Andrea Burkhard und Philipp Esch über das Thema «Farbe in der Architektur»

«Eine Farbgestaltung muss wie ein Orchester funktionieren»

Die Farbgestalterin Andrea Burkhard und der Architekt Philipp Esch pflegen eine enge Zusammenarbeit. Für beide ist klar: Die Farbgebung eines Baus hat nichts mit einem mehr oder minder bunten Anstrich zu tun. Sie ist vielmehr Teil des Entwurfsprozesses, des Findens von Formen, Materialien und Texturen, ja der Geschichte, die der Architekt mit seinem Bau erzählen will.

Interview: Richard Liechti | Bilder: Walter Mair, Esch Schintzel Architekten | September 2019

Wohnen: Frau Burkhard, Sie sind selbstän­dige Farbgestalterin. Dabei ist mir eines aufgefallen: Sie gehören zu den wenigen Unternehmerinnen, die noch ohne Website auskommen.

Andrea Burkhard: Das hat zwei Gründe. Einerseits bin ich gut vernetzt, habe zwanzig Jahre an verschiedenen Institu­tionen unterrichtet. Anderseits ist es mir wichtig, mit den Architektinnen und Architekten, die mich beiziehen, eine gemeinsame Sprache zu finden und eine intensive Beziehung aufzubauen. Und solche Architekten finde ich eher via Mund-zu-Mund-Vermittlung als über eine Website.

Herr Esch, viele Architektinnen und Architekten zeichnen selbst für die Farbgestaltung verantwortlich. Sie dagegen setzen auf die Zusammenarbeit mit einer Fachperson.

Philipp Esch: Ich stelle fest, dass die Diskussion über Farbe rasch in eine Geschmacksdiskus­sion abgleitet. Deshalb ist es wichtig, mit einer Fachperson zusammenzuarbeiten, die in anderen Kategorien über Farbe reden kann. So entsteht eine Objektivierbarkeit für einen Bereich, der für das subjektive Empfinden sehr wichtig ist. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man mit Dritten, also mit dem Bauherrn, über Farbe reden kann. Andrea Burkhard ist dann sozusagen die Mittelsfrau, die zwischen den Parteien steht und nicht in der geschmacksgesteuerten Sicht gefangen ist.

Reicht das Wissen der Architektinnen und Architekten über Farbe nicht aus?

P.E.: Ich würde es so sagen: Wenn es um Materialfarbigkeit geht – also die natürlichen Farben und Texturen von Steinen, Hölzern und anderen Baustoffen –, fühlen wir Architekten uns relativ sicher. Geht es aber um Farbe selbst, kommen wir in ein Feld, wo der Architekt bisweilen das Gefühl hat, er sei recht willkürlich unterwegs.

Wie entsteht eine Farbgebung im Entwurfsprozess?

P.E.: Ich benutze für unseren Entwurfsprozess gern die Metapher einer Geschichte, die wir erzählen wollen. Wir entwickeln unsere Bauten aus einem Narrativ heraus, einer Milieuschilderung, wenn man es so nennen will. Es ist nicht ein hermetisches Konzept, das keine Schleifen und Umwege zulässt, sondern eben eine Geschichte mit vielen Schauplätzen: dem Ort natürlich, der Bauaufgabe, den Adressaten, der Identitätsfindung – muss man sie erst schaffen, oder besteht sie bereits und braucht nur noch etwas geschärft werden? All dies kommt zusammen und bestimmt schliesslich auch die Farbgebung.

Frau Burkhard, was können Sie als Farb­gestalterin leisten, was der Architekt nicht kann?

A.B.: Ganz allgemein gesagt, kann ich vielleicht nochmals eine neue Sicht auf das Ganze einbringen. Bei der Entwicklung eines Baus sind die Architekten mit einer Fülle von Aufgaben beschäftigt. Als Spezialistin mit der Aussensicht kann ich hier gewisse Sachen in Frage stellen, vielleicht gar bei gewissen festgefahrenen Gedankengängen stören, neue Aspekte in die «Erzählung» einbringen.

Aber Sie bringen auch Know-how ein.

A.B.: Dazu zählt besonders das Wissen darum, wie etwas wahrgenommen wird. Dabei ist es keineswegs so, dass ich nur für die Farbe zuständig bin oder einfach vom Farbgedanken ausgehe. Es geht ebenso um die Wirkung von Materialien, ja im Grunde um das Verstehen der Architektur, die da entstehen soll. Und dafür ist die enge Zusammenarbeit mit dem Planer so wichtig: damit ich den Ort, die Nutzer, die «Erzählung» verstehen kann.

