Mobilitätsmanagement – ein neues Beratungsangebot für Baugenossenschaften

Weniger Verkehr, mehr Wohnqualität

Siebzig Prozent aller Wege, die wir zurücklegen, beginnen oder enden an der eigenen Haustür. Deshalb beeinflusst das Mobilitätsangebot rund um die Wohnsiedlung die Wahl der Verkehrsmittel stark. Die Genossenschaften haben es – zusammen mit den Gemeinden – in der Hand, nachhaltige Mobilitätsformen zu fördern. Ein neues Beratungsangebot hilft dabei.

Von Thomas Schweizer* | Bild: MIWO | Dezember 2017

Oft wird das Thema «Mobilität» in der Wohnsiedlung mit dem Bereitstellen eines Parkplatzes pro Wohnung abgehakt; alles Weitere wird als Sache der Mieter betrachtet. Dabei ist der Einfluss auf der Vermieter- beziehungsweise der Angebotsseite gross. Um das Potenzial besser auszuschöpfen, wurde unter dem Titel «MIWO – Mobilitätsmanagement in Wohnsiedlungen» ein Beratungsangebot aufgebaut. Die Trägerschaft ist vielfältig zusammengesetzt; sie reicht von Bund, Kantonen und Städten bis zum VCS und zum Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz.

Standardisiertes Vorgehen
In der Pilotphase nutzten 25 Siedlungsverwaltungen in verschiedenen Schweizer Städten das MIWO-Beratungsangebot. Hierfür wurde ein standardisiertes Vorgehen erarbeitet. Ein Handbuch dokumentiert alle Prozesse. Baugenossenschaften und einige städtische Wohnbauträger waren Pioniere bei der Umsetzung. Das Thema Nachhaltigkeit und die Steigerung der Zufriedenheit der Mieterschaft sind hier schon seit Langem verankert. Geeignet für die Optimierung des Mobilitätsmanagements sind grössere Siedlungen ab fünfzig Wohnungen, wobei die Beratung von bestehenden Überbauungen im Zentrum steht. Sind kleinere oder grössere Sanierungen geplant, ergibt sich ein zusätzlicher Handlungsspielraum für Verbesserungen. Die Analyse im Rahmen eines MIWO-Beratungsprozesses hilft, die Mobilitätsbedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner besser zu verstehen und geeignete Massnahmen vorzuschlagen.

Mieterschaft miteinbezogen
In einem Erstgespräch mit der Liegenschaftsverwaltung werden der Ist-Zustand und die Rahmenbedingungen sowie die wichtigsten Mobilitätsaspekte der Siedlung besprochen. Im Rahmen einer Begehung erfasst und dokumentiert man die Schwachstellen punkto Mobilität. Die Befragung der Bewohnerschaft zum Mobilitätsverhalten und zu den Bedürfnissen erfolgt mittels eines Fragebogens an alle Haushalte. Die Erfahrungen zeigen hohe Rücklaufquoten und interessante ergänzende Bemerkungen. Im Schlussbericht wird die Analyse dokumentiert, und es werden Massnahmen vorgeschlagen und Ideen für die Umsetzung skizziert. Die folgenden Stichworte zeigen die Bandbreite auf:

  • Fusswegnetz, Zugang zur Siedlung, Behindertengerechtigkeit, Treppen, Rampen, Handläufe, Abstellsituation für Kinderwagen und Aussenspielgeräte usw.
  • Erschliessung für den Veloverkehr, Situation für die Veloparkierung, genügend Fläche, einfach zugänglich, witterungsgeschützt, diebstahlsicher usw.
  • Erreichbarkeit von Zielen des täglichen Bedarfs, ÖV-Haltestellen, Ausstattung
  • Parkierung Auto und Motorrad, Platzangebot, Kosten, Reglemente
  • Konflikte im Aussenraum (Aufenthalt zum Spielen, Zugang, Zufahrt mit Velo und Auto)
  • Angebot an Mobilitätsdienstleistungen, Mobility-Carsharing, Anhänger, Mobilitätsinformationen, Velopumpe, Reparaturwerkzeuge oder Werkstatt
  • Öffentliche Parkierung und Verkehrsberuhigung im umgebenden Strassenraum

Viel Potenzial
Die Erfahrungen mit MIWO zeigen, dass im Bereich der wohnungsbezogenen Mobilität ein ungenutztes Potenzial besteht. An vielen Orten können mit einfachen Mitteln das Angebot und damit die Zufriedenheit der Mieter verbessert und der Verkehr nachhaltiger organisiert werden. Durch geeignete Massnahmen kann das Verhalten beeinflusst werden. Solange es aber nicht selbstverständlich ist, kurze Wege zu Fuss oder mit dem Velo zurückzulegen, besteht noch Handlungsbedarf.

