Berlin debattiert erneut über brisanten wohnpolitischen Vorstoss

Baugenossenschaften enteignen?

Eine deutliche Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner hat sich in einer Volksabstimmung dafür ausgesprochen, private Wohnungs­unternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen zu enteignen. Noch ist unklar, wie genau das geschehen soll – doch die grossen Wohnbau­genossenschaften in der deutschen Hauptstadt befürchten schon jetzt, dass auch sie betroffen sein könnten.

Von Christian Hunziker | Bilder: Shutterstock, zVg | 2022/04

Berlin ist immer wieder ein Zentrum woh­nungs­politischer Diskussionen, die in ganz Deutschland und darüber hinaus für grosses Aufsehen sorgen. Das war beim Mietendeckel so, der für einen Grossteil des Wohnungsbestands verbind­liche Höchstmieten festlegte, aber im Frühling 2021 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde. Und das ist auch bei der sogenannten Enteignungsinitiative der Fall, um deren Umsetzung zurzeit leidenschaftlich gerungen wird. Ihr Ziel ist noch weit radikaler: Sie will alle privaten Wohnungsunternehmen, die in Berlin mehr als 3000 Wohnungen besitzen, enteignen und ihre Wohnungen in öffentliches Eigentum überführen.
Aus genossenschaftlicher Sicht brisant ist dabei die Frage, ob eine solche Enteignung oder Vergesellschaftung auch die Wohnbaugenossenschaften betreffen würde. Nein, versichern die Verfechterinnen und Verfechter der Enteignungsidee und verweisen darauf, dass nicht renditeorientierte Unternehmen explizit ausgenommen seien. Ja, sagen hingegen mehrere Rechtsgutachten. Auch Dirk Enzesberger, Vorstand der Charlottenburger Baugenossenschaft eG – die mit knapp 7000 Wohnungen zu den potenziellen Enteignungszielen zählt – ist überzeugt: «Wenn ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden sollte, würde es auch Wohnbaugenossenschaften betreffen. Denn keine Unternehmensform könnte von einer Vergesellschaftung wirksam ausgenommen werden.»

Auch Plattenbauten aus der DDR-Zeit – hier ein Beispiel der Wohnungsgenossenschaft Lichtenberg im Bezirk Lichtenberg – ­gehören zu den ­grossen Genossenschaftsbeständen.

Noch kein Gesetz beschlossen
Zur Vorgeschichte: Am 26. September 2021 stimmten 57,6 Prozent der Stimmenden in einem sogenannten Volksentscheid für das Volksbegehren «Deutsche Wohnen & Co enteignen». Die Deutsche Wohnen, mit rund 150 000 Wohnungen eines der grössten europäischen Wohnungsunternehmen, gilt wegen ihrer Geschäftspraktiken als besonders umstritten. Formal fordert der Volksentscheid den Berliner Senat (also die Landesregierung) auf, «alle Massnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 Grundgesetz erforderlich sind». Diese Vergesellschaftung, so die Argumentation der Initianten, sei nötig, um den von hohen Mietsteigerungen geprägten Berliner Wohnungsmarkt zu entspannen und dafür zu sorgen, dass genügend Wohnraum für einkommensschwache Haushalte zur Verfügung stehe.
Mit der Annahme des Volksbegehrens ist das Vorhaben allerdings noch längst nicht umgesetzt. Denn anders als in der Schweiz, wo eine Volksinitiative in der Regel einen konkreten Verfassungstext zur Abstimmung stellt, formuliert das Berliner Volksbegehren lediglich das Ziel; für die Umsetzung braucht es ein Gesetz, das das Berliner Abgeordnetenhaus (das Parlament) beschliessen muss. Dabei sind sich die drei Parteien, welche die linke Berliner Landesregierung bilden, im Umgang mit dem Volksbegehren nicht einig: Während Die Linke und auch das Bündnis 90 / Die Grünen hinter dem Vorschlag stehen, wandte sich die heutige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) im Vorfeld der Abstimmung strikt gegen die Enteignung. Die Koalitionspartner retteten sich in einen Kompromiss, indem sie sich darauf einigten, zunächst einmal eine Kommission mit Expertinnen und Experten einzusetzen. Diese untersucht nun, ob und wenn ja wie sich das Volksbegehren rechtssicher umsetzen lässt.

Juristisch höchst umstritten
Tatsächlich ist es umstritten, ob die Forderung rechtlich überhaupt zulässig ist. Mehrere juristische Gutachten kommen dabei zu einander widersprechenden Ergebnissen. Das liegt daran, dass Artikel 15 des deutschen Grundgesetzes, auf den sich die Initiative bezieht, in den 73 Jahren seit Verabschiedung des Grundgesetzes noch kein einziges Mal angewandt worden ist. Er lautet: «Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmass der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum (...) überführt werden.»
Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Berliner Abgeordnetenhauses kommt zum Schluss, die Vergesellschaftung von Wohnungen sei möglich. Auch die von Kritikern als willkürlich empfundene Grenze von 3000 Wohn­einheiten sei rechtlich vertretbar. Zum entgegengesetzten Urteil gelangt ein Gutachten, das der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) in Auftrag gegeben hat; er vertritt sowohl Wohnbaugenossenschaften als auch landeseigene und private Wohnungsunternehmen. Das Vorhaben sei verfassungswidrig, weil es einen unzulässigen Eingriff in die Eigentumsfreiheit darstelle und den Grundsatz der Gleichbehandlung verletze.
Auch politisch sei das Vorhaben falsch, findet BBU-Vorstandsmitglied Maren Kern. Zwar sei das Ziel, die Wohnraumversorgung für einkommensschwache Haushalte zu verbessern, richtig und wichtig. «Statt mit einer nach unserer Überzeugung nicht zulässigen und finanziell nicht stemmbaren Enteignung wäre es hierzu aber viel sinnvoller, alles für eine Trendwende hin zu mehr Neubau in Berlin zu unter­nehmen», sagt Kern. Ihre Aussage bezieht sich darauf, dass der Berliner Senat die Entschädigungssumme, die für die Vergesellschaftung erforderlich ist, auf bis zu 36 Milliarden Euro beziffert. Die Vertreter des Volksbegehrens rechnen hingegen mit einer deutlich niedrigeren Entschädigungssumme.

