Wohnträume von Genossenschaften

Wenn Träume Räume schaffen

In Biel, Zürich und Hasliberg zeigen Genossenschaften, welche Kraft im kollektiven Träumen steckt. In drei sehr unterschiedlichen Projekten engagieren sie sich für das Wohnen der Zukunft und ­entwerfen dabei mutig neue Formen des Zusammenlebens.

Text: Patrizia Legnini | Bilder: Stefan Hofmann | Dezember 2025

Träume, sagte einst der Schriftsteller Max Frisch, sind die entscheidende andere Hälfte unserer Existenz. Ein Leben bestehe nicht nur aus den Taten und Untaten einer Person, auch Träume gehörten ganz real dazu. Das gilt nicht nur für Nachtträume, sondern auch für visionäre Zukunftsträume. Auch viele Genossenschaftsprojekte sind aus Träumen entstanden. Was wünschen sich Genossenschaften heute? Was bringt das kollektive Träumen? Wie kommt man ins Machen? Und was passiert, wenn Träume zu platzen drohen wie Seifenblasen?
Mitten im Herzen von Biel (BE), direkt hinter dem Zentralplatz, hängen Wohnträume in Form von Post-its, Zetteln, Skizzen und Fotos an den abgenutzten Wänden eines ehemaligen Bastelladens. «Ich will ein Haus, das atmet» hat jemand auf ein Blatt Papier geschrieben, andere träumen von einem «Grand Hotel» oder einer Brücke zum Nebengebäude. Zwei Leute wünschen sich Schlafkabinen, die in einer grossen Halle Platz finden. Von «Visionen für ein anderes Miteinander» ist die Rede, von «viel Gemeinschaft», von einem «Leben, das mehr ist als Wohnen».

Auf wertvollen Boden vordrängen
Etwa dreissig Personen haben im Herbst über eine Online-Planungsplattform und an den Wänden vor Ort ihre Wünsche für das zweite Wohnprojekt formuliert, das die Genossenschaft FAB-A hier realisiert. Sie haben sich überlegt, welche Wohnmodelle und Wohnungsgrössen sie gerne hätten, welche Räume geteilt werden sollen oder welche Nutzungen es im Erdgeschoss braucht. «Einige haben vor Ort ein Bett an die Wand gemalt oder mit Klebestreifen ein Zimmer abgesteckt», sagt Anne Uphoff von der Baukommission. Einige Beiträge sind fantastisch und radikal ausgefallen, andere konventioneller. 150 Seiten Wohnträume sind in nur zwei Wochen zusammengekommen.
«Für uns geht hier ein Traum in Erfüllung», sagt Roman Tschachtli, Mitglied des Vorstands und der Baukommission. Die Lage der zwei Liegenschaften hinter der Stadtverwaltung, direkt bei Banken, Kino und ­Läden, vergleicht er mit dem Paradeplatz in Zürich. «Es ist eine riesige Chance, mit der Genossenschaft auf so wertvollen Boden vorzudringen.» Möglich ist das nur, weil die Emil Spiess AG, die Besitzerin des Areals, der Genossenschaft die Grundstücke im Baurecht überlässt. Bis Ende 2028 wird die FAB-A in einem Neu- und einem Umbau Wohnraum für etwa vierzig Personen und Gemeinschaftsflächen schaffen. Auch Präsidentin Giovanna Massa Bösch hofft, dereinst hier zu wohnen. «In einem Traum bin ich kurz vor der Schlüsselübergabe durch den Bastelladen spaziert», sagt sie und lacht. «Ich wusste genau, wo die Farben sind, das Holz und das elektrische Material.» Wie viele andere Leute ist sie an diesem Oktoberabend ans Obere Quai gekommen, um über die neusten Entwicklungen beim Projekt «Emilja» zu diskutieren.

In der ersten Projektierungsphase entwerfen die Beteiligten das Projekt gemeinsam: Die Bauträgerin setzt nicht auf einen klassischen Architekturwettbewerb, sondern auf einen offenen Planungsprozess.