*Thomas Schweizer, Geschäftsleiter Fussverkehr Schweiz, hat zusammen mit dem Mobilitätsberater Samuel Bernhard die Projektleitung inne. Das Projekt konnte dank Bundesunterstützung und diversen Partnerorganisationen aufgebaut werden. Die MIWO-Website informiert über das Vorgehen und dokumentiert diverse Praxisbeispiele. 
www.wohnen-mobilitaet.ch

Mobilitätsmanagement

Mobilitätsmanagement ist ein Ansatz zur Beeinflussung der Verkehrsnachfrage mit dem Ziel, die Mobilität effizienter, umwelt- und sozialverträglicher und damit nachhaltiger zu gestalten. Dies bedeutet mehr Fuss- und Radverkehr, mehr öffentlicher Verkehr und

weniger motorisierter Verkehr. Der Ansatz wird bei Unternehmen – namentlich im Pendlerverkehr – schon seit einigen Jahren erfolgreich angewendet. Neu ist die Ausdehnung des Ansatzes auf die wohnungsbezogene Mobilität.

Umsetzungsbeispiel 1: Im langen Loh, Basel

In der bald hundertjährigen Siedlung Im langen Loh leben 398 Bewohnerinnen und Bewohner in 186 Wohnungen. Vierzig Prozent haben sich an der Umfrage beteiligt. Aufgrund der Mobilitätsberatung wurden vom Vorstand verschiedene Ideen aufgegriffen und Aktivitäten angeschoben und teilweise bereits
umgesetzt:

  • Kurzfristig konnte zusammen mit der Nachbargenossenschaft ein zweiter Mobility-Standplatz realisiert werden.
  • Für die Siedlung wurden spezifische Mobilitätsinformationen erarbeitet und auf der siedlungseigenen Website angeboten.
  • Die Organisation eines Anhängerverleihs zusammen mit zwei benachbarten Velogeschäften ist auf gutem Weg. Der Verleih startet Mitte Oktober. Verbesserungen sind auch bei den  Veloabstellanlagen in Planung.
  • Die Genossenschaft engagiert sich für die Umwandlung der angrenzenden Strasse in eine Begegnungszone.
  • Bei künftigen Sanierungsarbeiten ist klar, dass keine Grünräume der Parkierung geopfert werden sollen.

Umsetzungsbeispiel 2: Klosterbrühl, Wettingen

55 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Klosterbrühl haben sich an der Umfrage zur Mobilität beteiligt. Die idyllisch angelegte Überbauung in der Nähe des Bahnhofs Wettingen mit 127 Wohnungen stammt aus den frühen 1950er Jahren und ist sanie-rungsbedürftig. Weil das Grundstück Platz für deutlich mehr Wohnungen bietet, hat sich die Eigentümerin, die Baugenossenschaft Lägern Wohnen, für einen Neubau entschieden, der rund hundert zusätzliche Wohnungen ermöglicht. Beim Architekturwettbewerb machte die Arbeitsgemeinschaft Galli Rudolf Architekten/Wülser Bechtel Architekten und Rotzler Krebs Partner Landschaftsarchitekten das Rennen. Das Neubauprojekt sieht unter anderem attraktive Gartenhöfe vor.
Aufgrund der Analyse und verschiedener Beratungsgespräche wurden zuhanden der Architekten Vorgaben bezüglich Mobilität präzisiert. Die Lage und Dimensionierung der Veloabstellanlagen nahe bei den Eingängen, gedeckt und fahrbar erreichbar, muss bereits in einer frühen Projektphase konzipiert werden. Zusammen mit der Gemeinde soll die Möglichkeit geprüft werden, die neue Siedlung autoarm zu gestalten, das heisst die Anzahl Parkplätze unter die Richtwerte der Bau- und Nutzungsordnung zu reduzieren und dafür entsprechende Massnahmen beim Mobilitätsmanagement einzuführen, etwa durch die Platzierung eines Carsharing-Standorts, die Abgabe von Mobilitätsinfor­mationen oder die Installierung einer kleinen Werkstatt für Veloreparaturen.