Immobilienexperte Donato Scognamiglio über den brummenden, aber nicht optimal funktionierenden Wohnungsmarkt

«Die heisse Kartoffel wird weitergereicht»

Die Schwemme des billigen Geldes hält das «Betongold» attraktiv: Trotz hoher Leerstandsquoten werden weiterhin viele Wohnungen an fragwürdigen Lagen gebaut. Ein Gespräch mit Donato Scognamiglio, Partner beim Immobiliendienstleister IAZI, über die Hintergründe und mögliche Perspektiven für Baugenossenschaften.

Interview: Michael Staub | Februar 2020 | Bilder: Wikimedia Commons, zVg

Wohnen: Sie untersuchen den Schweizer Wohnungsmarkt seit Langem und erheben sehr viele Daten dazu. Was zeichnet ihn aus?

Donato Scognamiglio: Der Wohnungsmarkt ist aus ökonomischer Sicht sicherlich ein spezieller Fall. Die gehandelten Objekte sind nicht standardisiert, sondern extrem heterogen. Jede Wohnung ist ein Einzelstück und nicht direkt mit anderen Wohnungen vergleichbar. Im Immobilienmarkt gibt es zudem wenig Bewegung. Nur etwa ein bis zwei Prozent des Gesamtbestandes werden pro Jahr verkauft. Ausserdem ist der Markt teilweise intrans­parent. Aber sein Wert ist gigantisch. Man schätzt, dass in den Schweizer Immobilien etwa 2000 bis 3000 Milliarden Franken investiert sind.

Wie gut funktioniert dieser Markt aus der Aussensicht?

Nicht optimal. Das heisst, in den Zentren, wo viele gerne wohnen möchten, herrscht Knappheit und dort, wo wir weniger Wohnungen bräuchten, ein Überangebot. Eine Wohnung ist zudem nicht ein beliebiges «Nice to have»-Konsumgut, wir alle müssen wohnen. Und wir haben bestimmte Ansprüche, möchten zum Beispiel so nahe wie möglich bei der Arbeitsstelle wohnen. Doch das ist sehr selten möglich. Etwas zugespitzt gesagt: Fast niemand erhält auf dem Wohnungsmarkt genau das, was er oder sie sich wünscht. Und das Vorhandene oder Bezahlbare nimmt man dann mangels Alternativen. Darum wohnen zum Beispiel so viele Menschen in der Agglomeration und pendeln. Sie wollen das eigentlich nicht und würden gerne weniger weit pendeln – aber sie haben keine andere Wahl.

Und wie gut funktioniert der Wohnungsmarkt für die Mieterinnen und Mieter?

Gemäss Umfragen funktioniert er gut bis sehr gut, die Zufriedenheit der Mieter ist hoch. Der Anteil der Mietkosten am Haushaltsbudget ist immer noch relativ moderat. Man könnte auch sagen, dass wir in der Schweiz bis heute keine grossen Konflikte haben. Aber: Die stetig steigenden Krankenkassenprämien werden bei dieser Sichtweise ebenso wenig berücksichtigt wie die Erwerbssituation. Früher reichte es, wenn in einem Paarhaushalt jemand arbeiten ging. Heute müssen häufig beide arbeiten, damit es reicht. Und durchschnittliche Zahlen sagen wenig über die Situation der wenig Privilegierten. Für Gutverdiener ist der Wohnungsmarkt anders als für Alleinerziehende, Ältere oder Ärmere.

Zum Immobilien- und Wohnungsmarkt werden sehr viele Zahlen erhoben. Eine davon ist die Leerstandsquote. Für wie aussagekräftig halten Sie diese?

Die Leerstandsquote wird jedes Jahr intensiv diskutiert, ist aber keine einheitlich definierte Grösse. Sie kann vielmehr auf viele verschiedene Arten berechnet werden. Und die Gemeinden haben dabei viel Spielraum. Die bernische Gemeinde Huttwil zum Beispiel wurde als «Leerstands-Hochburg» der Schweiz bekannt. Die heutige Quote von Huttwil ist deutlich tiefer, weil die Gemeinde nun anders misst – Wohnungen, die mehrere Jahre leer stehen, werden nicht mehr gezählt. Die Zahl gibt es also immer noch, aber sie hat keinen Vergleichswert mehr.

Donato Scognamiglio (49) ist Mit­gründer und Partner der IAZI AG so­wie Dozent an der Universität Bern. Er beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit dem Schweizer Immobilienmarkt. Die
IAZI AG ist ein Immobiliendienstleister mit den Schwerpunkten Marktanalyse, Bewertung sowie Softwarelösungen. Zu ihren Kunden gehören Finanzinstitute und Versicherungen, ebenso Pensionskassen, Behörden, private und gemeinnützige Wohnbau­träger.

Ist die offizielle Leerwohnungsquote also zu tief?