Münchner Projekt als Vorbild
«Wir möchten ein Wohnprojekt für alle Generationen, das den Fokus auf das gemeinschaftliche Zusammenleben legt», sagt Up-hoff. Dass es autofrei werden und ökologische und soziale Nachhaltigkeit verbinden soll, sei ebenfalls schon klar. Eine Illustration zeigt das Gebäude als offenes Haus mit Treppen und Passerellen, die die Stockwerke verbinden – in der Mitte ein grosses Herz. «Viel anderes muss aber noch definiert werden.» Ganz neu für die Branche ist, dass die Bauträgerin nicht auf einen Architekturwettbewerb setzt, sondern auf ein partizipatives und kollaboratives Verfahren. «Wir streben eine Demokratisierung des Planungsprozesses an», so Uphoff.
Das bedeutet, dass Genossenschafter:in­nen, Fachleute und künftige Bewohnende das Projekt in der ersten Projektierungsphase gemeinsam entwerfen – ganz nach dem Vorbild von «Metso metso» in München. Dort wurde die freie Planungsmethode OP-OD («Open Plan Open Decision») erstmals für den Entwurf eines Gebäudes angewendet. «Wir wollen unserem Anspruch an Partizi­pation unbedingt gerecht werden», sagt Uphoff. Die Online-Plattform ermögliche eine unkomplizierte Mitwirkung, eine flexible Steuerung und transparente Dokumentation. Die Baukommission habe den Bilderrahmen fürs Projekt gesteckt, erklärt Tschachtli. Nun werde ein halbes Jahr lang gemeinsam am Bild gemalt. «Ein solcher Planungsprozess ist in der Schweiz einmalig.»

Das Destillat der Träume
Am Abend werden im Gebäude die Ergebnisse der ersten «Callrunde» vorgestellt. Ein Entwicklungsteam hat die Träume und ­Ideen studiert, das Planungsteam eine Synthese erarbeitet. Ihm gehören mehrere Architekt:innen an, die selbst auch Genossen­schafter:innen sind. Die Baukommission wiederum steuert und prüft das Projekt und verantwortet die Kommunikation. «Aus mehreren Themenrunden wird schliesslich ein Vorprojekt resultieren, das Destillat der Träume sozusagen», sagt Tschachtli. «Grundlage aller Entscheidungen bildet stets unsere gemeinsame Vision von Emilja», sagt Uphoff.
Schon klar ist nach der ersten Runde, dass vor allem Cluster, WGs und Kleinwohnungen entstehen werden. «In Ergänzung zum bestehenden Wohnangebot bei der FAB-A sollen aber auch neue Familienwohnformen möglich sein», sagt Tschachtli. Er wohnt mit seiner Familie im Fabrikgässli, der ersten Wohnsiedlung der Genossenschaft, die 2014 als erste autofreie Siedlung Biels gebaut wurde. Trotz skeptischer Behörden und Einsprachen hatte die FAB-A ihren Traum eines energieeffizienten 2000-Watt-Projekts konsequent weiterverfolgt und umgesetzt. Für das zweite Projekt haben die Genossenschaftspionie-r:innen das Zepter an die jüngere Generation weitergegeben. Und die träumt nun ihren ganz eigenen Traum von Emilja.

Zürcher Quartier im Umbruch: Wo heute noch Familiengärten und viel Grün das Bild prägen, entsteht in den nächsten Jahren eine Grosssiedlung mit 800 gemeinnützigen Wohnungen.

Ziel: Lebensqualität erhalten
Auch in Zürich-Seebach wird derweil gross geträumt. An der stark befahrenen Thurgauerstrasse entsteht in den nächsten Jahren eine Grosssiedlung mit 800 gemeinnützigen Wohnungen und anderen Nutzungen. Christian Häberli spaziert an einem Oktobermorgen die Grubenackerstrasse hinunter, die quer durch sein Wohnquartier führt. Während zum Bahnhof Oerlikon hin mehrere Hochhäuser in die Höhe ragen und sich ein Bürogebäude ans andere reiht, prägen im Grubenackerquartier noch viele Familiengärten und ältere Einfamilienhäuser das Bild. Vor einer alten Rosskastanie bleibt Häberli stehen. «Weil wir uns für den Baum eingesetzt haben, wird er nicht gefällt», sagt er. Auch das ehemalige Schützenhaus daneben werde nun renoviert statt abgerissen. Seit ein paar Jahren nutzen die Bewohnenden es als Quartiertreff.
Häberli ist seit vielen Jahren im Quartier zu Hause, das sich auf einem schmalen Landstreifen zwischen Bahngleisen und Thurgauerstrasse befindet. 2018 hat er die Wohnbaugenossenschaft Grubenacker mitgegründet. «Wir wollen die Zukunft des Quartiers aktiv mitgestalten und solidarisch weiterentwickeln», sagt er. «Das ist unser Traum. Er schafft ein starkes Wir-Gefühl, das nach innen trägt, aber auch nach aussen wirkt.» Dass sich das Quartier durch die Neubauten stark verändern wird, treibt die Bewohnenden hier schon länger um. Man sei nicht gegen das verdichtete Bauen an sich, sagt ­Häberli. «Aber wir möchten die Lebensqualität bewahren, die auch den künftigen Be-wohnerinnen und Bewohnern der neuen Siedlungen zugutekommt», sagt Genossenschafter und Nachbar Reto Brüesch.