Andrea Burkhard, dipl. Farbgestalterin, ist seit 1998 als selbständige Farbgestal­terin in Zürich tätig. Sie wirkte als Dozentin an der Schule für Gestaltung Basel, am Haus der Farbe und an der Zürcher Hochschule der Künste. Zu ihren Referenzobjekten zählt die Fassadengestaltung der Stammsiedlung der Baugenossenschaft Oberstrass in Zürich oder die Farbgestaltung der Wohnsiedlung Katzenbach I und II der Baugenossenschaft Glattal Zürich. Mit den Architekten Philipp Esch und Stefan Sintzel gestaltete sie die Siedlungen Neudorf (Mieter-Baugenossenschaft Wädenswil), Sennhof (Heimstätten-Genossenschaft Winterthur) sowie die Wohnüberbauung Maiengasse/Hebelstrasse (Immobilien Basel-Stadt).

Philipp Esch, dipl. Arch. ETH BSA SIA,
hat an der ETH Zürich Architektur studiert. 1998 gründete er sein eigenes Architek­turbüro in Zürich, seit 2008 firmiert er ­gemeinsam mit Stephan Sintzel als Esch Sintzel Architekten (www.eschsintzel.ch). Philipp Esch hat Lehraufträge an der Hochschule Luzern (HSLU) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Aktuelle Projekte seines Büros sind die Überbauung Zollstrasse Ost (SBB Immobilien), die Siedlung Sennhof (Heimstätten-Genossenschaft Winterthur) oder die Ersatzneubauten Friedackerstrasse (Baugenossenschaft der Strassenbahner).

Wie gehen Sie an die Aufgabe heran?

A.B.: Dazu gehört im Vorfeld ein recht komplexes Eindenken in die Materie, wobei ich eben den Vorteil habe, dass ich noch ganz frisch draufschauen kann und sehr stark von der Wahrnehmung herkomme. Dabei geht es um eine Fülle von Fragen: Wie wirkt dieses oder jenes Ma­terial, wie zeigen sich Räume in dem und dem Licht, was bedeutet ein grosses Volumen? Was kann Farbe leisten – vielleicht etwas erst sichtbar machen, etwas abschwächen oder gar überhöhen? Und: Wie wirkt Farbe, wenn sie nicht mehr zweidimensional wahrgenommen wird, wenn sich der Mensch in der Architektur bewegt? So tastet man sich gemeinsam an den Entwurf heran, diese Erzählung, die auf diese Weise immer weitergeschrieben wird. Dabei ist es mir ein Anliegen, dass die Farbe immer sehr stark mit dem verknüpft ist, was die Architektur will, was der Architekt sucht und was mit der Farbigkeit und der Materialisierung gestärkt und abgerundet werden kann, so dass ein Ganzes entsteht.
P.E.: Diese Aussagen möchte ich unterstützen. Wenn wir die Diskussion starten, sprechen wir über die räumlichen Absichten, lange bevor es konkret um Materialien und Farben geht. Heute haben wir das Problem, dass wir früh mit Visualisierungen arbeiten, so dass sich Farben sehr schnell in den Köpfen festsetzen.

Schauen wir uns doch zwei konkrete Pro­jekte an, die Sie für Baugenossenschaften realisiert haben. Bei der Überbauung Neudorf in Wädenswil (Mieter-Baugenossenschaft Wädenswil) haben Sie eine Holzfassade mit einem starken Rotton versehen. Das erstaunt den Laien, denn die Bauten sind so schon sehr prägnant.

P.E.: Tatsächlich haben wir dort sehr bewegte Baukörper, die wir durch farbliche Differenzierung nicht weiter zergliedern wollten. Zudem suchten wir eine Farbe, die man stark mit dem Material konnotiert. Eine wichtige Rolle spielte auch der aufwendig gestaltete Aussenraum. Die Häuser werden relativ nah von Bäumen umstanden sein, so dass die roten Fassaden einen Komplementärkontrast zur grünen Um­gebung bilden.
A.B.: Diese Siedlung ist ein schönes Beispiel dafür, dass es nicht einfach um Farbe geht, sondern um eine Verbindung von Material und Farbe. Die spezielle Dickschichtlasur streicht nicht nur den Charakter des Holzes sehr schön heraus, auch die Schattierungen der Ein- und Ausbuchtungen der Fassade werden dadurch besser sichtbar. Zudem bewirkt der recht dunkle oxydrote Holzton gerade, dass die grossen Volumen kleiner wahrgenommen werden.

Im Winterthurer Aussenquartier Sennhof ist kürzlich eine grosse Siedlung fertigge­worden, die wir in Wohnen noch ausführlich vorstellen werden. Bei diesem Projekt für die Heimstätten-Genossenschaft Winterthur (HGW) haben Sie auf ein Zusammenspiel von Gelbtönen gesetzt. Wie ist das entstanden?