Dieser Neubau der Genossenschaft Beamten-Wohnungs-Verein (BWV) zu Köpenick eG könnte möglicherweise enteignet werden. Die BWV gehört zu den 29 Berliner Baugenossenschaften mit mehr als 3000 Wohnungen.

Die Position der Genossenschaften
Das Volksbegehren biete «eine vermeintlich einfache Lösung» für die Wohnungsprobleme an, sagt Dirk Enzesberger von der Charlotten­bur­ger Baugenossenschaft. Dabei mache es aber Versprechungen, die nicht eingehalten wer­den könnten. Enzesberger fehlt nach eigenen Worten der Glaube, dass der Volksentscheid um­gesetzt wird. «Sollte das Abgeordnetenhaus tatsächlich ein solches Gesetz beschliessen, würde es mit Sicherheit vom Bun­des­ver­fas­sungs­gericht für verfassungs­widrig erklärt», ist er überzeugt. Auch Ulf Heitmann sieht das Volksbegehren trotz Sympathie für die damit verfolgten Ziele kritisch; er ist Vorstandsmitglied der im Jahr 2000 gegründeten Genossenschaft Bremer Höhe eG, deren Wohnungsbestand unterhalb der kritischen 3000er-Grenze liegt. Er teile die Hoffnung nicht, dass die Enteignung zu einer Entspannung des Mietmarkts führe, erklärt Heitmann im Mitgliedermagazin seiner Genossenschaft. Zudem fehlten klare Kriterien, welche Unternehmen enteignet werden sollten.
Dieser Einschätzung widersprechen die Vertreter des Volksbegehrens: Wohnbaugenossenschaften und andere gemeinwohlorientierte Unternehmen seien «rechtssicher ausgenommen», versichert Agnes Schober, eine der Sprecherinnen der Initiative. Genau das sei nicht der Fall, schreibt hingegen die Anwaltskanzlei Greenberg Traurig in einem vom BBU in Auftrag gegebenen Gutachten und begründet dies mit der Formulierung im Beschlusstext der Initiative. Demnach sind nur Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht von der Vergesellschaftung betroffen, nicht aber «Unternehmen in öffentlichem Eigentum oder in kollektivem Besitz der Mieter*innenschaft oder gemeinwirtschaftlich verwaltete Unternehmen».
Diese Kriterien träfen auf Baugenossenschaften nicht zu, sagen die Autoren des BBU-Gutachtens. Genossenschaften seien nicht ausschliesslich im kollektiven Besitz der Mieter, da es auch Mitglieder gebe, die gar nicht bei dieser Genossenschaft wohnten, argumentieren die Juristen. Ausserdem hätten Genossenschaften notwendigerweise eine Gewinner­zielungsabsicht. Diese aus Schweizer Sicht erstaunliche Aussage erklären die Gutachter damit, dass die Genossenschaften ansonsten ausserstande wären, die Bausubstanz zu erhalten und in Neubau zu investieren. In der Tat ist es laut dem deutschem Genossenschaftsgesetz den Wohngenossenschaften nicht untersagt, Gewinne zu machen und an ihre Mitglieder auszuschütten.

140 000 Genossenschaftswohnungen betroffen
Sollte die Interpretation des Gutachtens zutreffen, so hätte das weitreichende Folgen: Nach Angaben des BBU haben nicht weniger als 29 Berliner Baugenossenschaften jeweils mehr als 3000 Wohnungen im Bestand; insgesamt könnten somit 140 000 Genossenschaftswohnungen vor der Vergesellschaftung stehen. Wie diese genau erfolgen würde, ist laut Dirk Enzesberger noch offen. «Vergesellschaftet würden die Immobilien unserer Genossenschaft, nicht die Genossenschaft selbst», erläutert er. Die Genossenschaft müsste also entscheiden, was sie mit der Entschädigungssumme machen würde. «Sie könnte diese für den Aufbau eines neuen Wohnungsbestands verwenden oder an die Mitglieder ausschütten», sagt Enzesberger. Auch die Auflösung der Genossenschaft wäre denkbar.
Wie es mit der Vergesellschaftung weitergeht, wird sich im Frühling 2023 zeigen: Bis dahin hat die vom Senat eingesetzte Expertenkommission Zeit, ihren Bericht vorzulegen. Doch schon jetzt strahlt die Debatte auf andere Städte aus: In Hamburg hat eine Initiative mit dem Namen «Hamburg enteignet – Wohnungen für alle statt Profite für wenige» angekündigt, ein ähnliches Volksbegehren wie in Berlin zu lancieren.