Architekt Luca Selva über das Bauen an lärmexponierten Lagen

«Jede Situation muss einzeln beurteilt werden»

Die Schweiz kennt eine strenge Lärmschutzgesetzgebung. Das betrifft gerade neue Genossenschaftssiedlungen, die oft an exponierter Lage entstehen. ­Architekt Luca Selva weiss, wie man als Planer auf solche Situationen reagiert. Würde die Lärmschutzverordnung ohne situative Prüfung des Einzelfalls angewandt, liesse sich an lauten Strassen und Bahnlinien allerdings kaum bauen. Doch dies sei nötig, um die eingeforderte Verdichtung und Aufwertung zu erzielen.

Interview: Richard Liechti | Bild: Yohan Zerdoun | Dezember 2017

Wohnen: Ganze Quartiere wie Greencity in ­Zürich, die Erlenmatt in Basel oder das ­Glasi-Areal in Bülach entstehen in Autobahnschlaufen und entlang vielbefahrener Bahnlinien. Täuscht der Eindruck oder ­bauen wir Wohnsiedlungen in der Schweiz immer öfter an lärmexponierten Lagen?

Luca Selva: Diese Feststellung ist richtig. Wir sind sozu­sagen an der Verwertung der B- und der C-Lagen. Das ist eine Folge der Verdichtung. Die Siedlungsentwicklung auf der grünen Wiese ist raumplanerisch unerwünscht, die Städte sollen sich nicht weiter unkontrolliert ausbreiten. Deshalb müssen wir im vorhandenen Siedlungsraum mehr Dichte erzeugen. Und das bedeutet auch grössere Nähe zu Orten, die ­vorbelastet sind – unter anderem mit Lärm. Deshalb braucht es Strategien, wie man damit umgeht.

Dann kommt die Lärmgesetzgebung ins Spiel. Ab wann ist die Belastung relevant?

Im Siedlungsbau geht es um eine spezifische Art von Lärm, nämlich den Verkehrslärm. Ins Gewicht fallen die Immissionen von Strassen, Bahnlinien und in etwas geringerem Ausmass vom Flugverkehr. Die Lärmschutzverordnung (LSV) hat dafür drei Lärmempfindlichkeitsstufen festgelegt, wobei für die meisten urbanen Wohngebiete 65 dB tagsüber und 55 dB in der Nacht gelten. Werden diese Werte überschritten, müssen Massnahmen ergriffen werden. Andere Immissionen – etwa durch festfreudige Nachtschwärmer – erfasst die Verordnung nicht. Sie berücksichtigt auch nicht, dass Lärm beispielsweise an einer Bahnlinie anders anfällt als an einer Strasse oder dass sich die Grenzwerte nicht mit dem subjektiven Empfinden decken.

Wie streng sind diese Grenzwerte?

Die Lärmschutzgesetzgebung ist so, dass man heute an vielen Strassen in ganz normalen städtischen Situationen gar nicht wohnen dürfte. Doch Massnahmen müssen nur bei neuen Bauten getroffen werden. Liegen an der gleichen Strasse neunzig Prozent Altbauten, sind die Werte dort plötzlich zumutbar.

Doch auch im Neubau gibt es Ausnahme­bewilligungen.

Würde die LSV in aller Härte ohne Prüfung des Einzelfalls angewandt, wären viele Orte nicht mehr bebaubar. Das gilt gerade für Lagen, die man aus raumplanerischer Sicht verdichten möchte. An Bahnhöfen zum Beispiel, wo viele nächtliche Güterzüge vorbeifahren, wird man grosse Schwierigkeiten haben, die Grenzwerte einzuhalten. Auch an städtischen Ausfallstrassen wird dies kaum möglich sein. Dabei haben die Gemeinden gerade in den Aussenquartieren grosses Interesse an einer Aufwertung des Wohnumfelds, wie etwa das Beispiel Bern­strasse in Luzern zeigt.

Je nach Lage ist demnach mehr zumutbar.

Der Ort ist immer zu berücksichtigen. Wer an die Badenerstrasse in Zürich zieht, also an eine urbane Lage, ist sicher toleranter gegenüber Lärmimmissionen als jemand, der in einem Dorf lebt. Auch mit Blick auf die Zukunft ­kommen bei komplexen innerstädtischen Situa­tionen viele Faktoren zusammen: Wird eine ­höhere Taktfrequenz für noch mehr öffent­lichen Verkehr sorgen? Oder wird Tempo 30 oder der Einbau von Flüsterasphalt die Situation entschärfen? Deshalb kann man jede Situation nur mit einer Einzelfalldiskussion beur­teilen.