A.B.: Als wir den künftigen Bauplatz besuchten, war da eine leichte Senke, umgeben von einem grünen Tal. Fast hätte man meinen können, dass kleine Farbnebelwolken aus dem Gras aufsteigen. Aus diesem starken Erlebnis heraus sind die Gelb-Grün-Schattierungen entstanden, die im Sockelgeschoss satter eingesetzt sind und nach oben heller und lichter werden. Durch den eingefärbten, traditionellen Kratzputz mit dem leichten Glimmeranteil erscheinen die materialisierten Farbnuancen je nach Licht und Schatten vielseitig und reich.
P.E.: Diese Siedlung ist sozusagen ein Stück Stadt, das aufs Land zieht. Dieser «Neugründung» wollten wir einen deutlich städtischen Auftritt verleihen. So haben etwa die durchgehenden Lauben mit den Kolonnaden einen starken öffentlichen Charakter. Zum städtischen Auftritt gehört aber auch eine gewisse Festlichkeit – das soll die heitere Farbe verkörpern.

Wie reagiert die Bauherrschaft, wenn Sie ein ungewöhnliches Farbkonzept vorschlagen?

P.E.: Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass die Bauherrschaft viel Vertrauen hat. Der Beizug der Farbgestalterin, die den Vorschlag aus fachlicher Sicht erklärt, kann allerdings bewirken, dass nicht der Verdacht einer «Architektencaprice» aufkommt.
A.B.: Bedenken gibt es meist eher punktuell. Es kommt vor, dass die Bauherrschaft farbliche Details wünscht, die schwierig in das Konzept zu integrieren sind. Oft ist es aber so, dass sich dies im Lauf des Bauprozesses selbst erledigt. Es kann durchaus sein, dass ein Konzept in der frühen Phase nicht ganz verstanden wird, man aber in der Bemusterungs- und Ausführungsphase beim Bauträger nochmals Vertrauen aufbauen kann.

Die Neubauten in Winterthur Sennhof (Heimstätten-Genossenschaft Winterthur) besitzen einen traditionellen Kratzputz, der in Gelb-Grün-­Schattierungen eingefärbt ist. Die Farbgestaltung soll den städtischen Auftritt der neuen Grosssiedlung am Stadtrand betonen und dabei auch eine gewisse Festlichkeit ausstrahlen.

Mir scheint, dass die Treppenhäuser eine Zeitlang ein Feld waren, wo auch starke Farben und eigenwillige Konzepte umgesetzt wurden. Heute beobachte ich wieder mehr rohen Beton – der den Bewohnern oft nicht gefällt. Bietet nicht gerade ein Treppenhaus Raum für eine besondere Gestaltung?

A.B.: Das wäre ein falsches Verständnis von Farbe und Materialisierung. Es ist ja nicht so, dass man mit der Farbe noch so eine Art Dekor, «etwas Schönes», draufgeben will, sondern dass die Farbe aus dem ganzen Konzept herauskommt. Sicher entscheidet man sich bisweilen, die Wände oder Untersichten im Treppenhaus mit einer Farbapplikation zu versehen. Es kann aber durchaus auch Sinn machen, darauf zu verzichten. Nicht, weil Sichtbeton trendig ist, sondern weil es eben im Zusammenspiel mit den Aussenfarben, den Wegen, der Belichtung usw. die bessere Lösung ist. Kurz zusammengefasst: Ein wunderbar farbiges Treppenhaus kann toll sein, aber auch ein karges.
P.E.: In der Siedlung Sennhof etwa besitzen alle Treppenhäuser Seitenlicht. Deshalb machte es Sinn, die Treppenhäuser mit einem starken Bezug zum äusseren Erscheinungsbild zu gestalten. Bei einem innenliegenden Treppenhaus wäre dieser Bezug dagegen unterbrochen gewesen.

Mietwohnungen kommen meist sehr neutral daher. Einzig bei den Küchen, bei den Bodenbelägen oder im Bad findet man bisweilen farbliche Akzente. Wie stehen Sie zu Farbe im Innenraum?

A.B.: Dazu muss ich sagen: Die unterschwellige Wirkung eines guten Konzepts ist oft viel grösser als einfach eine starke Farbe. Solch feine Eingriffe sind zudem die viel grössere Herausforderung. Ein Beispiel: Man könnte mit einer leichten Farbgebung bei den Sockelleisten arbeiten, die sich dann durch die Wohnung zieht wie ein Mäander. Dabei nehme ich etwas auf, was man ähnlich schon im Aussenraum gesehen hat, vielleicht aber in einer ganz anderen Schattierung. Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern ist der Bezug vielleicht gar nicht offensichtlich, sondern dringt nur ins Unterbewusstsein.

