Helfern war sie aber schliesslich problemlos umsetzbar. Mit dem ungewöhnlichen Übernachtungsangebot hatte er den richtigen Riecher: Das Interesse war so gross und die Besucher waren derart angetan, dass Jean-Paul Vuilleumier 2008 drei weitere Baumhäuser in der Nähe erstellte, dieses Mal – mit einer befristeten Sonderbewilligung – im Wald selber.

Einzigartig und begehrt
Kein Wunder, reisst die Nachfrage nicht ab und muss ein Aufenthalt je nach Jahreszeit Monate im Voraus gebucht werden: Das Erlebnis ist wirklich aussergewöhnlich. Bis vor kurzem war Les nids der einzige Ort in der Schweiz, an dem man mitten in den Bäumen und dennoch komfortabel übernachten konnte. In vielen Ländern auf fast allen Kontinenten haben Baumhotels – manchmal in der Öko-, häufiger in der Luxusversion – längst Fuss gefasst und ziehen eine eingefleischte Fangemeinde an; die hiesige Tourismusbranche entdeckt erst allmählich das grosse Potenzial solcher Unterkünfte, die Kindheitsträume wahr machen und Sehnsüchte nach einem Leben bedienen, das im Einklang mit der Natur steht.
Natur erleben wir auch an diesem Abend. Abgesehen vom Rasenmäher, der auf dem nahen Campingplatz auf einmal losröhrt und unsere Ohren und Nerven eine Stunde lang ziemlich strapaziert, ist lediglich Vogelgezwitscher zu hören. In Fülle, vielstimmig, melodiös und bis es eindunkelt. Und eben: dieses Licht, dieses Grün. Egal, aus welchem der fast rundherum laufenden Fenster man aus dem achteckigen Meisennest hinausblickt: Was man sieht, sind Bäume und Blätter, die sich sachte im Wind wiegen, Sonnentupfer, die immer wieder neue Muster auf die Umgebung und ins Hausinnere zeichnen, und ab und zu einen Vogel. Unspektakulär und gleichwohl derart einnehmend, dass wir auf den Spaziergang verzichten, den wir eigentlich machen wollten; gleich hinter unserem Nest beginnt ein Naturlehrpfad durch den Joux Pélichet, einen ganz besonderen Plenter- oder Misch­wald, der auf einer gerodeten Fläche Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeforstet wurde und im Wechselspiel menschlicher Eingriffe und natürlicher Entwicklungen entstand.

Gemütlich: Schwedenofen und viel Holz.

Hort des Meisennests ist eine Esche.

Natur, aber nicht nur
Keine botanische Horizonterweiterung also heute. Stattdessen machen wir es uns in unserem gemütlichen Zweipersonenhäuschen auf dem grossen Bett bequem, öffnen die Fenster, lauschen und lassen die Augen spazieren. Auch später beim Lesen landet der Blick bei jedem Aufschauen in den Bäumen. Daran könnte man sich glatt gewöhnen.
Der einzige Wermutstropfen unseres von Stahlseilen und Pfosten gestützten Refugiums: Die Esche, um die es gebaut wurde, schaut nicht eben gesund aus. Ihr Stamm in der Mitte des Raums weist einen grossen Spalt auf, und ein Augenschein von draussen zeigt, dass die Baumkrone fehlt. Die Gastgeberrolle scheint der Esche also nicht gut zu bekommen. Für uns Besucher hingegen ist für alles gesorgt, und es ist zugegebenermas­sen angenehm, trotz viel Natur rundherum auf keine Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens verzichten zu müssen. Das Meisennest ist einfach ausgestattet, verfügt aber über alles, was es braucht: eine gut bestückte Küchenzeile, ein winziges Badezimmer und einen modernen Schweden­ofen. Zudem teilt es mit dem Nachbarhaus auf einer Art Zwischendeck des Holzstegs einen kleinen überdachten Sitzplatz, wie geschaffen für ein idyllisches Abendessen oder ein Frühstück, zu dem die Vermieter allmorgendlich frische Brötchen und Croissants liefern.

Mikroklima und Ofenknistern
Über den Schwedenofen sind wir später an diesem Abend noch froh; es ist zwar Juni, aber hier, fünf Meter über dem Boden und umgeben von Bäumen, ganz schön kühl in der Nacht. Dieser frischen, würzigen Luft in Wäldern übrigens attestiert der Baumguru Peter Wohlleben in seinem Bestseller «Das geheime Leben der Bäume» ein spezielles Mikroklima und einen positiven Einfluss auf unser Immunsystem. Wie dem auch sei – jedenfalls scheint man hier förmlich zu spüren, wie jeder Atemzug Energie gibt und gleichzeitig tiefenberuhigt.
Als wir uns nach einem einfachen Essen schliesslich hinlegen, ist die Stille absolut, nur ab und zu knistert der Ofen. Dreht der Wind etwas auf, bewegt sich das Baumhaus ganz sacht – aber vielleicht bilden wir uns auch nur ein, sanft in den Schlaf gewiegt zu werden. In unserem Meisennest jedenfalls fühlen wir uns geborgen und sicher. Das Letzte, was wir sehen, bevor uns die Augen zufallen, sind die Silhouetten der Bäume, die sich schwach gegen den nachtdunklen Himmel abzeichnen. Und das Erste, was wir sehen, als uns die Vögel am Morgen wecken, ist dieses unglaubliche Grün. Hier waren wir nicht zum letzten Mal.


www.lesnids.ch

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