In vielen Kantonen galt bisher die soge­nannte Lüftungsfensterpraxis, wonach die Grenzwerte nur bei einem Fenster pro Raum einzuhalten waren. Dies bedeutete, dass man den Lärmpegel dort messen konnte, wo er am geringsten war, etwa im Hof. Letztes Jahr hat das Bundesgericht diese Praxis gekippt, auch wenn es immer noch Ausnahmen zulässt (siehe Seite 12). Welche Folgen hat das?

Planer und Bauträger haben ein Stück Rechtssicherheit verloren. Die Einzelfallbetrachtung ist dadurch noch wichtiger geworden. Man muss hier auch sehen: Die kantonale, aber auch die kommunale Praxis divergiert stark. Dies führt dazu, dass die Anwendung der LSV sehr heikel ist und zu schwierigen Situationen führen kann.

Zur Person
Luca Selva (55), dipl. Arch. ETH SIA BSA, führt in Basel ein eigenes Architekturbüro mit rund dreissig Mitarbeitenden. Von 1998 bis 2016 wirkte er als Professor für Entwurf und Kon­struktion an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Luca Selva ist immer wieder Mitglied in Wettbewerbsjurys im In- und im Ausland und wird als Fachexperte für Stadtentwicklungsfragen beigezogen. Mit seinem Büro hat er eine Vielzahl von Projekten realisiert, darunter Neubauten für die Wohngenossenschaft Hegenheimerstrasse in Basel und die Baugenossenschaft Linth-Escher in Zürich. Jüngst hat Luca Selva den Architekturwettbewerb für die Neubausiedlung Bernstrasse (Allgemeine Baugenossenschaft Luzern/Baugenossenschaft Matt) gewonnen.
www.selva-arch.ch

Wie gross ist das Risiko, dass ein Entwurf letztlich doch nicht bewilligt wird?

Die Lärmfrage ist zweifellos ein grosses Risiko für die Investorenseite. Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Bewilligung nur unter verschärften Bedingungen erhält oder dass eine Projektüberarbeitung nötig wird, ist nicht zu vernachlässigen.

Gerade bei lärmexponierten Lagen bauen Genossenschaften heute fast durchwegs kontrollierte Lüftungen ein. Für den Luftaustausch müssten die Fenster damit ­
gar nicht mehr geöffnet werden. Die Behörden messen die Grenzwerte aber bei offenen Fenstern. Hinkt die Gesetz­gebung dem technischen Fortschritt ­hinterher?

Die Lärmschutzgesetzgebung berücksichtigt heute weder kontrollierte Lüftungen noch Schalldämm-Lüftfenster. Dabei liegt gerade hier ein Knackpunkt: Der Lärmschutz soll vor allem die Nachtsituation abbilden, wenn die Menschen bei offenem Fenster schlafen wollen. Eine kontrollierte Lüftung gewährleistet den Luftaustauch aber auch bei geschlossenen Fenstern, ja, die Fenster sollten sogar geschlossen bleiben, damit die Lüftung optimal funktioniert. Und natürlich ist auch aus energetischer Sicht wünschbar, dass nur stossgelüftet wird.

Wie weit bestimmt eine lärmexponierte Lage die Entwurfsarbeit?


Eine der ersten Fragen bei jedem Projekt lautet: Greift die Lärmschutzgesetzgebung? Wenn ja, ist der Beizug von Fachleuten aus dem ­Bereich Bauakustik unabdinglich. Dabei braucht es für jedes Projekt eine Fachperson mit dem spezifischen Know-how, die mit den Behörden die notwendigen Vorgespräche führen kann. Das ist in jedem Fall ein anderes ­Verfahren, da der Prozess je nach Kanton und Gemeinde anders abläuft. Man muss aber auch sehen: Meist geht es nicht um den Lärm allein. Vielmehr sind mit Lärm häufig schwierigem Lagen verbunden. Dann geht es auch darum, welche Qualität das direkt angrenzende Umfeld hat und wie man darauf im Entwurf reagiert.

Gibt es Grundregeln, an die sich der Planer halten kann?