Auf jeden Fall, ja. Unsere Unternehmung analysiert jedes Jahr die Zahlen von ungefähr 10 000 Siedlungen. Die meisten davon gehören privaten Bauträgern. Wenn man in einer solchen Siedlung drei Monate lang gratis wohnen kann, ist das auch ein Leerstand, der aber nicht sichtbar ist. Nach unserer Berechnung beläuft sich die Leerstandsquote auf mehr als drei Prozent. Die Leerstandsquote 2019 des Bundesamtes für Statistik beträgt aber nur 1,66 Prozent.

Wann führen diese Leerstände zu sinkenden Mieten?

Der Druck ist bereits heute vorhanden. Wir rechnen zudem damit, dass der Referenzzinssatz Mitte Jahr gesenkt werden könnte, was auch bei bestehenden Mietverhältnissen zu Senkungen führen würde.

Welche Folgen haben die Leerstände beziehungs­weise das Überangebot an neuen Wohnungen für den Markt als Ganzes?

Wir beobachten in vielen Regionen dieselbe Entwicklung: Neue Überbauungen weisen hohe Leerstände auf, weshalb die Mieten nach einigen Monaten um etwa zehn Prozent gesenkt werden. Darauf füllen sich die Wohnungen mit Mietparteien aus umliegenden älteren und nicht so gut unterhaltenen Objekten. Diese Bestandesbauten weisen ein schlechteres Preis-Leistungs-Verhältnis auf als die Neubauten. Die Leerstände verlagern sich damit von den Neubauten in die alten Objekte. Man könnte auch sagen: Die heisse Kartoffel wird weitergereicht.

Seit mehr als zehn Jahren boomt der Immobilienmarkt, das «Betongold» ist attraktiv. Wie lange geht es noch so weiter?

Aus Sicht der institutionellen Anleger, der Pensionskassen und der Versicherungen ist der Boom noch lange nicht vorbei. Wenn sie Geld auf einem Konto anlegen, bezahlen sie Negativzinsen. Legen sie das Geld hingegen in Immobilien an, erhalten sie je nach Lage immer noch eine Rendite von drei oder mehr Prozent. Das ist unglaublich attraktiv in einem Nullzins­umfeld.

Dieser Anlagedruck wird oft konstatiert – und dabei meist als alternativlos dargestellt. Ist das tatsächlich so?

Nein, ist es nicht. Wenn die Schweizerische Nationalbank (SNB) wegen der Negativzinsen kritisiert wird, verweist sie auf ihren gesetzlichen Auftrag. Wir dürfen aber nicht vergessen: Auch das Nationalban­ken­gesetz kann jederzeit geändert werden, wie jedes andere Gesetz in der Schweiz auch. Wir haben unzählige demokratische Ins­trumente, um Gesetze anzupassen. Warum sollte es ausgerechnet hier nicht gehen?

Neben der SNB stehen auch die Vorsorge­einrichtungen in der Kritik. Es heisst, dass sie den für Mieterinnen und Mieter ungesunden Immobilienboom weiter befeuern.

Da muss ich institutionelle Anleger wie Pensionskassen in Schutz nehmen. In den letzten Jahren haben diese sehr viele Wohnungen gebaut und einen grossen, positiven Beitrag zur Versorgung mit attraktivem Wohnraum geleistet. Immobilien liefern langjährige, stabile Erträge. Das heisst, sie ermöglichen das Erwirtschaften einer Rendite und damit das Auszahlen von Leistungen. Dazu kommen regle­mentarische Vorgaben. Wenn eine Pensionskasse gemäss Reglement ihre Mittel zu zwanzig Prozent in Immobilien anlegen muss, wird diese Rechnung jedes Jahr neu gemacht. 2019 war ein Börsenjahr mit kräftigen Kursgewinnen. Ende 2019 ist der Posten «Börse» also gewachsen, und auf einmal beträgt der Wert des Immobilienportfolios nicht mehr zwanzig Prozent des Gesamtvermögens, sondern weniger. Auch das sind Sachzwänge.


«Durchschnittszahlen sagen wenig über die Situation wenig Privilegierter.»


Wie beeinflusst die Geldpolitik der SNB den Wohnungsmarkt?

Das Geld ist wegen der Nullzinsen heute faktisch gratis. Dadurch werden selbst an «unmöglichen» Lagen Wohnungen gebaut, nur weil dort Bauland verfügbar ist. Und die Nullzinsen beeinflussen nicht nur institutionelle Anleger. Auch Private haben die Immobilien entdeckt. Da werden 200 000 Franken nicht mehr auf dem Konto parkiert, sondern als Eigenkapital in eine Wohnung investiert. Die Bank streckt den Rest vor, die Wohnung wird vermietet. Und zwar mit sehr hohen Renditen, das Spiel scheint aufzugehen. Das ist heute schon fast ein Volkssport geworden. Falls die Zinsen aber doch einmal ansteigen sollten, platzen diese Träume vom schnellen Geld quasi über Nacht.

Ein Zinsanstieg scheint nach wie vor unrealistisch.