Von Effekten und auffälligen Details würden Sie also abraten?

A.B.: Solche Elemente darf es schon haben, aber sie müssen in einem Zusammenhang gelesen werden. Eine Farbgestaltung, eine Materialisierung muss wie ein Orchester sein, das aus ganz vielen besteht, die miteinander funktionieren. Etwas darf dominanter sein, etwas feiner, etwas anderes darf dazwischen aufleuchten – einfach nur laut, das geht nicht. Ein Farbkonzept soll über Jahre bestehen. Das funktioniert nur, wenn es wirklich in sich stimmt.

«Ferndiagnosen sind unseriös»

Bei grossen Bauprojekten ist der Beizug von Fachleuten selbstverständlich – sei es für die Haustechnik, die Statik oder den Aussenraum. Das sollte auch für die Farbgebung gelten, findet Dorothee Schneider, Farbgestalterin HF und Inhaberin des Büros kolor in Zürich. «Es macht Sinn, möglichst früh zusammen­zusitzen», erklärt sie – nämlich dann, wenn die Architektin oder der Architekt daran ist, den Charakter des Gebäudes zu bestimmen, und noch gar nicht über das Thema Farbe nachdenkt. «Farbe und Material als Farbträger sind unbedingt miteinander zu komponieren», sagt Dorothee Schneider.

Auch für kleinere Projekte
Eigentlich wäre es Sache der Architekten, eine Fachperson für Farbe ins Entwurfsteam aufzunehmen. «Es geschieht aber immer öfter, dass die Bauherrschaft dies beim Architekten einfordert», erklärt die Farbgestalterin. Schon bei kleineren Bauprojekten, etwa der häufigen Küche-Bad-Sanierung, rät sie Baugenossenschaften davon ab, sich bei der Farbfindung vom persönlichen Geschmack, von allgemeinen Sehgewohnheiten oder der Vermarktung von Trends leiten zu lassen. Das seien falsche Ratgeber. «Als Fachperson für Farbgestaltung kläre ich produktunabhängig und im Voraus ab, welche Aufgabe die Farbgebung im jeweiligen Projekt zu erfüllen hat. Man vergibt viel, wenn man den Einsatz von Farbe nicht ernst nimmt oder sie als auswechselbare Dekoration anschaut », erklärt Dorothee Schneider. Farbe sei ein relativ günstiges Mittel, um die Wirkung, die Langlebigkeit und die Nutzungsqualität eines Baus zu steigern. Selbst kleine Eingriffe könnten viel bewirken. 

«Als Fachperson unterstütze ich Architekten und Bauträger in dem Umfang, der nötig und gewünscht ist.» Das Wichtigste sei, bei der Abstimmung der Farbtöne präzis vorzugehen. Ein geschultes Auge erkenne alle Faktoren und sei präziser als eine Maschine, die einen NCS-Code erfasst. «Für mich als Farbgestalterin ist es elementar, mich mit dem Ort und dem Geschehen in Realität auseinanderzusetzen: Licht, Vegetation, Nachbarschaft, Historie, ­Geräusche, Oberflächen, Materialien – alles spielt eine Rolle in Bezug auf die Farbwahl. Nur in der Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Projekt wird sichtbar, welche konkrete Aufgabe die Farbe hier erfüllen muss und kann. Daher gibt es kein Rezept für eine inspirierte Farbgebung.»

Vorsicht bei Gratisberatung
Doch wie findet man eine Farbgestalterin oder einen Farbgestalter? FarbgestalterIn ist kein geschützter Beruf – so wie Arzt oder Architekt das auch nicht ist. Es gibt aber Berufsverbände, die Profis aufnehmen, Honorarordnungen und weitere Richtlinien erarbeiten. Bei den Farbgestaltern ist das der Bund Schweizer FarbgestalterInnen in der Architektur (BSFA). Wer als Kunde auf der Suche nach einer Farbgestalterin ist, sollte beachten, dass ein Beratungsmandat eine Leistung ist, die etwas kostet und die umgekehrt viel Nutzen bringt und Fehlentscheidungen verhindert. Wo Farbgestaltungen gratis angeboten werden, geht es dem Anbieter darum, seine Produkte zu verkaufen. Wenn eine Farbgebung sogar aufgrund einer Ferndiagnose empfohlen wird, sollte der Kunde wissen, dass es sich um eine allgemein gehaltene Empfehlung handelt und nicht um ein Farbkonzept.