Lärmschutzgrundrisse sehen üblicherweise vor, dass sich alle Wohnräume auf die lärm­abgewandte Seite orientieren müssen, während sich geschlossene Küchen, Badezimmer und Treppenhäuser gegen die exponierte Seite richten dürfen. Wenn ein Zimmer zur Lärm­seite orientiert ist, muss es auch auf der lärm­abgewandten Seite eine gewisse Zahl von ­Quadratmetern Fensterfläche haben. Das galt bisher als gesicherte Praxis.

Ihr Büro gewinnt immer wieder Wettbe­werbe, wo es um exponierte ­Lagen geht, zuletzt an der Bernstrasse in Luzern (siehe rechts unten). Für die Baugenossenschaft Linth-Escher ­haben Sie in Zürich Oerlikon eine Wohnsiedlung entworfen, die di­rekt an der Stadtautobahn liegt. Welche Lösung haben Sie dort gewählt?

Die Siedlung liegt an einem der lärmigsten Orte der Schweiz, 14 Fahrspuren führen an den Häusern vorbei! Dabei richtet sich die exponierte Seite ausgerechnet gegen Süden, während man im Norden einen weiten Ausblick hat. Die alten Zeilenbauten an der Strasse waren stark lärmexponiert; der Lärm drang durch die Lücken auch in die Siedlung. Mit dem neuen Längsbau entlang der Strasse hat sich die Gesamtsituation stark verbessert: Die Innenseite des Neubaus und die ­dahinterliegenden Siedlungsteile sind geschützt, der Schallpegel im Aussenraum ist massiv abgesunken.

Welche Grundrisstypologie haben Sie entworfen?

Wir haben durchgehende Wohn- und Schlafräume geschaffen, die somit alle auch auf die lärmabgewandte Seite hin orientiert sind. Die Fenster schützen vor 42 dB Schall, das ist fast wie im Radiostudio. Gleichzeitig entschied man sich, die Aussenräume nicht zur Sonne hin zu orientieren, sondern ebenfalls auf der lärmabgewandten, aber von Aussicht profitierenden Seite zu platzieren – das ist stets eine Güterabwägung. Untypisch ist auch die Erschliessung über den Garten, so dass die Häuser auch für Kinder gefahrlos zugänglich sind. Kurz: Der Neubau hat dazu geführt, dass man an einer äusserst exponierten Lage ohne nennenswerte Lärmbelastung leben kann.

Die privaten Aussenräume – Loggias, Terrassen, Sitzplätze – sind für viele Mieter wichtig. Wie steht es damit beim Lärmschutz?

Tatsächlich: Die Lärmschutzverordnung gilt nur für Innenräume, nicht aber für Terrassen und Gärten. Lärmexponierte Lagen müssten also nur in den Innenräumen entschärft werden. Die Planer müssen sich jedoch fragen, wie man auch die Aussenräume schützen kann, um dort eine Aufenthaltsqualität zu schaffen. Das ist eine grosse Herausforderung. Im Falle Bernstrasse in Luzern, wo die Lärmquelle ebenfalls im Süden liegt und die Häuser wegen der Hanglage keine Aussicht be­sitzen, haben wir uns für geschlossene Loggias entschieden, über die man auch die Schlafzimmer lüften kann. Damit konnten wir die Anforderungen der LSV erfüllen.

Besteht die Gefahr, dass eine typische «Lärm­schutzarchitektur» überhandnimmt? Wäh­rend sich Häuser früher ­gegen die Strasse ausrichteten, schirmen sie sich heute ­davon ab.

Man hat inzwischen gemerkt, dass man mit ­einer expliziten Lärmschutzarchitektur ein Umfeld schafft, das alles andere als interaktiv ist. Niemand will Hausautisten, die an der Stadt nicht teilhaben. Das ist bei der Lärmschutzdiskussion unbedingt zu berücksichtigen: Ein Haus ist ein lebendiger Organismus, der auf den Stadtraum einwirkt – und umgekehrt. Das ist umso wichtiger, wenn man eine lebendige Quartierstruktur schaffen und ­Läden und Gewerbe ansiedeln will. Es kann nicht sein, dass der Stadtraum böse ist, die Häuser und die Strassen quasi im Kriegszustand miteinander sind.