Engagiert gegen Investoren
Die Zusammensetzung im Quartier ist heterogen: Häberli ist Eigentümer, Brüesch Mieter. Beide sind Gemeinderäte, Häberli politisiert bei der Alternativen Liste, Brüesch bei der SVP. Doch wenn es ums Wohnen geht und um ihr Quartier, dann könnten ihre Ansichten nicht ähnlicher sein. Schliesslich ist Brüesch als ehemaliger Geschäftsführer einer grossen Genossenschaft, als Stiftungsrat und Vorstandmitglied eng mit der Branche verbunden. Und so setzen sich beide Männer mit Nachdruck dafür ein, dass Investoren im Quartier nicht noch mehr Einfamilienhäuser aufkaufen – notabene zu stark überhöhten Preisen – und an ihrer Stelle kleine Mehrfamilienhäuser mit Tiefgaragen bauen. «Wenn jeder für sich selbst verdichtet, ist das keine sinnvolle Quartierentwicklung», sagt Häberli. Darum wolle man Nachbar:innen davon überzeugen, ihre Liegenschaften bei Handänderungen der Genossenschaft zu übertragen. «Wenn sich Hausbesitzende zusammenschliessen, können grössere Projekte mit besserer Ausnutzung und faireren Preisen entstehen.»
Zweimal hat die Genossenschaft bei Verkäufen mitgeboten, beide Male scheiterte sie am Preis. «Wir sind aber überzeugt, dass es bald klappt. Schliesslich haben wir viele Erfahrungen gesammelt und sind schneller handlungsfähig als früher», so Brüesch. Ein grosser Erfolg für die Genossenschaft ist, dass sie sich an der Überbauung Nordnordost im Quartier beteiligen kann, zusammen mit der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) und der Genossenschaft «Mehr als wohnen». Wenn der Architekturwettbewerb entschieden sei, werde vieles klarer sein, etwa bezüglich der finanziellen Beteiligung.
Bereits bekannt ist, dass die ABZ auf dem Areal eines jener Hochhäuser baut, gegen die sich die Quartierbewohnenden eigentlich gewehrt haben. Schon vor Jahren hatte man mit der IG Grubenacker ein Konzept erarbeitet, das Leitlinien für die Entwicklung des Quartiers schaffte und anstelle von Hochhäusern tiefere Bauten vorsah. Doch es wurde bei der Planung nicht berücksichtigt. «Wir haben Mühe mit Hochhäusern. Aber vielleicht wird am Ende ja doch alles gut», sagt Brüesch. Die Männer lachen. Dass die Stadt beim Gestaltungsplan das Quartier nicht mit einbezog und wenig Interesse an Kooperation zeigte, ärgert sie bis heute. Umso grösser ist nun aber die Freude darüber, an Nordnordost beteiligt zu sein. «Das ist ein Lichtblick. Es zeigt, dass sich das Träumen lohnt. Wahrscheinlich sind die Träume unsere Energiequelle, um nie aufzugeben.»

Die Genossenschafter und Nachbarn Reto Brüesch (links) und Christian Häberli wollen die Zukunft des Quartiers aktiv mitgestalten und weiterentwickeln.

