Rubrik: Recht

Vollzugsnotstand bei der Lärmsanierung

Ende März 2018 läuft die Frist für die Lärmsanierung der Hauptstrassen ab. Wurden keine Massnahmen getroffen, sind Eigentümer von Liegenschaften unter bestimmten Voraussetzungen klageberechtigt.

Gemäss Art. 17 Abs. 4 der Lärmschutz-Verordnung1 hätten Sanierungen und Schallschutzmassnahmen bei Nationalstrassen bis zum 31. März 2015 abgeschlossen sein müssen. Bei den Haupt­strassen läuft die entsprechende Frist am 31. März 2018 ab. Die Sanierung erfolgt üblicherweise durch die Errichtung von Schallschutzwänden, Belagssanierungen oder den Einbau von Schallschutzfenstern bei den betroffenen Liegenschaften.
Trotz wiederholter Fristerstreckungen wird diese rechtlich vorgeschriebene Lärmsanierung der Strassen auch Ende März 2018 erst teilweise erfolgt sein, weswegen in diesem Bereich von einem «Vollzugsnotstand» die Rede ist. Die Gründe dafür sind vielfältig, oft jedoch spielen eingeschränkte Planungskapazitäten und Rechtsstreitigkeiten eine Rolle, die nur bedingt durch die Gemeinwesen beeinflusst werden können.

Entschädigungen für übermässige Immissionen
Rund 1,6 Millionen Menschen sind laut dem Bundesamt für Umwelt schädlichem oder lästigem Strassenlärm ausgesetzt.2 Die überwiegende Mehrheit der betroffenen Personen lebt selbstredend in Städten und Agglomerationen.3 Insbesondere Baugenossenschaften, deren Siedlungen sich in den Agglomerationen befinden, sind in überproportionalem Masse vom Strassenlärm betroffen.

Eigentümer von Liegenschaften, die übermässigem Strassenlärm ausgesetzt sind,4 könnten unter bestimmten Voraussetzungen nach Ablauf der Sanierungsfrist klageberechtigt sein und von den Anlageninhabern Entschädigungen verlangen – dies aufgrund der Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche, die sich aus dem übermässigen Lärm ergeben. Von übermässigem Lärm ist auszugehen, wenn die einschlägigen Grenzwerte – konkret eine Lärmbelastung über dem Immissionsgrenzwert – nicht eingehalten werden.

In diesem Zusammenhang stellen sich diverse Rechtsfragen, die soweit ersichtlich noch nicht geklärt beziehungsweise höchstrichterlich entschieden wurden und wohl im Rahmen von sogenannten Pilotprozessen behandelt werden müssen. Ein Pilot- oder Musterprozess zeichnet sich dadurch aus, dass er zunächst im Namen eines einzelnen Mitglieds einer Gruppe von Geschädigten geführt wird. Falls der Klage Erfolg beschieden ist, beschreiten auch die restlichen Gruppenmitglieder den Rechtsweg.

Kriterium «Unvorhersehbarkeit»
Ist ein Grundstück vom Strassenlärm betroffen, müssen für die Entrichtung einer Entschädigung drei Voraussetzungen erfüllt werden: die Spezialität der Lärmintensität, die Schwere des Schadens und die Unvorhersehbarkeit des Strassenlärms. Die Spezialität der Immissionen ist gegeben, wenn die Immissionsgrenzwerte gemäss Lärmschutz-Verordnung überschritten sind.5 Von der Schwere des Schadens wird ausgegangen, wenn der Minderwert der Liegenschaft zehn Prozent deutlich übersteigt.6
Diese beiden Kriterien sind hinreichend klar. Unklar ist jedoch beim Vorliegen von Strassenlärm, ob und insbesondere allenfalls ab wann von der Unvorhersehbarkeit des Strassenlärms auszugehen ist. Das Kriterium der Unvorhersehbarkeit schränkt die Entschädigungsleistung ein, indem angenommen wird, dass der Eigentümer eines Hauses in der Nähe einer Verkehrsanlage mehr Lärm in Kauf nehmen müsse und die übermässigen Immissionen nicht abwehren könne, wenn sich der bereits bestehende Lärm infolge einer vorauszusehenden normalen Erweiterung der vorhandenen Verkehrsanlagen vermehre.7 Soweit ersichtlich ist bis heute die Frage unbeantwortet geblieben, ob die Unvorhersehbarkeit in Ortszentren oder städtischen Verhältnissen das Vorliegen einer Immissionsenteignung ausschliesst.

Keine einheitliche Entschädigungsordnung
In Bezug auf die Strassen ist von Bedeutung, dass der Bund nur für die Nationalstrassen, nicht jedoch für Kantons- und Gemeindestrassen über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz verfügt.8 Die Entschädigungspflicht richtet sich demnach nach Bundesrecht, wenn der Lärm von Nationalstrassen ausgeht. Bei den Kantons- und Gemeindestrassen findet hingegen kantonales Enteignungsrecht Anwendung. Gestützt auf diese Bundeskompetenzen kann der Bund somit auch nur für die Nationalstrassen eine Entschädigungsordnung erlassen, nicht aber für die Kantons- und Gemeindestrassen. Es ist somit nicht möglich, gestützt auf die Bundeskompetenzen im Bereich der öffentlichen Verkehrsanlagen eine einheitliche Entschädigungsordnung für sämtliche Strassen zu erlassen.

Fazit
Im Hinblick auf eine Entschädigungspflicht für übermässigen Strassenlärm bestehen derzeit noch diverse Unklarheiten. Die heutige Praxis hinterlässt – insbesondere im Hinblick auf die Unvorhersehbarkeit wie auch auf die anwendbare Entschädigungsordnung – mehrere offene Fragen, die gerichtlich geklärt werden müssen.

  1. Lärmschutz-Verordnung (LSV; SR 814.41)
  2. Vgl. Broschüre «Lärmbelastung der Schweiz», Bundesamt für Umwelt, S. 9; www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/laerm/publikationen-studien/publikationen/laermbelastung-in-der-schweiz.html
  3. A.a.O., S. 11
  4. Ob entlang von Strassen die Grenzwerte überschritten werden, kann aufgrund der Karte «Strassenlärm» im GIS-Browser (http://maps.zh.ch) festgestellt werden.
  5. Vgl. BGE 123 II 481 E. 7c)
  6. Vgl. BGE 101 Ib 405 E. 3 b)
  7. BGE 110 Ib 43 E. 9 b)
  8. Vgl. für Nationalstrassen Art. 83 Bundesverfassung

Thomas Elmiger,

Rechtsdienst

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