Die Finanzkrise hat uns gelehrt, dass es «schwarze Schwäne» gibt. Also Ereignisse, die niemand vorhersehen kann. Wenn diese Ereignisse aber geschehen, sind viele unvorbereitet und die Folgen oft schlimm.

Stichwort schwarze Schwäne: Wagen Sie eine Prognose zur Wohnungsinitiative, über die wir im Februar abstimmen?

Man sollte diese Initiative nicht vorschnell abschreiben. Etwa sechzig Prozent der Schweizer Bevölkerung sind Mieter und damit direkt betroffen. Und etwa die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer wohnt in einer Gemeinde mit mehr als 10 000 Einwohnern, also einer Stadt. Gerade in Städten ist die Wohnungsnot aus­geprägt. Das Thema brennt den Leuten wirklich unter den Nägeln.

Die Initiativgegner sprechen von einer «Verstaatlichung» des Immobilienmarktes und warnen vor drastischen Folgen.

Persönlich bin ich kein Freund weiterer staatlicher Eingriffe. Doch bereits heute ist der Markt stark reguliert. Wir haben unzählige Normen und Bauvorschriften, wir haben
Zonen- und Bauordnungen, und wir haben ein Mietrecht. Der Wohnungsmarkt ist also überhaupt nicht frei. Und trotzdem drängen Jahr für Jahr viele Milliarden Anlagevermögen in diesen Markt. Er kann also für die Anleger nicht dermassen unattraktiv sein, wie das zuweilen dargestellt wird.

Trotzdem ist die von der Initiative vorgesehene Pflicht zu preisgünstigen Wohnungen stark umstritten.


Über das Wort «preisgünstig» müsste man ohnehin diskutieren. Was heisst denn überhaupt preisgünstig? In einer Landgemeinde ist eine Wohnung für 3000 Franken pro Monat sehr teuer. In einer Villa am See, umgeben von Wohnungen für 5000 Franken pro Monat, ist diese Wohnung plötzlich ein Schnäppchen. Es geht hier ja nicht nur um absolute Zahlen, sondern auch um Relationen, um ein Preis-Leistungs-Verhältnis. Zudem stellt sich die Frage, in welche Richtung die Korrektur gehen soll. Will man die preisgünstigen Wohnungen bewahren oder die teuren Wohnungen günstiger machen? Das ist nicht dasselbe Ziel, und das wird nicht beides gleichzeitig gehen.

Wäre also die Umsetzung ein Problem?

Aus meiner Sicht bestimmt, ja. Das haben wir bei der Zweitwohnungsinitiative gesehen. Die wurde zwar angenommen, aber dann haben wir einige Jahre darüber gestritten, was nun genau als Zweitwohnung gelten soll und was nicht. Solche Auslegungsprobleme gibt es aber bei vielen Initiativen.

Unabhängig vom Ausgang der nationalen Initiative gibt es viele städtische Wohnungsinitiativen. Wie gross ist deren Wirkung?

Was Städte machen, wird oft von anderen Städten kopiert. Wenn etwas in Zürich oder Basel durchkommt, hat das eine Signalwirkung. Und preisgünstiger Wohnbau ist ja genau in Städten sinnvoll. In ländlichen Regionen mit hohen Leerständen ist die Förderung preisgünstiger Wohnungen wenig sinnvoll, in den Städten hingegen sehr.

Gerade in Städten sind Genossenschaften oft mit Landpreisen konfrontiert, die sie unmöglich stemmen können. Ist in solchen Fällen ein Zusammengehen mit anderen Genossenschaften sinnvoll?

Das ist sicher einen Versuch wert, ja. Ich denke, dass Genossenschaften so auch überhaupt erst an bestimmte Objekte herankommen. Institutionelle Anleger rechnen anders, sie haben auch ganz andere Finanzmittel zur Verfügung. Im direkten Eins-zu-eins-Vergleich wer­den einzelne Genossenschaften nie so viel bezahlen können. Das gilt gerade bei Neugründungen – da ist man ja genauso dem Markt ausgesetzt wie alle anderen. Wenn das Land nicht vergünstigt im Baurecht abgegeben wird, gibt es praktisch keine Möglichkeit, günstiger zu bauen als Private. Allenfalls der Verzicht auf die Eigenkapitalverzinsung schafft noch etwas Spielraum.

Ein Ausweg ist die Expansion ausserhalb der Stammlande. Manche Genossenschaften sagen bewusst: In unserer Stadt ist nichts mehr möglich, wir gehen jetzt an die Peripherie. Was halten Sie von dieser Strategie?

Genossenschaftliches Wohnen eignet sich nicht für alle Regionen, und die Nachfrage ist nicht überall gleich hoch. Kann eine Genossenschaft kein neues Land an einer geeigneten Lage erwerben, rate ich ihr, mit den flüssigen Mitteln ihren Bestand zu modernisieren. Das ist nicht nur eine sinnvolle Investition, sondern sichert auch den Werterhalt ihrer Gebäude.