Entwurzelung am Lebensende
Auch Katharina Nägeli und Alex Willener haben nicht vor, ihren Traum vom Wohnen in Hasliberg (BE) an den Nagel zu hängen. Seit zehn Jahren kämpfen sie dafür, mitten im Dorf zwei genossenschaftliche Mehrgenerationenhäuser mit bis zu 24 Wohnungen, Gemeinschaftsflächen, Café und Dorfladen zu bauen. «Es gibt hier kaum hindernisfreie Wohnungen, und die Besiedelung an den Hängen erschwert die Mobilität der älteren Menschen», sagt Willener. Die meisten von ihnen hätten den Wunsch, auch bei körperlichen Einschränkungen ihre sozialen Bindungen auf dem Hasliberg zu bewahren. «Aber weil im Dorf kein Altersheim gebaut werden kann, müssen sie am Lebensende in auswärtige Altersheime ziehen. Das ist sehr unschön», sagt Nägeli.
An ein neues Generationenhaus habe man 2015 erstmals gedacht. «Um Ideen für die Zukunft zu sammeln, lud die Gemeinde die Bevölkerung zu Workshops ein», sagt Willener. Er arbeitete damals als Dozent und Forscher an der Hochschule Luzern und war mit der Leitung des Zukunftsprozesses betraut. «Weil ich selbst eine Ferienwohnung in Hasliberg habe, reizte es mich doppelt, beim Generationenprojekt anzupacken.» Vier Jahre lang leistete eine Arbeitsgruppe wichtige Vorarbeiten. Ein Architekturbüro erstellte eine Machbarkeitsstudie und erarbeitete ein Vorprojekt. 2019 wurde als Trägerschaft die Wohnbaugenossenschaft Hasliberg gegründet, deren Präsidentin Katharina Nägeli seither ist. Die Gemeinde zeigte sich bereit, das Grundstück der Genossenschaft im Baurecht abzutreten, und bald wurde das Projekt vom Bund als Modellvorhaben anerkannt und vom Bundesamt für Wohnungswesen unterstützt – ein grosser Erfolg. Zum Fliegen gekommen ist es trotzdem noch nicht – wegen raumplanerischer Probleme mit dem Kanton. «Das Grundstück befindet sich in der Hotelzone und muss umgezont werden», sagt Willener. 2023 stimmte die Gemeindeversammlung der Umzonung zu. «Dann aber forderte der Kanton von der Gemeinde, anderswo doppelt so viel Land auszuzonen, was fast unmöglich ist.» Zum Glück sei ein Hotelprojekt, das über eine Bauzone verfüge und eine Hotelzone benötige, bereit, die Zone zu tauschen. «Aber nun bremst eine Einsprache gegen das Hotel auch unser Projekt aus.»
Wie lange es sich noch verzögert und ob es aus finanziellen Gründen – nicht zuletzt aufgrund der Bauteuerung – verkleinert werden muss, ist unklar. 300 000 Franken hat die Genossenschaft bereits ausgegeben, alle Beteiligten haben unzählige ehrenamtliche Arbeitsstunden investiert. «Dass die Bagger noch nicht auffahren konnten und wir stets vertröstet werden, ist schwierig für uns», sagt Nägeli. «Wir sind blockiert, können nicht weiterplanen.» Im Dorf seien längt nicht mehr alle davon überzeugt, dass das Projekt noch zustande kommt. «Aber wir geben noch nicht auf. Wir geben weiterhin alles.»

Vom Traum zur Wirklichkeit

Das Mehrgenerationenhaus Giesserei ist die grösste selbstverwaltete Genossenschaftssiedlung der Schweiz. Der Holzbau wurde 2013 auf dem ehemaligen Sulzerareal in Oberwinterthur fertig gebaut und ist heute das Zuhause von 340 Erwachsenen und Kindern. Das Projekt der Genossenschaft Gesewo zeigt, was möglich ist, wenn viele gemeinsam träumen und an ihren ­Zielen festhalten. «Vom Traum zur Wirklichkeit», heisst denn auch das Buch, das Bewohner Kurt Lampart dieses Jahr über die Giesserei herausgegeben hat. «Es fasziniert mich, dass am Anfang des Projekts der Traum einer Einzelperson stand, die über ein Zeitungsinserat nach Gleichgesinnten suchte», sagt er. Dank Initiator Hans Suter und vielen anderen Leuten, die sich ehrenamtlich dafür engagierten, habe dieses soziale Wohnprojekt Realität werden können, so Lampart. Sie alle hätten sich auch von Rückschlägen und Konflikten nie entmutigen lassen. Im Buch lässt Lampart Fachleute und Bewohner:innen über ihre Visionen und Erfahrungen reden. Illustriert hat er es mit stimmungsvollen Fotos, mit denen er das Projekt von Anfang an dokumentierte. Das Buch mit 240 Seiten und vielen Abbildungen kann in jeder Buchhandlung gekauft werden.

Weitere Informationen: www.edition8.ch