Weniger Spielraum für Vollzugs­behörden

Die Immissionsgrenzwerte für Lärm müssen bei Neubauten grundsätzlich an allen Fenstern von lärmempfind­lichen Räumen eingehalten werden. Die von rund der Hälfte aller Kantone angewandte «Lüftungsfensterpraxis», wonach die Grenzwerte nur an einem Fenster einzuhalten sind, führe zu ­einer unzulässigen Aus­höhlung des Gesundheitsschutzes. Dies geht aus einem Bundesgerichtsurteil ­vom 16. März 2016 hervor, das in der Bau- und Planerbranche für viel Unruhe ­gesorgt hat.
Allerdings sei einzuschränken, dass ein Verzicht auf die Überbauung stark lärmbelasteter Flächen im Siedlungsgebiet dem raumplanerischen Interesse an ­einer haushälterischen Boden­nutzung und Siedlungsverdichtung widersprechen könne. Deshalb falle die Erteilung einer Ausnahme­bewilligung durch die zuständige kantonale Behörde in Betracht, falls alle zumut­baren Lärmschutzmassnahmen ­er­griffen wurden und das Bauprojekt der qualitativ angemessenen Siedlungsentwicklung und -verdichtung nach ­innen diene.

Auch bei den Vollzugsbehörden hat sich die Begeisterung über die bundesgerichtliche Kurskorrektur in Grenzen gehalten, hält ­Thomas Gastberger von der Fachstelle Lärmschutz in der Baudirektion des Kantons ­Zürich fest. Trotz dem eingeräumten Spielraum habe der Entscheid des Bundesgerichts dem Lärmschutz und damit dem Gesundheitsschutz den Rücken gestärkt. Das Lüftungsfenster werde zu einer Optimierungsmassnahme und zum Argument bei ­der Interessens­ab­wägung. Auch könne eine kontrollierte Lüftung nach wie vor nicht ­davon befreien, die Grenzwerte am ­offenen Fenster einzuhalten. Als Auflage im Rahmen einer Ausnahmebewilligung werde sie aber weiterhin eine zentrale Rolle spielen.
Weitere Informationen: www.laerm.ch (national), www.laerm.zh.ch/bauen (Kanton Zürich). Beachten Sie auch den Beitrag «Vollzugsnotstand bei der Lärmsanierung».

Impuls für lärmige Randlage

Die Allgemeine Baugenossenschaft ­Luzern (ABL) und die Baugenossenschaft Matt (BGM) bauen an der oberen Bernstrasse in Luzern gemeinsam. ­Das zusammenhängende Grundstück besitzt eine Fläche von 10 700 Quadratmetern. Der Anteil der ABL beträgt ­58 Prozent, sie übernimmt diesen als Baurechtsnehmerin von der Stadt ­Luzern; die BGM ist Eigentümerin ihres Grundstücks mit ­einem Anteil von ­­42 Prozent. Die beiden Genossenschaften schrieben einen Architektur­wett­bewerb unter 15 Büros aus. Zu projektieren war eine Überbauung mit rund 150 Mietwohnungen, die einen wertvollen Impuls für das Gesamtquartier gibt. Energetisch soll sie den Zielwerten der 2000-Watt-Gesellschaft ­entsprechen.
Jurypräsident ­Patrick Gmür bezeichnete die Aufgabe als ausser­ordentlich anspruchsvoll, dies insbesondere wegen der hügeligen ­Topographie und der lärmbelasteten Lage. Mit Luca Selva Architekten, Basel, machte denn auch ein Büro das ­Rennen, das mit solchen Aufgaben ­Erfahrung ­besitzt (siehe Interview). Luca Selva schlägt drei unterschied­liche ­Bauvolumen vor, die verschiedene Aussenräume ­und Begegnungsorte entstehen lassen: Grosszügige Eingangsbereiche und ein Gemeinschaftsraum ­laden zu nachbarschaft­lichen Treffen, ein hinterhofähn­licher Garten mit Wiesen, Bäumen, Sitzgelegenheiten und Spielplatz ermöglicht Ruhe und Erholung, und ein öffent­licher Platz mit ­einem Café dient als Verbindung zum Quartier. Gemischte Nutzungen in den Erdgeschossen ­sollen das Bernstrasse-Quartier zusätzlich ­beleben. Das Wohnangebot reicht vom Atelier über die Familienwohnung bis zur Wohngemeinschaft. Sämtliche zur Bernstrasse hin orientierten Wohnungen sind als durch­gehende Wohn- und Essräume kon­zipiert. Wohnraum, ­Zimmer und ­Nasszelle ­profitieren von verglasten übergrossen Erkern, die als Lärmschutz dienen ­und Licht in die ­Innen­räume bringen.